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Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt
vom 8. Dezember 1993
283 P - 7/93
(ergangen auf Berufung gegen das streitige Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg vom 25. November 1991 - 1 E 1485/91)
Tatbestand und Verfahren:
Am 27. September 1990 haben Polizisten der Strompolizei von Neu-Breisach bei einer allgemeinen Streife auf dem Großen Canal d’Alsace im Hafen Ottmarsheim (Haut Rhin) von ihrem Boot aus die MS "J", die im Hafen auf das Beladen wartete, kontrolliert. Bei der Kontrolle stellten die Gendarmen fest, dass die Besatzung nicht der im Bordbuch eingetragenen Betriebsart „B“ entsprach, denn statt der vorgeschriebenen zwei Besatzungsmitglieder mit Patent und zwei Matrosen befanden sich, wie festgestellt, nur ein Mitglied mit Patent und ein Matrose an Bord, dass die zulässige Fahrtzeit nach den Aufzeichnungen im Bordbuch mehrfach überschritten worden war und dass das Dienstbuch des Bootsmanns seit dem 20. Juni 1990 keine Eintragungen mehr aufwies. Bei der Vernehmung gab „PM“ die Fakten zu und nach Verlesen und Übersetzen seiner Erklärung ins Deutsche, Sprache, die er spricht, unterschrieb er im Protokollbuch.
Die Vorladung des Beschuldigten vom 24. Oktober 1990 zu der Verhandlung vor dem Rheinschlifffahrtsgericht Straßburg am 27. Mai 1991, 14.30 Uhr, 45 rue du Fossé-des-Treizes, Straßburg, Zimmer 100 wurde der Staatsanwaltschaft am 19. Dezember 1990 durch Gerichtsboten zugestellt.
Diese Vorladung wurde ebenfalls unter dem Datum 24. Oktober 1990 in französischer und auch in niederländischer Sprache durch die Staatsanwaltschaft Straßburg dem Officier Van Justitie der Staatsanwaltschaft Rotterdam zur Zustellung an den Beschuldigten am 24. Oktober 1990 übermittelt, offensichtlich ohne Folgen, sodann am 31. Dezember 1990, Eingang bei der Staatsanwaltschaft Rotterdam am 8. Januar 1991 und Zustellung am Wohnort des Beschuldigten am 25. Januar 1991 zu Händen eines Dritten und nicht von "PM".
Weil der Beschuldigte zu der Verhandlung am 27. Mai 1991 nicht erschien und da der Nachweis nicht erbracht werden konnte, dass der Beschuldigte von dieser Vorladung Kenntnis hatte, wurde H. P. „PM“ durch das Rheinschifffahrtsgericht Straßburg am 27. Mai 1991 in Abwesenheit zu einer Geldstrafe von 3.000 FF so wie zur Erstattung der Prozesskosten an die Staatskasse verurteilt, weil er die MS "J" mit unvollständiger Besatzung und ohne die Bestimmungen bezüglich der Ruhezeiten der Besatzung einzuhalten hatte fahren lassen, Tatbestände, die unter Artikel 1.08 Rheinschifffahrtspolizeiverordnung und 14.03 Rheinschiffsuntersuchungsordnung fallen und nach Artikel 32 Mannheimer Akte geahndet werden.
Da es sich bei dem Beschuldigten um jemanden handelt, der im Ausland wohnt, wurde die Zustellung des Urteils an den Beschuldigten am 24. Juli 1991 durch Zustellung durch einen Gerichtsvollzieher an den Oberstaatsanwalt beim großinstanzlichen Gericht (entspr. Landgericht) Straßburg vorgenommen.
Die Strompolizei Straßburg entdeckte H. P. „PM“ am 17. September 1991 an Bord der im Hafen Straßburg liegenden "J", teilte ihm den Inhalt des Versäumnisurteils vom 27. Mai 1991 mit, nahm die Aussage des Beschuldigten auf, der Widerspruch einlegte und setzte den Betroffenen davon in Kenntnis, dass in der Sache erneut bei einem auf Montag, den 25. November 1991, 14.30 Uhr, in Raum 100 im Rheinschifffahrtsgericht, 45 rue du Fossé-des-Treize, Straßburg anberaumten Verhandlungstermin geurteilt werde.
Das Gericht entschied am 25. November 1991 in Anwesenheit des Beschuldigten und eines Dolmetschers.
