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Leitsatz:
Zur Verteilung der Beweislast, wenn das zu überholende Fahrzeug den Kurs des Überholers kreuzt.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 3. Februar 1975
II ZR 126/73
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Das der Klägerin gehörende MS H wollte im Februar 1970 auf der Bergfahrt bei Essenberg einen linksrheinischen Schubverband (MS D234 mit SK D95) und einen vor dem Verband etwas nach Backbord versetzt laufenden Schleppzug (Boot PII mit SK D99) an deren Backbordseite überholen. Während MS H nach Setzen der Überholflagge dieses Manöver durchführte, geriet es mit seinem Steuerbordachterschiff gegen das Backbordvorschiff von SK „D95.
Die Klägerin verlangt Ersatz des eigenen Schadens (ca. 1700,- DM) sowie des an SK D95 entstandenen und diesem ersetzten Schadens (19000,- hfl) von der Beklagten zu 1 als der Eignerin und von dem Beklagten zu 2 als dem Führer des Bootes P mit der Behauptung, daß MS H den Schubverband fast überholt gehabt habe, als Boot PIV plötzlich die blaue Flagge gezeigt und den Kurs nach rechtsrheinisch geändert habe. MS H sei dabei geschnitten und dadurch gezwungen worden, nach Steuerbord auszuweichen; dadurch sei es gegen D95 geraten.
Die Beklagten behaupten, MS H habe etwa 100 bis 150 m unterhalb des Schleppzuges den Kurs hart nach Steuerbord geändert - offensichtlich, um den Schleppzug steuerbords zu überholen und ihm dadurch zu ermöglichen, nach rechtsrheinisch zu fahren. Erst dann habe der Schleppzug den Übergang begonnen.
Beide Vorinstanzen haben die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, daß das Berufungsgericht überhaupt die Vorschrift des § 37 Nr. 2 RheinSchPolVO 1954 herangezogen hat. Richtig ist allerdings, daß diese Vorschrift nicht anzuwenden wäre, wenn der Schleppzug bereits den Kurs nach Backbord geändert gehabt hätte, als MS H anfing, ihn zu überholen. Nach dem angefochtenen Urteil war es hier jedoch so, daß MS H bereits begonnen hatte, den Schleppzug zu überholen, als dieser Backbordkurs nahm: Die gegenteilige Ansicht der Revision legt dem in § 37 Nr. 2 RheinSchPolVO 1954 verwendeten Wort „Überholen" eine zu enge Bedeutung bei. Zwar will auch sie den Anwendungsbereich der genannten Vorschrift nicht etwa nur auf die eigentliche Vorbeifahrt des Überholers an dem Überholten beschränken. Sie meint jedoch, daß von einer Überholung im Sinne des § 37 Nr. 2 RheinSchPolVO 1954 nur so lange gesprochen werden könne, als von dem Überholer Gefahr (z. B. Sogwirkung, gefährliche Kursbehinderung) für den Überholten ausgehen könne. Damit wird sie aber dem Zweck der Vorschrift, den durchgehenden Verkehr vor den Gefahren kreuzender Kurse zu schützen, nur unvollständig gerecht. Vielmehr gebietet es dieser, die Vorschrift auf das gesamte Überholmanöver anzuwenden, d. h. von dem Zeitpunkt an, in welchem ein Fahrzeug zum Überholen eines vorausfahrenden Fahrzeuges ansetzt, bis zu jenem Zeitpunkt, in dem es den Überholvorgang abbricht oder beendet (vgl. zu letzterem BGH, Urt. v. 9. 1. 1964 - II ZR 121/62,'] VersR 1964, 184, 185). Dabei können Anhaltspunkte für den Beginn eines Überholmanövers das Setzen oder Beibehalten der Überholflagge, die Abgabe von Schallzeichen nach § 43 Nr. 2 RheinSchPolVO 1954, das Ausscheren aus der Kiellinie des Vorausfahrenden, das Erhöhen der Geschwindigkeit des Überholers oder eine deutliche Verkürzung seines Abstandes zu dem Vorausfahrenden sein. Es ist daher nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht aufgrund der auf MS H gesetzten Überholflagge in Verbindung mit der Fahrweise dieses Schiffes angenommen hat, es habe bereits zum Überholen des Schleppzuges angesetzt gehabt, als SB PII den Kurs nach Backbord geändert habe, selbst wenn hierbei der Abstand zwischen dem Schleppzug und MS H noch 160 m betragen haben sollte.
