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Leitsätze:
1) Die Auslegung typischer Versicherungsbedingungen hat nach objektiven Maßstäben, losgelöst von der zufälligen Gestaltung des einzelnen Falles und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien, zu erfolgen. Es kommt darauf an, wie ein verständiges Mitglied des in Frage kommenden Kundenkreises die Bedingungen verstehen konnte und mußte.
2) Ist den Parteien bei Vergleichsverhandlungen über die Erledigung eines Versicherungsfalles die Existenz bestimmter Zusatzbedingungen nicht gegenwärtig und gingen sie deshalb irrtümlich von falschen Voraussetzungen bei der Beurteilung der Fragen einer Unterversicherung und der Reparaturunwürdigkeit eines Schiffes aus, so liegt ein Sachverhaltsirrtum im Sinne des § 779 Abs. 1 BGB vor.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 15. Dezember 1969
II ZR 134/68
(Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg)
Zum Tatbestand:
Das dem Kläger gehörende und bei den Beklagten mit DM 100000,- versicherte MS M kenterte und wurde erheblich beschädigt. Im Auftrag des Klägers, der das Schiff für reparaturunwürdig hielt, wurde mit einer Vertreterfirma der Beklagten über die Auszahlung der in einer Schadenstaxe auf DM 82009,- geschätzten Reparaturkosten verhandelt, wobei insbesondere über die Fragen einer Unterversicherung und der Reparaturunwürdigkeit gestritten wurde. Schließlich wurde eine Einigung erzielt, wonach der Kläger „zur Abgeltung aller gegenseitigen Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag und aus dem Schadensfall" DM 50000,- erhalten hat.
Der Kläger fordert wegen angeblicher Unwirksamkeit des Vergleichs gemäß § 779 BGB auch die restlichen DM 32009,-, weil die Parteien bei ihren Verhandlungen irrtümlich den Wert des Schiffes- und damit die Beurteilung der Fragen einer Unterversicherung und der Reparaturunwürdigkeit - als ungewiß angesehen hätten, obwohl nach Ziffer 9 der Zusatzbedingungen des Versicherungsvertrages „als Schiffswert die Versicherungssumme gilt."
Die Beklagten halten die Vereinbarung für wirksam; Ziffer 9 der Zusatzbedingungen gelte nur für Haftpflichtfälle.
Das Landgericht hat die Beklagten durch Teilurteil antragsgemäß verurteilt. Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Auch die Revision blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
Vorweg ist zu bemerken, daß die Zusatzbedingungen, ebenso wie die daneben auf das Versicherungsverhältnis anzuwendenden Allgemeinen Bedingungen der Versicherer, typische Vertragsbestimmungen beinhalten, deren Geltungsbereich nicht auf den Bezirk des Berufungsgerichts beschränkt ist. Die Zusatzbedingungen unterliegen deshalb der freien Auslegung durch das Revisionsgericht.
Die Auslegung typischer Versicherungsbedingungen hat nach objektiven Maßstäben unter Beachtung ihres Zweckes und der gewählten Ausdrucksweise zu erfolgen, losgelöst von der zufälligen Gestaltung des einzelnen Falles und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien (BGHZ 22, 109, 113). Bei der Auslegung derartiger Bedingungen kommt es deshalb nicht darauf an, wie sie derjenige, der die Bedingungen verwendet, versteht oder wie sie von einem bestimmten Versicherungsnehmer aufgefaßt werden. Es ist vielmehr danach zu fragen, wie ein verständiges Mitglied des in Frage kommenden Kundenkreises die Bedingungen verstehen konnte und mußte (Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, S. 351).
Bei Anwendung dieser Grundsätze im Streitfall ist Ziff. 9 der Zusatzbedingungen dahin auszulegen, daß sowohl in Kasko- als auch in Haftpflichtfällen als Schiffswert die Versicherungssumme gilt, bei den Haftpflichtfällen gegebenenfalls unter Abzug eines eigenen Schadens.
Die Feststellung des Wertes des versicherten Interesses (Versicherungswert) kann, wie nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, erhebliche Schwierigkeiten bereiten und zu beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer, insbesondere in der Frage einer Unterversicherung, führen. § 57 S. 1 VVG sieht deshalb die Möglichkeit vor, den Versicherungswert durch Vereinbarung auf einen bestimmten Betrag (Taxe) festzusetzen. Die Taxe gilt sodann regelmäßig auch als der Wert, den das versicherte Interesse zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles hat (§ 57 S. 2 VVG). Enthalten daher die Bedingungen einer Versicherung auf Kasko eine Regelung über den Wert der versicherten Sache, so ist hierin die Festsetzung der Taxe nach § 57 VVG zu sehen.
Die Revision stellt nicht in Abrede, daß Ziff. 9 der Zusatzbedingungen die Festsetzung der Taxe nach § 57 VVG beinhaltet. Wegen der Fassung des 2. Halbsatzes der Bedingung („evtl. unter Abzug des eigenen Schadens") meint sie jedoch, die genannte Ziffer sei lediglich auf Haftpflichtfälle anzuwenden. Die Revision verkennt, daß der 2. Halbsatz der Bedingung, der, wie sie zutreffend ausführt, nur im Zusammenhang mit Haftpflichtfällen einen verständigen Sinn hat, als eine Klarstellung dahin zu verstehen ist, daß die nach dem 1. Halbsatz („Als Schiffswert gilt die Versicherungssumme") eindeutige Festsetzung der Taxe a u c h für diejenigen Haftpflichtfälle gelten soll, welche die Vertragsschließenden in die „Versicherung auf Kasko" einbezogen haben.
Nach Ausführungen des Berufungsgerichts ergibt sich aus dem Verlauf der zwischen den Parteien geführten Verhandlungen, daß dem Vertreter des Klägers ebensowenig wie der Vertreterin der Beklagten die Ziff. 9 der Zusatzbedingungen gegenwärtig war.
War aber den Vertretern der Parteien während der Vergleichsverhandlungen und bei Abschluß der Vereinbarung vom 26. Mai 1965 die Existenz der Ziff. 9 der Zusatzbedingungen nicht gegenwärtig und gingen sie deshalb davon aus, daß es für die Fragen einer Unterversicherung und der Reparaturunwürdigkeit des Schiffes auf dessen wirklichen Wert ankomme, so lag ein Sachverhaltsirrtum im Sinne des § 779 Abs. 1 BGB vor und nicht, wie die Revision meint, lediglich ein reiner Rechtsirrtum. Der Irrtum beruhte nämlich nicht auf einer rechtlich unzutreffenden Beurteilung des Inhalts des Versicherungsvertrages, sondern er gründete sich auf den Umstand, daß die Vertreter der Vertragschließenden an das Bestehen einer Taxe im Sinne des § 57 VVG nicht gedacht haben.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wäre zwischen den Parteien kein Streit über die Fragen einer Unterversicherung und der Reparaturunwürdigkeit des Schiffes entstanden - und damit auch nicht über die Verpflichtung der Beklagten, die in der Schadenstaxe auf 82009 DM geschätzten Reparaturkosten an den Kläger zu zahlen -, wenn ihnen die Vereinbarung einer Taxe gegenwärtig gewesen wäre. Daß die Parteien die erwähnten Streitpunkte durch den Abschluß der Vereinbarung vom 26. Mai 1965 erledigen wollten, ergibt sich ohne weiteres aus dem Zusammenhang der angefochtenen Entscheidung."