Banque de données de juriprudence
Leitsätze:
1) Fährt ein Schiff bei der Einfahrt in eine Schleuse das Untertor an, so streitet der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden der Schiffsführung.
2) Innerhalb der Schleuse hat der Schiffsführer dafür zu sorgen, daß das Fahrzeug durch Belegen der Poller oder Haltekreuze der Schleusenkammer mit Tauen und Trossen auch ohne Maschinenkraft rechtzeitig angehalten werden kann. Es wird äußerste Sorgfalt gefordert.
3) Ein sorgfältiger Schiffsführer muß in der Lage sein, nicht nur das Ausbleiben des angestrebten Rückwärtsmanövers, sondern auch das Einsetzen einer unbeabsichtigten Vorausfahrt rechtzeitig zu erkennen und die nach § 6.28 Nr. 8 Abs. 3 BinSchStrO vorgeschriebenen manuellen Abstoppmaßnahmen durchführen zu lassen. Fährt er in die Schleuse ein mit einer Geschwindigkeit, die den Einsatz von Maschinenkraft erforderlich macht, um abzustoppen, so trägt er allein das Risiko des Versagens der Umsteuerungsanlage.
4) Zur Darlegung- und Beweislast der Parteien hinsichtlich der Voraussetzungen der Haftungsbeschränkung nach dem BinSchG.
Urteil des Oberlandesgerichts (Schiffahrtsobergerichts) Karlsruhe
vom 1. Dezember 1995
U 9/94 Bsch
(Schiffahrtsgericht Mannheim)
Zum Tatbestand:
Der Beklagt ist Schiffseigner/Schiffsführer des MS "S". das am 30.3.1992 bei der Einfahrt in eine Neckarschleuse nach Versagen der Umsteuerung das Untertor angefahren hat. Die Klägerin, Eigentümerin der Schleuse, verlangt Schadensersatz.
Das Schiffahrtsgericht hat der Klage in roher Höhe des Schadensbetrags stattgegeben. Die Berufung des Beklagten führte zur Ergänzung des Urteil-Tenors hinsichtlich der Haftungsbeschränkung.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Berufung des Beklagten ist zulässig, hat aber bis auf die Frage der gesetzlichen Haftungsbeschränkung nach den Vorschriften des Binnenschiffahrtsgesetzes keinen Erfolg.
1. Der beklagte Schiffseigner/Schiffsführer haftet der Klägerin als Eigentümerin der Neckarschleuse N gemäß § 823 Abs. 1 BGB. §§ 4, 114 BinSchG auf Ersatz des mit MS "S" am 30.03.1992 durch die Erfahrung des Untertores der Neckarschleuse N entstandenen Schadens in Höhe von DM 44.449,39.
Zu Recht geht das Schiffahrtsgericht davon aus. daß dann, wenn ein Schiff bei Einfahrt in eine Schleuse das Untertor anfährt, der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden der Schiffsführung streitet (vgl. dazu auch OLG Hamburg VersR 1962, 949; Vortisch/Bemm, BinSchR 4. Aufl. § 92 b Rdnr. 38: Bemm/Kortendick. RhSchPolVO 1983 § 6.28 Rdnr. 27). Ein derartiger Anscheinsbeweis kann vom Schädiger erschüttert werden, wenn er Tatsachen darlegt und erforderlichenfalls beweist, die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes ergeben; der atypische Geschehensablauf selbst braucht nicht positiv nachgewiesen zu werden (RhSchOG Karlsruhe ZfB 1994, 1500).
