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Leitsatz:
Zur Wartepflicht eines gegen den Flutstrom fahrenden Schiffes bei einer Stromenge
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 7. Juli 1969
II ZR 248/47
(Landgericht Aurich; Oberlandesgericht Oldenburg)
Zum Tatbestand:
Während der Talfahrt gegen den Flutstrom auf der Ems durch die „Enge Fahrt" bei Jemgum stieß das damals dem Kläger gehörende, von seinem Sohn geführte, unbeladene MS G mit dem den Beklagten gehörenden, vom Beklagten zu 2 unter Lotsenberatung zu Berg geführten und vom Beklagten zu 1 gesteuerten, mit Holz beladenen Kümo J zusammen. Die „Enge Fahrt" ist eine etwa 1650 m lange, durch Signaltafeln bezeichnete Flußstrecke und in ihrem engsten Teil etwa 90 m breit. Das Fahrwasser verläuft unter dem Westufer und ist gegen die Mitte des Flusses durch Tonnen abgegrenzt.
MS G passierte einige Minuten, bevor KMS J die untere Signaltafel erreichte, die obere Signaltafel. Beide Schiffe gaben langes Achtungssignal, das jedoch beiderseits nicht gehört wurde. Auch sahen sich die Schiffe nicht. Das bei den Tonnen 19 und 20 zuerst nach Steuerbord, dann nach Backbord aus dem Ruder gelaufene KMS J konnte durch „Hart Steuerbordruder" und „Voll voraus" nicht wieder auf Kurs gebracht werden, so daß es auf der anderen Fahrwasserseite gegen MS G stieß, das nach Steuerbord bis zum Tonnenstrich und darüber hinaus bis zu einer Leuchtbarke auszuweichen suchte.
Der Kläger verlangt Ersatz seines Schadens von ca. 35 000,- DM mit der Behauptung, daß KMS J zu schnell und zu dicht am Ufer in die Enge gefahren und deshalb aus dem Ruder gelaufen sei. In der Enge, in die G zuerst eingefahren sei, habe für diesen keine Wartepflicht mehr bestanden.
Die Beklagten haben eine zu hohe Geschwindigkeit bestritten. Die in der Enge bestehenden unkontrollierbaren Strömungen hätten dazu geführt, eine Wartepflicht des gegen den Flutstrom anfahrenden Schiffes anzuordnen. Obwohl das Achtungssignal von J zu hören und letzterer von der Steuerbordseite des Fahrwassers zu sehen gewesen sei, habe G nicht mit dem Befahren der Enge gewartet. Als dieser spätestens auf 700 m den Gegenkommer gesehen habe, sei er verpflichtet gewesen zu stoppen, nach Steuerbord notfalls über den Tonnenstrich hinaus auszuweichen und KMS J passieren zu lassen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht hat den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Mit Recht hat das Berufungsgericht eine Wartepflicht für MS G nach dem hier vorliegenden Sachverhalt verneint. Das Berufungsgericht stellt fest, daß sich KMS J noch eine beträchtliche Strecke unterhalb der unteren Signaltafel befunden hat, als MS G in die Enge einige Minuten vor KMS J eingefahren ist. Es hält eine Mindestentfernung der beiden Schiffe von 2 km beim Einlaufen von MS G für dargetan. Bei einem sich hieraus ergebenden Mindestabstand von KMS „Jan Hamm" von 350 m von der unteren Signaltafel in diesem Zeitpunkt bestand auch dann keine Wartepflicht, wenn die Führung von MS G, die unstreitig ein Achtungssignal von KMS J nicht gehört hat, unter Ausnutzung der gegebenen Sichtverhältnisse hätte erkennen können, KMS J werde die Enge erreichen, bevor er selbst sie passiert haben würde. Aus § 72 SSchSO ist nach seiner Fassung eine derart weit erstreckte Wartepflicht nicht zu entnehmen. Die Vorschrift will, wie das Berufungsgericht mit Recht annimmt, nicht erreichen, daß die Enge Fahrt bei Jemgum unbedingt auf ihrer ganzen Strecke dem mit dem Strom fahrenden Schiff allein zur Verfügung steht. Sie will zwar ein Passieren in der Enge dann vermeiden, wenn das mit dem Strom fahrende Schiff bereits die enge Strecke erreicht hat, oder im Begriff ist, in sie einzulaufen. Dann muß das gegen den Strom fahrende Schiff am anderen Ende der Strecke warten. Bei der Jemdumer Enge handelt es sich nicht um eine enge Strecke, bei der unter allen Umständen dafür gesorgt werden muß, daß jeweils nur ein Fahrzeug in sie einfährt.
