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II ZR 84/73 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Date du jugement: 05.12.1974
Numéro de référence: II ZR 84/73
Type de décision: Urteil
Language: Allemande
Juridiction: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Section: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Das aus einem Hafen oder einer Flußmündung ausfahrende Schiff ist zu besonders sorgfältiger Navigation verpflichtet, weil es bei seiner Einordnung in den durchgehenden Verkehr, der ihm gegenüber in gewissem Umfang bevorrechtigt ist, zu gefährlichen Situationen kommen kann.

2) Zur Kausalität zwischen der Nichtabgabe des Ausfahrtzeichens und einer Kollision.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 5. Dezember 1974

II ZR 84/73

(Rheinschiffahrtsgericht DuisburgRuhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Ungefähr zur gleichen Tageszeit fuhren das der Klägerin gehörende, beladene TMS V aus dem DuisburgRuhrorter Hafenkanal zur Aufnahme der Bergfahrt auf dem Rhein und der den Beklagten zu 1-3 gehörende und vom Beklagten zu 4 geführte Schlepper R mit dem auf 20 m langem Strang hängenden Kahn J des Streithelfers der Klägerin aus der Ruhrmündung zwecks Beginn der Talfahrt. Auf Höhe der Mitte der Ruhrmündung stieß Kahn „Josef" auf dem Rhein mit dem Steven gegen die Backbordseite des TMS V und beschädigte es erheblich.
Die Klägerin verlangt Schadensersatz von etwa 68 500,- DM mit der Begründung, daß der Schleppzug ohne Rücksicht auf das bereits auf dem Strom befindliche TMS V aus der Ruhr ausgefahren sei und dessen Kurs gekreuzt habe.
Die Beklagten führen die Kollision darauf zurück, daß TMS V durch Zeigen der blauen Seitenflagge dem Schleppzug den Weg zur Steuerbordbegegnung gewiesen, aber hierfür nicht genügend Platz gemacht habe.
Die Klage hat das Rheinschiffahrtsgericht dem Grunde nach zu 1/3, das Rheinschiffahrtsobergericht zu 2/3 für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten ist das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