Dem Beklagten ist es gelungen, hinsichtlich eines Teiles den gegen ihn streitenden Anscheinsbeweis durch die Darlegung und den Beweis der Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes zu entkräften: Soweit es um das Mißlingen des Versuches geht. das Schiff beim Einfahren in die Schleuse durch Maschinenkraft abzustoppen und ständig zu machen, trifft den Beklagten kein Verschulden. Aufgrund der durchgeführten Untersuchungen des Sachverständigen K im Verklarungsverfahren steht fest, daß das Versagen der Umsteuerung des Steuerbordgetriebes auf eine durchgebrannte Sicherung zurückzuführen ist. Ursächlich hierfür war, daß Feuchtigkeit in den Elektroschaltkasten eingedrungen war, deshalb ein dort angeordneter Potentiometer verzögernd reagierte, der Drehschieber des Getriebes bis in die Endlage gedreht wurde, es zur Überlast kam und deshalb die Sicherung ausfiel. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß ein ähnlicher Ausfall auf dem Schiff vor dem Unfall schon einmal vorgekommen war. Den beklagten Schiffsführer/ Schiffseigner trifft daher insoweit kein Verschuldensvorwurf, als für ihn überraschend die Umsteuerung des Wendegetriebes ausfiel und das Schiff, obwohl beide Kupplungen der Maschinen mit der elektrischen Bedienung auf rückwärts gestellt wurden und auch das Bugstrahlruder auf rückwärts geschaltet worden war, weitere Fahrt voraus nahm.
Der Anscheinsbeweis ist jedoch insoweit nicht entkräftet, als er dafür streitet. daß der Beklagte seine sonstigen Sorgfaltspflichten beim Einfahren in die Schleuse verletzte und diese Pflichtverletzungen ursächlich für das Anfahren des unteren Schleusentores wurden. Die BinSchStrO enthält einen Katalog von Geboten und Verboten, die dazu dienen, Beschädigungen von Schleusenanlagen und anderen Fahrzeugen zu vermeiden. Die Sorgfaltspflichten der Schiffsführung bei Einfahrt in eine Schleuse sind besonders hoch. Innerhalb der Schleuse und bei Einfahrt in diese muß die Geschwindigkeit so vermindert werden, daß ein Anprall an die Schleusentore oder an die Schutzvorrichtungen vermieden wird, § 6.28 Nr. 8 BinSchStrO. Demgegenüber braucht bei der Annäherung an den Schleusenbereich gemäß § 6.28 Nr. 2 BinSchStrO ein Fahrzeug "nur" mit mäßiger Geschwindigkeit zu fahren. Darin unterscheidet sich auch der vorliegende Fall von dein vom Beklagten zitierten Fall. der der Entscheidung des Moselschiffahrtsobergerichts vom 29.10.1991 (ZfB 1992, 1369) zugrundelag: In jenern Fall war ein Schiff. bei dem ebenfalls eine Umsteueranlage ausfiel und das weiter voraus statt zurück lief, von außen gegen ein Schleusentor gefahren. Das Moselschiffahrtsobergericht hat ausdrücklich ausgeführt, daß die gesteigerte Sorgfaltspflicht nicht für die gesamte Annäherung an die Schleuse von außen gilt.
Innerhalb der Schleuse hat der Schiffsführer dafür zu sorgen, daß das Fahrzeug durch Belegen der Poller oder Haltekreuze der Schleusenkammer mit Tauen oder Trossen auch ohne Maschinenkraft rechtzeitig angehalten werden kann. Dieses in § 6.28 Nr. 8 BinSchStrO ausdrücklich enthaltende Gebot wurde auch in der Rechtsprechung wiederholt hervorgehoben. Denn nur durch Erfüllung dieser Pflichten trägt der Schiffsführer dem allgemein bekannten Umstand hinreichend Rechnung, das technisches Versagen beim Umsteuern eines Schiffs nicht völlig ausgeschlossen werden kann (vgl. BGH VersR 1973, 541; VersR 1976, 485). Nichts anderes gilt für entsprechende technische Fehler, die - wie im vorliegenden Fall - denselben Effekt bei nicht umsteuerbaren Maschinen erzielen. Mit Rücksicht darauf, daß Schäden der