Grundsätzlich hat allerdings jede Partei die tatbestandlichen Voraussetzungen einer von ihr in Anspruch genommenen Norm zu beweisen (BGHZ 39, 103, 106; 53, 245, 250). Das gilt auch im Kollisionsprozeß der Binnenschiffahrt (BGH, Urt. v. 13. 7. 1970 - II ZR 163/69,11 VersR 1970, 948, 949 =, LM RheinschiffahrtspolizeiVO v. 24. 12. 1954 Nr. 50). Jedoch hat es der Senat in derartigen Streitsachen bei besonders liegenden Fällen für notwendig befunden, von der allgemeinen Beweislastregel abzuweichen, um auch insoweit zu einer billigen und gerechten Entscheidung zu gelangen. So hat er die Beweislast für die Zulässigkeit von solchen Manövern, die nach allgemeiner Erfahrung den durchgehenden - durch zahlreiche schiffahrtpolizeiliche Vorschriften ausdrücklich bevorrechtigten (vgl. § 46 Nr. 1, § 47 Nr. 1 Satz 1, § 49 Nr. 1, § 50 Nr. 3 Satz 1 RheinSchPolVO 1954; § 6.13 Nr. 1, § 6.14, § 6.16 Nr. 1 RheinSchPolVO 1970) - Verkehr behindern, gefährden oder ihm Schaden zufügen können, demjenigen Fahrzeug auferlegt, das ein solches Manöver ausführt (Urt. v. 12. 5. 1960 - II ZR 20858,3] VersR 1960, 594, 595 = LM a.a.O. Nr. 6- U b e r h o l e n; Urt. v. 12. 3. 1962 - II ZR 169/60,4] VersR 1962, 417, 418 = LM a.a.O. Nr. 12 - Wenden ; Urt. v. 7. 10. 1965 - 11 ZR 266/63,5] VersR 1965, 1146, 1147 - Querfahrt ; Urt. v. 25. 11. 1968 - 11 ZR 151/67,6] VersR 1969, 323, 324 = LM a.a.O. Nr. 39 - K r e u - z e n ; Urt. v. 23. 6. 1969 - I I ZR 251/67.1] VersR 1969, 846, 847 = LM a.a.O. Nr. 47 - Hafenausfahrt; vgl. auch Urt. v. 26. 11. 1964.- II ZR 55/63,8] VersR 1965, 152, 153 =- LM a.a.O. Nr. 18/19 - B e g e g n e n). Dadurch wird auch dem Gedanken Rechnung getragen, daß ein Fahrzeug, das sich über die Zulässigkeitsvoraussetzungen der vorstehend aufgeführten Manöver rücksichtslos hinwegsetzt, nicht noch dadurch begünstigt wird, daß die Beweislage in Kollisionsstreitigkeiten ohnehin oftmals besonders schwierig ist.
Demgegenüber wird im Schrifttum (so zuletzt Wassermeyer in VersR 1974, 1052 ff.; vgl. auch van Oven, Die Verteilung der Beweislast in Sachen betreffend Zusammenstoß von Schiffen in Internationale Fragen des Binnenschiffahrtsrechts, Heft 89 der Schriftenreihe des Zentralvereins für deutsche Binnenschiffahrt e. V.) die Ansicht vertreten, daß der Richter in Kollisionsprozessen der BinnenschVfahrt von der allgemeinen Beweislastregel nicht abgehen darf. Die Ansicht wird in erster Linie aus Art. 2 Abs. 1 des Brüsseler Übereinkommens zur einheitlichen Feststellung von Regeln über den Zusammenstoß von Schiffen vom 23. September 1910 (IUZ) - BGBI. 1913, 49 ff. und der durch diese Bestimmung veranlaßten Neufassung des § 734 HGB (vgl. Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Zusammenstoß von Schiffen sowie über die Bergung und Hilfsleistung in Seenot vom 7. Januar 1913 - RGBI. 1913, 90) hergeleitet und damit begründet, daß nach diesen Bestimmungen keine Schadensersatzansprüche gegeben sind, wenn über die Ursachen eines Schiffszusammenstoßes (oder einer Fernschädigung - vgl. Art. 13 IÜZ; § 738 HGB a. F.; § 738 c HGB) Ungewißheit besteht.