„...
I. Verschulden des Schleppers R

...
a) Die Feststellung des Berufungsgerichts, TMS „VTG 55" habe bereits zur Bergfahrt gehört, als der Schleppzug die Mündungslinie der Ruhr passiert habe, beruht nicht auf unzutreffenden Berechnungen und einer fehlerhaften Würdigung des Beweisergebnisses. Die gegenteilige Ansicht der Revision beachtet insbesondere nicht, daß die ordnungsgemäße Ausfahrt aus dem Hafenkanal nicht unmittelbar unterhalb des Moselkopfes Hafenkanal/Ruhr erfolgt, sondern in ausreichender Entfernung davon stattfindet (vgl. BGH, Urt. v. 1. 4. 1965 - II ZR 181/63, VersR 1965, 513, 514) und daß die Lage der Zusammenstoßstelle auf Höhe der Mitte der 300 m breiten Ruhrmündung zwischen den Parteien unstreitig ist.
...
b) Nach Ansicht des Berufungsgerichts durfte der Schleppzugführer die blaue Seitenflagge des TMS V nicht auf seinen Verband beziehen. Zwar gelte die blaue Seitenflagge eines Bergfahrers auch für ein aus einem Hafen oder einer Flußmündung ausfahrendes Schiff und sei von diesem zu beachten. Hier hätte aber der Schleppzugführer erkennen müssen, daß die blaue Seitenflagge des TMS V nur für eine „Kursverständigung' mit anderen Entgegenkommern bestimmt gewesen sei, weil wegen der Abstände und der bei 7 km/h oder darunterliegenden Geschwindigkeit des Schleppzuges für diesen der Platz von vornherein nicht ausgereicht hätte, um den Kurs des Bergfahrers risikolos zu kreuzen und an dessen Steuerbordseite vorbeizufahren.
Die Revision meint, das Berufungsgericht habe bei diesen Ausführungen nicht beachtet, daß andere Entgegenkommer nicht in Sicht gewesen seien; das ergebe sich aus der Aussage des Zeugen L. Der Zeuge hat jedoch nur bekundet, es habe sich keine andere Tal- oder Bergfahrt in unmittelbarer Nähe befunden.
Im übrigen erscheint in diesem Zusammenhang folgender Hinweis angebracht: Der Ausfahrende muß stets sorgfältig navigieren, weil es vor allem bei seiner Einordnung in den durchgehenden Verkehr, der ihm gegenüber in gewissem Umfange bevorrechtigt ist (vgl. § 50 Nr. 3 Satz 1 RheinSchPolVO 1954; § 6.16 Nr. 1 RheinSchPolVO 1970), zu gefährlichen Situationen kommen kann. Das gilt insbesondere dann, wenn der Ausfahrende den Kurs der durchgehenden Schiffahrt kreuzen will. Kann er das nicht ohne jedes Risiko ausführen, so muß er die Ausfahrt bis nach dem Passieren der Berg- oder der Talfahrt unterlassen. Hier hätte deshalb die Ausfahrt des Schleppzuges vor dem herankommenden TMS V in jedem Falle unterbleiben müssen, weil er, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, dessen Kurs nicht risikolos kreuzen konnte. Somit kommt es für die Beurteilung der Frage, ob die Ausfahrt des Schleppzuges zulässig oder unzulässig war, letztlich nicht entscheidend darauf an, ob der Schleppzugführer die blaue Seitenflagge des Bergfahrers auf seinen Verband beziehen durfte oder nicht.
Das Berufungsgericht hat dem Schleppzugführer außerdem vorgeworfen, die Ausfahrt durchgeführt zu haben, ohne das Manöver durch Schallzeichen hinreichend angekündigt zu haben (Verstoß gegen § 50 Nr. 3 Satz 2 RheinschPolVO 1954). Auch wenn er etwa 400 m vor der Mündungslinie das Schallzeichen „drei lange Töne, einen kurzen Ton" gegeben haben sollte, so hätte er das Zeichen vor der Ausfahrt rechtzeitig wiederholen müssen, daß es ihm möglich gewesen wäre, den Schleppzug „erforderlichenfalls noch innerhalb der Ruhr ständig zu machen, mindestens aber die gebotene Rücksicht auf den durchgehenden Verkehr zu nehmen". Dazu ist zu bemerken, daß Sinn und Zweck eines Ausfahrtzeichens darin liegen, die anderen Fahrzeuge im Revier auf das bevorstehende Manöver rechtzeitig aufmerksam zu machen und ihnen dadurch zu ermöglichen, sich ohne unvermittelte Änderung von Kurs oder Geschwindigkeit auf dieses einzustellen (vgl. auch § 6.16 Nr. 2 RheinSchPolVO 1970). Praktisch ist daher ein Ausfahrtzeichen stets zu geben oder zu wiederholen, wenn das zur Sicherheit des Ausfahrenden oder der anderen Fahrzeuge im Revier geboten ist. Hier war es nach dem angefochtenen Urteil nun so: Der Rhein weist in diesem Bereich eine besondere Verkehrsdichte auf; auch ist ständig mit aus anderen Häfen ausfahrenden Schiffen zu rechnen; der Schleppzug selbst näherte sich der Mündungslinie nur langsam; dem Schleppzugführer war es wegen des zur Unfallzeit niedrigen Wasserstandes nicht möglich, über die Trennböschung zwischen der Ruhr und dem Hafenkanal hinweg Schiffsbewegungen zu erkennen. Unter diesen Umständen genügte aber ein lediglich 400 m vor der Mündungslinie gegebenes Ausfahrtzeichen nicht, um die anderen Fahrzeuge im Revier auf die bevorstehende Ausfahrt ausreichend aufmerksam zu machen.
Das alles vermag die Revision nicht ernsthaft zu bezweifeln. Sie vermißt jedoch eine Feststellung des Berufungsgerichts dahin, daß die Nichtabgabe eines weiteren Schallzeichens durch den Schleppzug die Kollision verursacht habe. Das ist richtig. Weder läßt sich dem angefochtenen Urteil entnehmen, daß das unterlassene Schallzeichen im Falle der Abgabe auf TMS V gehört worden wäre, noch ergeben die Ausführungen des Berufungsgerichts, daß die Führung dieses Schiffes sodann Maßnahmen ergriffen hätte, die den Zusammenstoß zwischen ihrem Fahrzeug und SK J verhindert hätten. Dabei war eine Erörterung dieser beiden Fragen um so mehr geboten, als das Berufungsgericht selbst Zweifel an der guten Hörbarkeit von Schallzeichen zur Unfallzeit im Unfallbereich geäußert und außerdem dem Schiffsführer des TMS V zum Vorwurf gemacht hat, er habe selbst auf die Wahrschau des auf dem Vorschiff seines Fahrzeugs als Ausguck aufgestellten Matrosen G., aus der Ruhr komme ein Schleppzug, nicht reagiert.