Schleusentore nicht nur zu großen Schäden an der Schleusenanlage führen, sondern - bei einem Ausfall der Kammer - auch anderen Schiffahrtstreibenden erhebliche Verluste verursachen, wird bei der Einfahrt in eine Schleusenkammer "äußerste Sorgfalt" gefordert (vgl. BGH a.a.O.). Ein Versagen der technischen Einrichtungen des Schiffes gefährdet die Schleusenanlage dann nicht, wenn der Schiffsführer die Maschine lediglich einsetzen will, um das Anhalten seines Fahrzeuges mit Hilfe eines Haltetaues oder eines Stoppdrahtes zu unterstützen. Denn auf diese Weise bleibt es möglich, das Schiff trotzdem rechtzeitig zu stoppen. Das trifft selbst dann zu, wenn das Schiff entgegen dem Steuerungsversuch des Schiffsführers nicht rückwärts läuft, sondern weiter vorwärts. Bereits hei Einfahrt in die Schleuse muß der Schiffsführer in Betracht ziehen, daß es zu einem derartigen Versagen kommen kann und daß selbst eine steuerungswidrige Fahrterhöhung noch manuell durch Einsatz eines Haltetaues oder eines Stoppdrahtes verhindert werden kann. Ein sorgfältiger Schiffsführer muß in der Lage sein, nicht nur das Ausbleiben des angestrebten Rückwärtsmanövers, sondern auch das Einsetzen einer unbeabsichtigten Vorausfahrt rechtzeitig zu erkennen und die nach § 6.28 Nr. 8 Abs. 3 BinSchStrO vorgeschriebenen manuellen Abstoppmaßnahmen durchzuführen bzw. durchführen zu lassen. Es kann den Beklagten daher auch nicht entlasten, wenn MS "S" erst nach dem Umsteuerversuch zu schnell wurde, um ein Anhalten mit Tauen noch durchführen zu können. Wäre der Beklagte von vornherein nur mit einer Geschwindigkeit in die Schleuse eingefahren, die es ermöglicht hätte, das Fahrzeug durch Belegen der Pollen oder Haltekreuze rechtzeitig anzuhalten, wäre er auf den Einsatz von Maschinenkraft überhaupt nicht angewiesen gewesen. Fährt er aber in die Schleuse ein mit einer Geschwindigkeit, die den Einsatz von Maschinenkraft erforderlich macht- um abzustoppen, so trägt er allein das Risiko des Versagens der Umsteueranlage.
Entgegen den Berufungsangriffen hat das Schiffahrtsgericht im übrigen dem Beklagten zu Recht zum Vorwurf gemacht, daß er zur Abwendung der drohenden Anfahrung des Schleusentores nicht die Maschine selbst stoppte. als er merkte, daß das Schiff trotz Betätigung der Hebel zur Unisteuerung des Wendegetriebes auf rückwärts Lind Erhöhung der Maschinendrehzahl und Einsatz des Bugstrahlruders nicht langsamer wurde. Auf diese Weise hätte ein Weiterdrehen der Schraube verhindert werden können, nachdem die Betätigung des Schalters für das Wendegetriebe offenbar ohne die gewünschte Wirkung geblieben war.
2. Völlig unbegründet sind die Berufungsangriffe des Beklagten gegen die Zuerkennung von Zinsen. Sie steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. LM Nr. 7 zu § 288 BGB) sowie des Senates in dieser Frage (vgl. ferner BK ZKR ZtB 1994, 1493 ff ).
3. Soweit der Beklagte mit der Berufung geltend macht, die Haftungsbeschränkung nach den Vorschriften des Binnenschifffahrtsgesetzes sei sowohl bei den Anträgen der Klägerin als auch in dem antragsgernäßen Urteil des Schiffahrtsgerichts nicht berücksichtigt worden, hat er teilweise recht.
a) Für Prozeßkosten, Prozeß- und Verzugszinsen haftet der verurteilte Eigner unbeschränkt (vgl. Wassermeyer, Kollisionsprozeß 4. Aufl. S. 44; Vortisch/ Bemm, BinSchR 4. Aufl. § 4 BinSchG Rdnr. 24.jew. m.w.N.).