Allein aus beiden Vorschriften, die zur Regelung seerechtlicher Verhältnisse ergangen sind, folgt keineswegs zwingend, daß es dem Richter in Kollisionsprozessen der Binnenschiffahrt schlechthin untersagt sein soll, in besonders liegenden Fällen ausnahmsweise von der allgemeinen Beweislastregel abzugehen. Denn von ihnen ist Art- 2 Abs. 1 IÜZ auf einen Zusammenstoß
oder eine Fernschädigung zwischen Binnenschiffen überhaupt nicht anwendbar, wie sich aus Art. 1 IÜZ ergibt. Auch kommt in einem derartigen Falle nur eine entsprechende Anwendung des § 734 HGB in Betracht (§ 92 BinnSchG a. F.). Deshalb ist der Rechtsprechung die Möglichkeit offen gehalten, bei Kollisionsstreitigkeiten den besonderen Gegebenheiten und Verhältnissen des Binnenschiffsverkehrs auch im Rahmen der Beweislastverteilung Rechnung zu tragen, zumal sich etwas anderes auch nicht aus den Verhandlungen des Reichstags bei der Neufassung des § 734 HGB ergibt (vgl. Drucksachen des Reichstags 1912-1914 Nr. 388; Verhandlungen des Reichstags 1912/1913 Bd. 286 S. 2444 bis 2447 und S. 2665).
Nun ist allerdings im Binnenschiffahrtsrecht mit Wirkung vom 6. September 1972 die neu eingeführte Vorschrift des § 92 a BinnSchG an die Stelle einer entsprechenden Anwendung des § 734 HGB getreten (Art. 2 Nr. 3 und 4 sowie Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes zu dem Genfer Übereinkommen vom 15. März 1960 zur Vereinheitlichung einzelner Regeln über den Zusammenstoß von Binnenschiffen - IUZfB - sowie zur Änderung des Binnenschifffahrtsgesetzes und des Flößereigesetzes vom 30. August 1972 - BGBI. II 1005 ff.). Ferner befindet sich das vorgenannte Obereinkommen seit 27. August 1973 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft (Bek. des Bundesministers des Auswärtigen v. 19. 9. 1973 - BGBI, li 1495). Damit gilt nun auch u n mittelbar im Binnenschiffahrtsrecht die Regelung, daß im Falle eines Zusammenstoßes (oder einer Fernschädigung - vgl. Art.; Nr. 2 IÜZfB und § 92 Abs. 2 BinnSchG n. F.) von Binnenschiffen kein Anspruch auf Ersatz des Schadens besteht, dessen Ursachen ungewiß sind. Deshalb könnte sich die Frage stellen, ob nunmehr auch iri Kollisionsprozessen der Binnenschiffahrt, insbesondere mit Rücksicht auf eine internationale Gleichbehandlung dieser Frage, eine Beweislastumkehr zum Nachteil der beklagten Partei nicht mehr zulässig ist (für das Seerecht vgl. Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht 2. Aufl. S. 406/407; Schaps/Abraham, Das deutsche Seerecht 3. Aufl. § 734 HGB Anm. 7; Prüssmann, Seehandelsrecht § 734 Anm. B 2 und § 735 Anm. d). Die Frage bedarf hier jedoch keiner weiteren Erörterung, weil der Zusammenstoß zwischen MS H und SK D95 bereits am 10. Februar 1970 erfolgt ist und der Gesetzgeber § 92 a BinnSchG keine rückwirkende Kraft beigelegt hat, wie eine solche auch nicht für Art 2 Abs. 2 IUZfB vereinbart worden ist.
Zutreffend hat daher das Berufungsgericht den Beklagten die Beweislast dafür auferlegt, daß die den Kurs des MS H kreuzende Backbordkursänderung des SB PII zulässig war. Zu bemerken bleibt lediglich noch, daß sich der vorliegende Sachverhalt von den Fällen einer kreuzenden Kursänderung, über die der Senat in den Urteilen v. 19. 2. 1968 - II ZR 167/65,') VersA 1968, 550, 551 und v. 25. 11. 1968 - II ZR 151/67,10) VersR 1969, 323, 324 entschieden hat, nur dadurch unterscheidet, daß es sich nicht um eine Kurskreuzung beim Begegnen zwischen Berg- und Talfahrt, sondern um eine solche des zu überholenden Fahrzeugs vor dem Uberholer handelt. insoweit kann aber für die Frage, wer die Zulässigkeit des Manövers zu beweisen hat, nichts anderes als für eine kreuzende Kursänderung beim Begegnen gelten.
Im Streitfall ist demnach zu Lasten der Beklagten davon auszugehen, daß SB P die Backbordkursänderung erst vornahm, als sich das mit etwa 9 km/h zu Berg kommende MS H nur noch 40 m unterhalb des Schleppzugs befand. In einem solchen Falle liegt es aber auf der Hand, daß der Verstoß des Schleppzugführers (Beklagten zu 2) gegen § 37 Nr. 2 RheinSchPolVO 1954 auch schuldhaft war.