II. Verschulden des TMS V
...
Zunächst ist festzuhalten, daß der Schiffsführer des TMS V nach seinen Angaben im Verklarungsverfahren nicht unmittelbar auf die Wahrschau des Ausgucks reagiert hat, sondern erst, als er selbst den Schleppzug im Bereich der Ruhrmündung sah. Damit hat er den Vorteil nicht genutzt, den die Wahrschau ihm bot, nämlich sich früher als geschehen auf den Schleppzug einzustellen. Darin ist ein schuldhafter Verstoß gegen die den Schiffsführern obliegende allgemeine Sorgfaltspflicht (§ 4 RheinSchPolVO 1954; § 1.04 RheinSchPolVO 1970) zu sehen. Jede andere Betrachtung würde der Pflicht zur Aufstellung eines Ausgucks (vgl. § 18 Nr. 3 Satz 2, § 80 Nr. 1 Abs. 2 RheinSchPolVO 1954; § 1.09 Nr. 3 Satz 3, § 6.30 Nr. 1 Satz 2 RheinSchPolVO 1970) und der Bedeutung der von ihm zu gebenden Wahrschau für die Sicherheit des Schiffsverkehrs nicht gerecht werden.
...
Das besagt allerdings noch nichts zu der Frage, wie sich ein Schiffsführer auf die Wahrschau eines Ausgucks zu verhalten hat. Insoweit kommt es auf die jeweiligen Umstände des Falles an. Diese waren nach dem angefochtenen Urteil so, daß eine unklare Situation möglich, die Ausfahrt des gewahrschauten Schleppzuges vor TMS V auch nicht unwahrscheinlich war; außerdem konnte durch die Weiterfahrt des TMS V eine kritische Lage eintreten. Dann mußte der Schiffsführer dieses Fahrzeug aber sofort auf die Wahrschau seines Ausgucks hin stoppen, zumal jede Unklarheit in dem bekanntermaßen besonders stark befahrenen Mündungsbereich von Hafenkanal und Ruhr sehr leicht zu Kollisionen führen kann.
Weitere Fehler des Schiffsführers von TMS V hat das Berufungsgericht verneint.
...
Zu diesen Ausführungen und den hiergegen gerichteten Angriffen der Revision ist zu bemerken:

a) Soweit die Revision mit Rücksicht auf die bereits oben erörterten Verfahrensrügen meint, eine rechtlich einwandfreie Würdigung des Beweisergebnisses würde ergeben, daß die Führung des TMS V sowohl bei der eigenen Ausfahrt aus dem Hafenkanal als auch bei der Unterstützung der Ausfahrt des Schleppzuges aus der Ruhr § 50 Nr. 3 RheinSchPolVO 1954 verletzt habe, ist ihr entgegenzuhalten, daß diese Rügen nicht durchgreifend sind.

b) Richtig ist, daß der Schiffsführer des TMS V selbst dann noch nicht sofort stoppte, als er persönlich den Schleppzug in der Ruhrmündung wahrnahm. Dieses Verhalten wird aber von dem Vorwurf des Berufungsgerichts mitumfaßt, in einer unklaren Lage nicht sofort gehandelt zu haben. Damit kann deshalb kein weiterer selbständiger Schuldvorwurf gegen den Schiffsführer des TMS V begründet werden.