b) Der Beklagte haftet als Schiffseigner/ Schiffsführer nach § 4 Abs. 2 Satz 2 BinSchG "für einen durch fehlerhafte Führung des Schiffes entstandenen Schaden ausschließlich mit Schiff und Fracht, es sei denn, daß ihm eine bösliche Handlungsweise zur Last fällt". Die Vorschrift bezweckt, den Schiffseigner/Schiffer für nautisches Verschulden bei der Führung des Schiffes nicht strenger haften zu lassen als den Schiffseigner, der die Führung einem fremden Schiffer anvertraut. Daher ist unter dem Begriff "fehlerhafte Führung" ein nautisches Versehen zu verstehen. "Bösliche Handlungsweise" umfaßt nach einer Entscheidung der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt (vgl. ZfB 1993, 1420) zwar nicht nur Vorsatz, sondern auch bewußte grobe Fahrlässigkeit. Im vorliegenden Fall liegt jedoch keine "bösliche Handlungsweise" des Beklagten, sondern nur einfache Fahrlässigkeit vor. Die Beschränkung der Haftung auf Schiff und Fracht beruht auf dem Gedanken, daß derjenige, der ein Gewerbe betreibt und dadurch anderen Gefahren bringt, für die durch Verwendung des Schiffes verursachten Schäden wenigstens mit Schiff und Fracht einstehen soll. Das Gesetz räumt dafür ein Pfandrecht ein. Im vorliegenden Fall ist ein solches nach § 102 Nr. 5 BinSchG entstanden.
Neben der beschränkten dinglichen Haftung mit Schiff und Fracht haftet auch der Schiffseigner/Schiffsführer, der sein Schiff selbst führt, nach § 114 BinSchG beschränkt persönlich, wenn er sein Schiff in Kenntnis der Forderung eines Schiffs gläubigers zu einer neuen Reise aussandte, ohne daß dies zugleich im Interesse des Gläubigers geboten war. Diese Haftung wird durch § 4 Abs. 2 Satz 2 BinSchG nicht ausgeschlossen (so auch Vortisch/Bernur I a.a.O. § 114 BinSchG Rdnr. 10).
Grundsätzlich trägt der Schiffsgläubiger - vorstehend also die Klägerin - dir Darlegungs- und Beweislast dafür. daß der Schiffseigner sein Schiff in Kenntnis der Forderung des Schiffsgläubigers zu einer neuen Reise ausgesandt hat. Dieser Darlegungslast hat die Klägerin jedcnfalls in der letzten mündlichen Verhandlungyor dem Senat genügt. Da es jedoch im Interesse der Schiffahrtstreibenden liegt, ihre Schiffe schnellstmöglich wieder zu neuen Reisen zu entsenden und dies in der Praxis regelmäßig auch geschieht, genügt kein einfaches Bestreiten des Schiffseigners. Vielmehr hat er gegebenenfalls im Wege eines substantiierten Bestreitens, d.h. unter Angabe von Daten und Gründen und unter Beachtung der prozessualen Wahrheitspflicht darzulegen, sein Schiff sei - insbesondere, wenn es, wie im vorliegenden Fall, nur leicht oder gar nicht beschädigt wurde - gleichwohl nicht zu einer neuen Reise ausgesandt worden.. Solange er dies unterläßt und, wie vorliegend, nur schlicht bestreitet, rechtfertigt eine tatsächliche Vermutung die Annahme, daß das Schiff tatsächlich zu neuen Reisen entsandt wurde. Das Schiffahrtsgericht hat daher insoweit im Ergebnis zu Recht angenommen, der Beklagte habe "ersichtlich" sein Schiff zu neuen Reisen entsandt.
Eine unbeschränkte Verurteilung zur Zahlung der Hauptforderung durfte indessen nicht ergehen. Die oben im einzelnen dargelegte Haftungsbeschränkung muß im Tenor des Urteils ausgesprochen werden, der Antrag auf eine darüber hinausgehende unbeschränkte Verurteilung ist - im übrigen - abzuweisen. Eine uneingeschränkte Verurteilung zur Zahlung darf nur dann ergehen, wenn im Verfahren positiv festgestellt wurde, daß das Schiffsvermögen zur Befriedigung des Schiffsgläubigers ausreicht. Dazu ist jedoch nichts vorgetragen worden. Die gesetzliche Vermutung des 114 Abs. 2 BinSchG reicht für eine Verurteilung zur Zahlung ohne Haftungsbeschränkung nicht aus (vgl. dazu auch Vortisch/Bemm a.a.O. § 114 BinSchG Rdnr. 16).
4. Die Aufnahme der Haftungsbeschränkung und die Abweisung der Klage im übrigen stellt jedoch kostenmäßig keinen Erfolg des Beklagten in beiden Instanzen dar, die Zuvielforderung der Klägerin war verhältnismäßig geringfügig..."
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1995 - Nr.9 (Sammlung Seite 1551 ff.); ZfB 1995, 1551 ff.