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Leitsatz:
Die Verjährung wird gehemmt, auch wenn die arme Partei das Gesuch um Bewilligung des Armenrechts für die Erhebung der Klage zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber so spät - auch noch am letzten Tage - bei Gericht einreicht, daß darüber nicht mehr vor Fristablauf entschieden werden kann (Abweichung von BGHZ 17, 199 und 37, 113).
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 19. Januar 1978
II ZR 124/76
(Landgericht Hamburg; Oberlandesgericht Hamburg)
Zum Tatbestand:
Der Fischkutter des Klägers war am 4. 3. 1973 nach einer Kollosion mit dem Motorschiff der Beklagten in der Lübecker Bucht gesunken. Die Parteien konnten sich in außergerichtlichen Vergleichsverhandlungen über die Schadensquote hinsichtlich eines nicht durch Versicherung gedeckten Schadens bis August 1974 nicht einigen. Auf den Antrag der Anwälte des Klägers vom 23. 10. 1974 beim Landgericht Lübeck auf Bewilligung des Armenrechts für eine Klage über ca. 37 000,- DM rügte die in Hamburg ansässige Beklagte mit Schriftsatz vom 26. 11. 1974 u. a. die Zuständigkeit des Gerichts. Die Anwälte des Klägers beantragten darauf mit Schriftsatz vom 10. 2. 1975 - eingegangen am 19. 2. 1975 - unter Erweiterung des Gesuchs auf ca. 49 700,- DM die Abgabe des Armenrechtsverfahrens an das Landgericht Hamburg. Die beim Landgericht Hamburg am 3. 3. 1975 eingetroffenen und zuerst den Zivilkammern 10 und 6 zugeleiteten Akten wurden sodann an die Kammer für Handelssachen abgegeben. Als sich die Beklagte auf Verjährung berufen hatte, wurde das Armenrecht durch Beschluß des Landgerichts vom 4. 6. 1975 versagt und die Beschwerde des Klägers durch Beschluß des Oberlandesgerichts vom 18. B. 1975 zurückgewiesen.
Der Kläger erhob am 2. 9. 1975 - zugestellt am 4. 9. 1975 - Klage auf Zahlung von fast 40 000,- DM, weil die Schiffsbesatzung der Beklagten die Schiffskollision durch ihr Verschulden überwiegend verursacht habe.
Die Beklagte hat erneut die Einrede der Verjährung erhoben. Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin ist die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils an das Berufungsgericht zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Das Berufungsgericht hat den auf § 736 Abs. 1 HGB gestützten Schadensersatzanspruch für verjährt und die Klage schon aus diesem Grunde für abweisungsreif gehalten. Dem ist jedoch, wie die Revision zu Recht geltend macht, nicht zu folgen.
Ansprüche dieser Art verjähren gemäß § 901 Satz 2 Nr. 2 HGB a.F. und § 902 Nr. 2 HGB i.d.F. d. Seerechtsänderungsgesetzes vom 21. Juni 1972, BGBI 1 1513 (= n. F.) in zwei Jahren vom Ablauf des Kollosionstags an gerechnet (§ 903 HGB). Diese Frist war am 4. März 1975, also bevor der Kläger am 4. September 1975 Klage erhob, abgelaufen. Die Einreichung des Armenrechtsgesuchs hat die Verjährung nicht unterbrochen; eine dahingehende gesetzliche Regelung besteht nicht (§ 209 BGB). Die Verjährung war jedoch gehemmt (§ 203 BGB), weil der Kläger wegen des Unvermögens, die Prozeßkosten zu tragen, während der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch - im Sinne jener Vorschrift - „höhere Gewalt" an der Rechtsverfolgung gehindert war.