c) Die Revision vermag nicht aufzuzeigen, inwiefern die Fürung von TMS V gegen die Vorschrift des § 38 Nr. 1 RheinSchPoIVO 1954 verstoßen haben soll. Daß „das Setzen der blauen Seitenflagge in dem gegebenen Zeitpunkt, in welchem dieses Signal von dem Schleppzug auf sich bezogen werden konnte oder gar mußte, den Vorwurf eines selbständigen Verschuldens" nach § 38 Nr. 1 RheinSchPolVO 1954 rechtfertigen soll, scheitert im wesentlichen bereits daran, daß der Bergfahrer die blaue Seitenflagge nicht etwa erst gehißt hat, nachdem er von dem Schleppzug aus zu sehen war (vgl. die Aussage des Beklagten zu 4 im Verklarungsverfahren, wonach TMS V bei Insichtkommen bereits die blaue Seitenflagge zeigte). Auch widersprach der von dem Bergfahrer zuletzt eingeschlagene Steuerbordkurs im Verhältnis zu dem Schleppzug nicht der genannten Vorschrift, da sich nach dem angefochtenen Urteil die Weisung des TMK V, an der Steuerbordseite vorbeizufahren, nicht auf den Schleppzug bezog.
Allerdings könne in der Fahrweise des TMS V nach dem Auftauchen des Schleppzuges ein Verstoß seiner Führung gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht der Schiffer liegen. Denn ein Ausweichen des Bergfahrers nach Steuerbord könnte deshalb falsch gewesen sein, weil der Schleppzugführer die blaue Seitenflagge des TMS V, wenn auch irrtümlich, auf seinen Verband bezog, deshalb seinerseits die blaue Seitenflagge setzte und Kurs für eine Steuerbordbegegnung mit dem Bergfahrer hielt. War das für den Schiffsführer des TMS V erkennbar oder hätte er den Irrtum der Gegenseite erkennen müssen, so stellt sich die - vom Berufungsgericht nicht geprüfte und damit für den Senat nicht abschließend beurteilbare - Frage, ob er nicht seinerseits nach Backbord hätte ausweichen müssen und dadurch die Kollision hätte verhindern können.

III. Verschulden des SK J

Das Berufungsgericht verneint jedes schadensursächliche Verschulden der Führung des SK J  an dem Schiffszusammenstoß. Diese habe sich zunächst darauf verlassen dürfen, daß der Schlepper R einen gefahrlosen Kurs für seinen Anhang steuern und die Ausfahrt aus der Ruhr erst dann vornehmen werde, wenn das ohne Gefahr möglich sei. Als sich ihr dann die Überlegung hätte aufdrängen müssen, daß die Abgabe eines weiteren Ausfahrtsignals geboten sei, wäre es für ein Eingreifen in dieser Richtung zu spät gewesen. Ehe nämlich der Schlepper eine dahingehende Wahrschau der Kahnführung hätte befolgen können, habe er die Ausfahrt bereits eingeleitet gehabt. Auch wäre es in dieser Lage nicht Pflicht der Führung von SK J gewesen, den Kahn noch loszuwerfen und ein Ankermanöver durchzuführen. Denn gerade in diesem Teil des Reviers könne ein auf kurzen Drähten hängender, 802 t großer Kahn durch einen 600 PS starken Schlepper gut navigiert werden, wogegen ein Loswerfen des Schleppstranges für den beladenen SK J ein unkalkulierbares Risiko dargestellt hätte. Darauf habe sich die 9 Kahnführung nicht einlassen müssen.
Diesen Ausführungen ist auch unter Berücksichtigung der Angriffe der Revision und der Anschlußrevision nichts hinzuzufügen.
Mit Rücksicht auf die erörterten Gesichtspunkte bedarf die Sache weiterer tatsächlicher Erörterung durch das Berufungsgericht. Hierzu braucht allerdings das angefochtene Urteil nur insoweit aufgehoben (und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Rheinschiffahrtsobergericht zurückverwiesen) zu werden, als es zum Nachteil der Beklagten erkannt hat. Denn ein möglicherweise nicht bestehender Ursachenzusammenhang zwischen der Nichtabgabe eines zweiten Ausfahrtzeichens durch den Schleppzug und der Kollision sowie ein mögliches weiteres Verschulden der Führung des TMS V können sich jeweils nur zu Gunsten der Beklagten auswirken, so daß es in jedem Falle bei der bisher schon vom Berufungsgericht mit einem Drittel zu Lasten der Klägerin angenommenen Verschuldensquote verbleiben muß."