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Leitsatz:
Zu den Sorgfaltspflichten bei der Fahrt durch eine „enge Gasse" beiderseits entgegenkommender Fahrzeuge.
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 12. Juni 1972
II ZR 64/70
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Auf der Höhe von Lorchhausen wurde das rechtsrheinisch unmittelbar an der Fahrwassergrenze zu Berg fahrende MS A auf seiner Steuerbordseite von einem Schleppzug, bestehend aus Vorspannboot R, Motorschlepper I sowie den Tankkähnen Al (1. Länge) und B (2. Länge) überholt. Den Schleppzug überholten linksrheinisch 4 Einzelfahrer, sich nahe an den Rheindiebacher Kribben hintereinander haltend, und zwar die Motorschiffe H, Ro, D und WM. Nur MS A und der Schleppzug zeigten die blaue Seitenflagge. Deshalb fuhr das zu Tal kommende, dem Kläger gehörende MS W zwischen der rechts- und der linksrheinischen Bergfahrt hindurch, stieß aber bei km 541,5 mit dem Backbordvorschiff gegen das Backbordvorschiff von MS WM. Beide Schiffe wurden schwer beschädigt.
Der Kläger verlangt Ersatz der Schäden an MS W und an MS WM - insoweit aus abgetretenem Recht - von den Eigentümern des MS Ro (Beklagter zu 1) und des Tankkahnes Al (Beklagte zu 2) mit der Behauptung, daß beide Schiffe schuldhaft in den Kurs des Talfahrers geraten seien, wodurch MS W zuerst durch MS Ro zu einer Ausweichbewegung nach Steuerbord und sodann durch MS Al alsbald wieder nach Backbord gezwungen worden sei. Bevor MS W sich wieder habe aufstrecken können, sei es zu der Kollision gekommen.
Die Beklagten bestreiten ein nautisch falsches Verhalten; sie seien nicht in den Kurs des Talfahrers geraten.
Beide Vorinstanzen haben die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten ist das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Zwischendurchfahrten eines Berg- oder Talfahrers werden jedenfalls auf dem Rhein seit langem anerkannt und praktiziert (Wassermeyer, der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 4. Aufl. S. 198). Sie sind nichts Außergewöhnliches. Wie jedes nautische Manöver unterliegen auch sie der Vorschrift über die allgemeinen Sorgfaltspflichten eines Schiffers (§ 4 RheinSchPVO 1954, § 1.04 RheinSchPVO 1970). Deren Anwendung erlaubt es, den vielfältigen Besonderheiten gerecht zu werden, die sich gerade bei Zwischendurchfahrten ergeben können. Besteht beispielsweise der Raum für eine Zwischendurchfahrt aus einer „engen Gasse", so sind an die Sorgfaltspflichten der Beteiligten wesentlich höhere Anforderungen zu stellen, als wenn dieser Raum besonders breit ist. Denn während bei großen Seitenabständen kleinere Kursabweichungen eines Fahrzeugs im allgemeinen zu keiner Gefährdung der anderen Fahrzeuge führen werden, liegen die Dinge bei einer „engen Gasse" naturgemäß anders. Hier sind die Gegenfahrer deshalb gehalten, durch sorgfältiges Navigieren jede zusätzliche Verengung der Gasse zu vermeiden, während die Zwischenfahrer verpflichtet sind, die Mitte der Gasse einzuhalten und die Geschwindigkeit so zu wählen, daß sie Ausweichbewegungen möglichst ohne harte Rudermänöver auszuführen vermögen. Hat außerdem die Durchfahrt zwischen Reihen entgegenkommender Fahrzeuge zu erfolgen, von denen sich einzelne mit Seitenabständen überholen, die gegenseitige Kursbeeinflussung nicht ausgeschlossen erscheinen lassen, so ist für alle Beteiligten ein besonders vorsichtiges Navigieren geboten.
Legt man diese Grundsätze der Beurteilung des Streitfalls zugrunde, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Führungen von MS Ro und TSK Al die Kollision zwischen MS W und MS WM schuldhaft verursacht haben.
MS Ro fuhr als zweites Schiff in der Reihe der linksrheinischen Einzelfahrer. Diese überholten den rechtsrheinischen, gegen 500 m langen Bergschleppzug, der seinerseits mit geringem Seitenabstand das an seiner Backbordseite fahrende MS A überholte. Der Seitenabstand zwischen den Einzelfahrern und dem Schleppzug betrug 40 bis 60 m, in Höhe des etwa eine Schiffsbreite nach Steuerbord herausliegenden ersten Anhangs (TSK Al) 30 bis 50 m. Bei derartigen Abständen konnte, wie auch die Beklagten nicht in Abrede stellen, die Zwischendurchfahrt des mehr als 8 m breiten MS W nur dann gefahrlos von statten gehen, wenn alle Fahrzeuge ihren Kurs genau einhielten, insbesondere die Bergfahrer auch nicht vorübergehend in den Raum für die Zwischendurchfahrt gerieten.