Es wird eine Wartepflicht nicht bereits bei der Annäherung an die enge Stelle des Fahrwassers vorgeschrieben, wie sie angeordnet ist, wenn die enge Stelle für ein Ausweichen zu eng ist und das Passieren daher unbedingt vermieden werden muß (vgl. für die Lühe § 179, für die Este § 191 SSchSO). Ebenso enthält § 41 Nr. 1 b BSchSO eine strenge Regelung der Wartepflicht, indem vorgeschrieben wird, daß Bergfahrer unterhalb einer Fahrwasserenge halten müssen, wenn vorauszusehen ist, daß sie in dieser mit einem Talfahrer zusammentreffen. Die Jemgumer Enge hat mit 1650 m Länge eine solche Ausdehnung, daß eine Wartepflicht, die bereits einsetzt, wenn ein mit der Flut fahrendes Schiff die Strecke erreichen würde, eine Entscheidung der Schiffsführung verlangen würde, die wegen des großen Abstandes und der verschiedenen Geschwindigkeiten der Schiffe nur schwer zuverlässig zu treffen wäre. Bei ungünstigen Sichtverhältnissen wäre ein Passieren in der Enge ohnedies nicht zu vermeiden. Wie die Ausführungen des Sachverständigen M. zeigen, ist das Passieren in der Enge nicht derart schwierig, daß die Vorschrift in diesem Sinn ausgelegt werden müßte.
Die Auslegung des § 72 SSchSO, wie sie mit dem Berufungsgericht für richtig gehalten wird, ergibt zugleich, daß MS G nicht vorgeworfen werden kann, es habe sich nicht ständig gemacht, als KMS J gesichtet wurde. Eine solche Pflicht kann nach den Umständen weder § 72 SSchSO noch § 32 Abs. 4 SSchSO (allgemeine nautische Sorgfaltspflicht) entnommen werden. Die Pflicht, am anderen Ende der bezeichneten Strecke zu warten, bis das mit dem Strom fahrende Schiff vorbeigefahren war (§ 72 Abs. 1 Satz 2 SSchSO), konnte nicht mehr erfüllt werden, nachdem MS G in die Enge eingelaufen war. Nunmehr mußte, wie das Berufungsgericht unter Abweichung vom Spruch des Seeamts zutreffend darlegt, unter Anwendung jeder möglichen Sorgfalt passiert werden. Das Berufungsgericht stellt fest, daß MS G am Rand des Fahrwassers fuhr und den größten Teil des 90 m breiten Fahrwassers dem Gegenkommer freiließ. Der Sachverständige M. hatte ausgeführt, daß das Ausscheren über die ganze Strecke des Fahrwassers ungewöhnlich ist und daß die Strömungsverhältnisse in der Jemgumer Enge nicht derart sind, daß sie unvorhersehbar zu solchem Ruderversagen führen.
Das Berufungsgericht folgt auch dem Sachverständigen darin, daß selbst dann, wenn das Gieren des Gegenkommers und sein Ausscheren zunächst nach Steuerbord und dann stark nach Backbord von MS G schon zwei bis drei Minuten vor der Kollision erkannt wurden, dieses nicht damit zu rechnen brauchte, KMS J werde die Schwierigkeiten nicht überwinden können und über die ganze Fahrwasserbreite ausscheren. Auch an der engsten Stelle ist nach der Ansicht des Sachverständigen, dem das Berufungsgericht folgt und die mit derjenigen der Wasserschutzpolizei übereinstimmt, eine klare Begegnung bei genügendem Ausweichen des gegen den Strom fahrenden Schiffes und einer den Sogverhältnissen angepaßten Geschwindigkeit und richtigem Uferabstand des mit dem Strom fahrenden Schiffes ohne besondere Schwierigkeit möglich. Der Sachverständige verweist darauf, daß Havarien in der Jemgumer Enge gemessen an der Zahl der Begegnungen sehr selten sind. Die von der Revision erörterten „offenkundigen Schwierigkeiten" des KMS J brauchten MS G also keinen Anlaß zu geben, sich alsbald ständig zu machen oder sofort über den Tonnenstrich hinaus auszuweichen."