Das entspricht allerdings bei dem vorliegenden Sachverhalt nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat (BGHZ 17, 199; BGH, Urt. v. B. 5. 56 - VI ZR 58/55, LM BGB § 254 [EI Nr. 2; v. 28. 9. 59 - III ZR 75/58, VersR 1960, 60; v. 20. 6. 60 - III ZR 127/59, VersR 1960, 951; BGHZ 37, 113; v. 30. 9. 69 - VI ZR 54/68, DAVorm. 70, 10; v. B. 3. 77 - VI ZR 142/75, VersR 1977, 622). Danach soll der Umstand, daß das Gericht erst nach Fristablauf entscheidet, nur dann einen Fall höherer Gewalt darstellen, wenn der Berechtigte alles in seinen Kräften Stehende getan hat, um eine rechtzeitige Bewilligung des Armenrechts zu erreichen und damit eine Klageerhebung noch vor Ablauf der Verjährung zu ermöglichen. Diese Voraussetzungen waren hier nicht erfüllt. Denn die Beklagte, die ihren Sitz in Hamburg hat, hatte schon mit Schriftsatz vom 26. November 1974 die örtliche Zuständigkeit des vom Kläger zum Zwecke der Armenrechtsbewilligung angerufenen Landgerichts Lübeck gerügt. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers stellte jedoch erst am 19. Februar 1975, also mehr als zwei Monate später, beim Landgericht Lübeck den Antrag, das Armenrechtsverfahren an das Landgericht Hamburg abzugeben. Nach dieser vom Kläger oder seinen Anwälten zu vertretenden Verzögerung konnte mit einer Entscheidung des Landgerichts Hamburg bis zum 4. März 1975 nicht mehr gerechnet werden.
An der Auffassung, die Verjährung werde nur gehemmt, wenn die unbemittelte Partei so frühzeitig das Armenrecht beantrage, daß darüber bei gewöhnlichem Geschäftsgang des Gerichts noch innerhalb der Verjährungsfrist entschieden und Klage erhoben werden können, kann jedoch nicht festgehalten werden.
Im Bereich des Rechtsschutzes gebietet es der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten weitgehend anzugleichen (BVerfGE 9, 124, 131; 10, 264, 270). Der unbemittelten Partei darf daher die Rechtsverfolgung und -verteidigung im Vergleich zur bemittelten nicht unverhältnismäßig erschwert werden (BVerfGE 2, 336, 340; 9, 124, 130, 131). Daraus hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem hergeleitet, daß es gegen Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG verstoße, im Zivilprozeß einem unbemittelten Rechtsmittelkläger, der nach Bewilligung des Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag (§ 234 Abs. 1 ZPO) versäumt hat, keine Wiedereinsetzung zu gewähren (BVerfGE 22, 83).
Nach Ansicht des Senats sind diese Grundsätze auch im vorliegenden Falle anzuwenden; sie erfordern es, die Hemmung der Verjährung auch dann eintreten zu lassen, wenn ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch zwar noch innerhalb der Verjährungsfrist, aber so spät - unter Umständen noch am letzten Tag - eingereicht wird, daß darüber vor Fristablauf nicht mehr entschieden werden kann.
Die gegenwärtige Rechtspraxis benachteiligt die unbemittelte Partei und führt außerdem zur Rechtsunsicherheit im Einzelfall: Einer bemittelten Partei steht der volle Zeitraum, in dem die Verjährung läuft, für außergerichtliche Verhandlungen und zur Vorbereitung der Klage zur Verfügung, da sie noch am letzten Tage der Frist die Verjährung durch Klageerhebung oder eine gleichstehende Maßnahme (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 n.F. ZPO) unterbrechen kann. Für die unbemittelte Partei führt dagegen die Verpflichtung, im Armenrechtsgesuch eine vollständige Sachdarstellung zu geben (BGH, Urt. v. 27. 11. 1959 - VI ZR 112/59, LM BGB § 203 Nr. 6) und das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen, daß darüber innerhalb der Verjährungsfrist entschieden werden kann, zu einer Verkürzung dieser Frist. Ebenso schwerwiegend wie dieser Nachteil ist die Unicherheit, mit der die arme Partei belastet wird. Dies gilt zunächst für die Pflicht, das Armenrecht so rechtzeitig zu beantragen, daß wirklich vor Ablauf der Verjährung darüber entschieden werden kann (BGHZ 17, 199, 202). Damit wird von der armen Partei eine Prognose verlangt, die sie nicht zuverlässig stellen kann, weil sie nicht alle Umstände kennt, die den Gang des Verfahrens beeinflussen werden. Die unbemittelte Partei ist daher dem Risiko ausgesetzt, nachträglich gesagt zu bekommen, sie habe das Armenrechtsgesuch nicht „rechtzeitig" eingereicht. Von Unsicherheit geprägt ist auch die Bestimmung des Zeitpunkts für den Beginn der Hemmung. Nach der hierfür verwendeten Formel tritt die Hemmung der Verjährung in dem Augenblick ein, in dem der Kläger bei sachgemäßer Behandlung eine Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch erwarten konnte (BGHZ 17, 202; 37, 113, 122). Der Beginn der Verjährungshemmung und damit auch ihre Dauer hängen danach von dem unbestimmten, verschiedener Deutung zugänglichen Begriff der „sachgemäßen" Behandlung des Armenrechtsverfahrens ab.
