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Leitsatz:
Vor dem Einfahren in eine Engstelle im Sinne des § 41 Nr. 2 BinnSchSO 1966 muß der Bergfahrer die Gewißheit haben, daß es in der Engstelle nicht zur Begegnung mit einem Talfahrer kommt. Ist dies nicht gewiß oder zu verneinen, so muß er stoppen und dem Talfahrer die Vorfahrt lassen.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 11. Juli 1974
II ZR 6/74
(Schiffahrtsobergericht Hamburg)
Zum Tatbestand:
In der nach Bild 36 BinnSchSO 1966 gekennzeichneten Engstelle des Dortmund-Ems-Kanals im Bereich der Lingener Kanal-Straßenbrücke kam es zum Zusammenstoß zwischen dem bei der Klägerin versicherten, zu Tal fahrenden KMS B und dem dem Beklagten gehörenden, von ihm geführten und zu Berg fahrenden MS G. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt.
Die Klägerin verlangt Ersatz des erstatteten Schadens in Höhe von etwa 27 000,- DM, weil der Beklagte in die gekennzeichnete Fahrwasserenge ohne Rücksicht auf das Vorfahrtsrecht des Talfahrers gefahren sei. Außerdem sei der Beklagte zu schnell gefahren und auf die linke Fahrseite geraten.
Der Beklagte behauptet, sich schon in der Engstelle befunden zu haben, als er den Talfahrer erstmals gesehen habe. Wegen dessen Zick-Zack-Kurses habe er zurückschlagen müssen, sei aber nicht über die Kanalmitte geraten. Sofern er schadensersatzpflichtig sei, rechne er mit seiner Schadensersatzforderung von etwa 10400,- DM auf.
Das Schiffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Schiffahrtsobergericht hat sie abgewiesen. Auf die Revision des Klägers ist die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils an das Berufungsgericht zur anderweiten Entscheidung zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach der Ansicht des Berufungsgerichts ist die Klage unbegründet. Es sei weder bewiesen, daß MS G eine zu hohe Geschwindigkeit eingehalten habe, noch daß es vor der Begegnung mit KMS B über die Fahrwassermitte geraten sei. Auch sei MS G entgegen der Meinung des Klägers berechtigt gewesen, die von DEK-km 145,460 bis 145,585 - damit von 75 m unterhalb bis 50 m oberhalb der Lingener-Kanal-Straßenbrücke - reichende, durch Zeichen nach Bild 36 BinnSchG 1966 gekennzeichnete Engstelle vor dem zu Tal kommenden KMS B zu passieren.
Das angefochtene Urteil hält schon aus folgenden Gründen einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand:
Nach § 41 Nr. 2 BinnSchSO 1966 ist auf Strecken, deren Grenzen nach Bild 36 BinnSchSO 1966 gekennzeichnet sind, jegliches Überholen und Begegnen verboten. Um letzteres zu vermeiden, müssen Bergfahrer, wenn vorauszusehen ist, daß sie auf einer solchen Strecke mit einem Talfahrer zusammentreffen, unterhalb der Strecke halten, bis der Talfahrer sie durchfahren hat (§ 41 Nr. 1 b BinnSchSO 1966). Demnach ist es Sache des Bergfahrers, anhand aller Gegebenheiten, insbesondere der eingehaltenen Geschwindigkeiten, abzuschätzen, ob er eine Engstrecke vor einem herankommenden Talfahrer noch vollständig und, ohne diesen zu einer Fahrtverminderung oder zum Halten zu zwingen, passieren kann. Ist das nicht gewiß oder sogar zu verneinen, so muß er stoppen und dem Talfahrer die Vorfahrt lassen. Auch kann er ein hierzu widersprüchliches Verhalten nicht damit rechtfertigen oder entschuldigen, daß die Talfahrer ihrerseits nach § 41 Nr. 1 c BinnSchSO 1966 wartepflichtig sind, wenn ein Bergfahrer, aus welchen Gründen auch immer, bereits in die Strecke hineingefahren ist. Denn diese - zusätzlich für die Sicherung des Schiffsverkehrs im Bereich einer Engstrecke getroffene Regelung ändert nichts an der grundsätzlichen Wartepflicht des Bergfahrers und bedeutet nicht etwa, daß derjenige stets eine Engstrecke zuerst durchfahren darf, der sie als erster erreicht. Eine solche Auffassung würde den Schwierigkeiten, die die Talfahrt (im Gegensatz zur Bergfahrt) vielfach bei einem sofortigen Anhalten haben kann, nicht gerecht.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts waren MS G und KMS B 550 m voneinander entfernt, als sie sich gegenseitig erkennen konnten. Dabei habe KMS B 200 bis 250 m oberhalb der Engstelle gestanden. Hieraus, so meint das Berufungsgericht, ergebe sich, daß MS G in die Engstelle habe einfahren können, ohne gegen § 41 Nr. 1 b BinnSchSO 1966 zu verstoßen. Denn „wenn beide Schiffe mit zulässiger Geschwindigkeit weitergefahren wären, so hätte die Begegnung oberhalb der Straßenbrücke etwas südlich der Engstelle stattgefunden und gefahrlos überstanden werden können". Dabei übersieht das Berufungsgericht jedoch, daß es für die von dem Bergfahrer anzustellenden Überlegungen auf die tatsächlich eingehaltenen Geschwindigkeiten und nicht auf die gesetzlich zugelassenen Geschwindigkeiten ankommt, zumal auch der Talfahrer mit „überhöhter Geschwindigkeit mit dem Strom (etwa 8 bis 12 km/h)" gefahren sein soll. Auch mußte es bei Einhaltung der „zulässigen" Kanalgeschwindigkeit von 8 km/h (vgl. § 18 Nr. 2 - WK - BinnSchG 1966) durch beide Fahrzeuge zu einer Begegnung innerhalb der Engstelle kommen.
Mit den bisherigen Ausführungen des Berufungsgerichts läßt sich daher ein Verstoß des MS G gegen § 41 Nr. 1 b BinnSchSO 1966 nicht verneinen. Vielmehr bedarf es hierzu einer Erörterung der wirklichen Geschwindigkeiten der beiden Fahrzeuge bei der Annäherung an die Engstelle und aller weiteren insoweit bedeutsamen Gegebenheiten, außerdem aber der Prüfung, ob danach die Führung des MS G vor der Einfahrt in die Engstelle gewiß sein konnte, ihr Fahrzeug werde mit KMS B nicht in der Engstelle zusammentreffen.