Wie den Feststellungen des angefochtenen Urteils zu entnehmen ist, befand sich das mit „relativ hoher" Geschwindigkeit fahrende MS W allenfalls noch 100 m oberhalb von MS Ro, als dieses Fahrzeug - zunächst mit dem Kopf und sodann noch stärker mit dem Hinterschiff - in die enge Zwischendurchfahrt geriet. Der Talfahrer, der zunächst nicht wissen konnte, wie weit der Schlenker des MS Ro dieses Schiff in den Raum der Zwischendurchfahrt bringen werde, mußte daher sofort und nachdrücklich mit einer Kursänderung nach Steuerbord reagieren, wenn er eine mögliche Kollision mit MS Ro vermeiden wollte. Das mußte ihn wegen seiner Geschwindigkeit alsbald in eine gefährliche Nähe des Schleppzuges, insbesondere des erst kurz zuvor von MS Ro überholten TSK Al bringen, der seinerseits das Schraubenwasser des Motorschleppers I nach Steuerbord freifuhr. Dieser Gefahr konnte MS W nur durch eine erneute harte Kursänderung nach Backbord begegnen, und zwar unabhängig davon, ob TSK Al inzwischen selbst noch weiter nach Steuerbord abgekommen war. Daß aber derartige, durch das pflichtwidrige Verhalten der Führung des MS „Rosarium IV veranlaßte Manöver innerhalb des für die Durchfahrt zwischen Reihen von Gegenfahrern zur Verfügung stehenden engen Raumes zu Kollisionen führen können, liegt nicht außer jeder Erfahrung. Schon deshalb ist ein adäquater Zusammenhang zwischen der Fahrweise des MS Ro und der späteren Kollision zu bejahen.
Das Berufungsgericht wirft der Führung des TSK Al vor, mit dem Kahn nicht nur, wie üblich, das Schraubenwasser seines Motorschleppers freigefahren zu haben, sondern noch weiter aus der Kurslinie des Schleppzuges in die Zwischendurchfahrt hineingeraten zu sein. Hierbei hat es sich, wie dem angefochtenen Urteil zu entnehmen ist, mindestens um eine weitere Schiffsbreite gehandelt. Es mag dahinstehen, ob die Führung des Kahnes nicht bereits dadurch pflichwidrig gehandelt hat, daß sie das Schraubenwasser des Motorschleppers I nach Steuerbord freifuhr, anstatt mit Rücksicht auf die bevorstehende Zwischendurchfahrt des MS W genau der Kurslinie des Motorschleppers zu folgen. Jedenfalls gereicht ihr zum Vorwurf, daß sie beim Näherkommen des MS W noch weiter mit dem Kahn aus der Kurslinie ihres Motorschleppers in die schmale Durchfahrt geriet.
Zur Frage eines adäquaten Zusammenhanges zwischen der Fahrweise des TSK Al und der Kollision ist zu bemerken, daß insoweit die weitere Verengung der Zwischendurchfahrt entscheidend ist. Dieser konnte ein, wie hier, bereits nahe herangekommener Talfahrer nur durch ein rasches Rudermanöver begegnen, auf das bei dem schmalen Raum alsbald weitere Rudermanöver folgen und bei dem Talfahrer zu einem vorübergehenden Zickzackkurs führen mußten, bei dem Kollisionen mit einem oder mehreren Gegenfahrern nichts Außergwöhnliches sind.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts fällt der Führung des MS W trotz der „relativ hohen" Geschwindigkeit des Schiffes nicht zur Last, den Unfall mitverschuldet zu haben. Darin kann ihm nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht gefolgt werden. Denn ein Verschulden des Talfahrers kommt nicht nur in Betracht, wenn seine Führung vor der Durchfahrt konkrete Schwierigkeiten hätte erkennen können und wenn sie dennoch die Geschwindigkeit nicht herabgesetzt hat. Das wird der erhöhten Gefahrenlage, die mit der Fahrt des MS W durch die enge Gasse der zahlreichen, sich teilweise auf engem Raum überholenden Gegenfahrern allgemein verbunden war, nicht gerecht. Dieser erhöhten Gefährdung wegen war vielmehr - ebenso wie für die Entgegenkommer - auch für die Führung des MS W ein besonders vorsichtiges Navigieren geboten. Der Talfahrer mußte deshalb, auch wenn eine konkrete Gefahr noch nicht erkennbar war, seine Geschwindigkeit rechtzeitig vor der Zwischendurchfahrt so einrichten, daß er notfalls einer zusätzlichen Verengung der Gasse im Rahmen des Möglichen begegnen und hierbei ein gefährliches Hin- und Herpendeln vermeiden konnte.Unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt muß das Berufungsgericht den Sachverhalt erneut prüfen, zumal nach seinen bisherigen Ausführungen die Führung des MS W das Schiff vor dem Zusammenstoß mit MS WM gerade wegen der eingehaltenen Geschwindigkeit nicht hat abfangen und aufstrecken können, während bei verminderter Geschwindigkeit die „Ausgangslage eine andere und wahrscheinlich, jedenfalls möglicherweise günstigere gewesen" wäre. Dabei wird es angebracht sein, zunächst die Geschwindigkeit möglichst genau festzustellen, die MS W tatsächlich innegehabt hat. Auch kann es für die Beurteilung des Verhaltens der Führung des MS W von Bedeutung sein, ob sie nicht wegen der teilweise auf engem Raum ausgeführten Überholmanöver der Gegenfahrer mit einer gewissen Unruhe bei einzelnen Fahrzeugen rechnen mußte.