...
Deshalb ist nach Auffassung des Senats bei verfassungskonformer Anwendung des § 203 Abs. 2 BGB eine Partei durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung verhindert, wenn sie am Tage des Ablaufs der Verjährungsfrist infolge Armut keine Klage erheben kann, aber spätestens in diesem Zeitpunkt das zur Behebung des Hindernisses notwendige Armenrechtsverfahren durch ein ordnungsgemäß begründetes und vollständiges Armenrechtsgesuch eingeleitet hat. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dann tritt die Hemmung der Verjährung ein, und sie dauert grundsätzlich fort, bis die arme Partei nach der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch bei angemessener Sachbehandlung in der Lage ist, ordnungsgemäß Klage zu erheben. Eine solche Regelung widerspricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn des Gesetzes. Sie belastet auch nicht den Schuldner der unbemittelten Partei in unangemessener Weise. Die dadurch in der Regel eintretende Verlängerung der Verjährungsfrist hält sich in vertretbarem Rahmen, und der Schuldner erfährt zur gleichen Zeit wie bei Klageerhebung von der beabsichtigten Rechtsverfolgung und kann sich darauf einstellen.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß die mit der Klage geltend gemachte Schadensersatzforderung nicht verjährt ist. Das Armenrechtsgesuch ist, da es am letzten Tage der Verjährungsfrist dem Gericht vorlag, rechtzeitig gestellt. Dem Kläger - der seine Armut glaubhaft gemacht hatte - sind auch im weiteren Verlauf des Armenrechtsverfahrens keine Umstände, die eine Verzögerung der Armenrechtsentscheidung nach sich gezogen haben, als Verschulden mit der Folge anzurechnen, daß von höherer Gewalt im Sinne von § 203 Abs. 2 BGB nicht mehr gesprochen werden könnte.
Der Umstand, daß der Kläger nicht sogleich beim Landgericht Lübeck beantragt hat, das Verfahren an die Kammer für Handelssachen des Landgerichts Hamburg abzugeben, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen. Nach § 96 Abs. 1 GVG ist der Kläger nicht verpflichtet zu beantragen, daß der Rechtsstreit vor der Kammer für Handelssachen verhandelt werden solle.
Schließlich ist die Klage auch rechtzeitig nach Abschluß des Armenrechtsverfahrens erhoben worden. Das Armenrecht wurde dem Kläger durch Beschluß des Berufungsgerichts vom 18. August 1975 endgültig versagt. Eine Ausfertigung dieses Beschlusses ging am 21. August 1975 an die Anwälte des Klägers ab. Mit Schriftsatz vom 1. September 1975, der bei Gericht am 2. September eingegangen ist, hat der Kläger Klage erhoben. Diese ist am 4. September 1975 zugestellt worden. Der Kläger hat also spätestens zwei Wochen, nachdem er von dem negativen Ausgang des Armenrechtsverfahrens Kenntnis erlangt hatte, die Klage eingereicht. In Anwendung des Rechtsgedankens von § 234 Abs. 1 ZPO ist der Partei nach Kenntnis vom Abschluß des Armenrechtsverfahrens ebenfalls eine zumindest zweiwöchige Frist zur Vorbereitung der Klage zuzubilligen. Ob diese im Einzelfall überschritten werden darf, braucht hier nicht entschieden zu werden.
Aus all dem folgt, daß die Verjährung des Schadensersatzanspruchs des Klägers bis zur Erhebung der Klage gehemmt war. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Ein Grund zur Vorlage dieser Sache an den Großen Senat für Zivilsachen bestand nicht. Der III. und der Vl. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes haben auf Anfrage erklärt, daß sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung nicht mehr festhalten."