Der Beschuldigte verlangt in seinem Berufungsantrag von der Berufungskammer "Freispruch für Herrn „PM“ von gerichtlicher Verfolgung". Er vertritt die Ansicht, dass sowohl das nicht zugestellte Urteil vom 25. November 1991 als auch dasjenige vom 27. Mai 1991 ungültig sind, ersteres mit der Begründung, dass das Strafmaß, da H. „PM“ zu der Verhandlung nicht erschienen war, nicht hätte erhöht werden dürfen, ohne die Bestimmungen von Artikel 494-1 Strafprozessordnung (und nicht wie im Schriftsatz erwähnt 499) zu missachten und dass das Gericht seine Entscheidung in besagtem Urteil nicht besonders begründet habe, das zweite mit der Begründung, dass es ergangen sei ohne ordnungsgemäße Ladung, denn in dieser, die vom 19. Dezember 1990 gewesen sei (und nicht wie im Schriftsatz zu lesen vom 19.10.1990) sei der Ort des Gerichtes nicht angegeben gewesen. Im Übrigen ist der Berufungskläger der Meinung, dass das Urteil vom 25. November 1991, vorausgesetzt es ist gültig, für ungültig zu erklären ist, denn, mangels ordnungsgemäßer Veröffentlichung der auf Beschluss der Zentralkommission vom 16. Mai 1975 erstellten Rheinschiffsuntersuchungsordnung im nationalen Hoheitsgebiet und gemäß den Bedingungen des Dekrets vom 14. März 1953, lassen sich die Bestimmungen von Artikel 32 Mannheimer Akte darauf nicht anwenden, da es keinen Verstoß gegen Artikel 32 gibt. Schlussendlich ist der Beschuldigte der Auffassung, dass eine Veröffentlichung dieses Beschlusses unter Bedingungen, die nicht dem Dekret vom 14. März 1953 entsprechen, unrechtmäßig ist und gegen Artikel CIX der Schlussakte vom 9. Juni 1815 (und nicht 1955 wie im Schriftsatz) des Wiener Kongresses und gegen Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.
Die Staatsanwaltschaft macht in ihrem Antrag geltend, dass die Berufung nicht zulässig ist, da über vier Monate vom Datum des streitigen Urteils vom 25. November 1991 bis zum Datum der Berufung vom 8. April 1992 vergangen sind und damit die in Artikel 37, Abs. 2 Mannheimer Akte genau festgelegte Frist von 30 Tagen überschritten wurde, die am 27. Dezember abgelaufen war. Die Staatsanwaltschaft besteht darauf, dass die weitere Argumentation des Berufungsklägers gegenstandslos ist, und dass, insbesondere bezüglich der Verschärfung des Strafmaßes, das Urteil in Anwesenheit des Beschuldigten gefällt wurde. Und sie beantragt die Unzulässigkeit der Berufung, weil sie nicht mit Artikel 37 - Abs.2 - übereinstimmt.
Zulässigkeit der Berufung:
In Artikel 37 § 2 Revidierte Mannheimer Akte ist für die Berufung gegen ein Urteil, die vor der Zentralkommission einzulegen ist, eine Berufungsfrist von dreißig Tagen festgelegt.
Laut Artikel 498 französische Strafprozessordnung läuft die Frist für die Berufung gegen ein in Anwesenheit des Beschuldigten ausgesprochenes streitiges Urteil, wie im vorliegenden Fall, ab dem Datum der Verkündung.
Laut Artikel 37 § 2 Mannheimer Akte, die Vorrang vor nationalem Recht hat, läuft die dreißigtägige Berufungsfrist ab der rechtmäßig nach den jeweiligen Landesbestimmungen erfolgten Zustellung des Urteils.
Die Berufungskammer ist der Ansicht, dass die alleinige Verkündung der Urteils in Anwesenheit des Beschuldigten gemäß Artikel 498 französische StPO nicht als Zustellung im Sinne von Artikel 37 § 2 der genannten Akte gelten kann, da weder aus dem Urteil noch aus den der Kammer vorliegenden Prozessunterlagen ersichtlich ist, dass der Verurteilte bei der Urteilsverkündung hinreichend über die Berufungsbedingungen informiert wurde; diese Informationen sind nach französischem Recht im Übrigen bei der Zustellung von Urteilen durch Gerichtsboten zu erteilen, erst dann liegt eine formgerechte Bewirkung vor.
In der Strafsache „KK“ auf Berufung gegen ein Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort (Nr. 85 P vom 31. Mai 1978), war von der Berufungskammer bereits in dem Sinne geurteilt worden, dass die Berufungsfrist gemäß Artikel 37 § 2 Mannheimer Akte erst ab der Zustellung ("Insinuation") des Urteils läuft (siehe auch Zivilsache Nr. 24 Z - 2/74 vom 7. Mai 1974).
Aus dem zuvor Gesagten geht hervor, dass bei nicht erfolgter Zustellung eines Urteils die Berufungsfrist nicht anlaufen kann.
Aus den Aktenunterlagen geht nicht hervor, dass das Urteil vom 25. November 1991 H. „PM“ überbracht worden ist, was der Beschuldigte in seinem Berufungsantrag auch so darstellt, so dass die Berufungsfrist nicht angelaufen ist. Die Staatsanwaltschaft geht also zu Unrecht davon aus, dass die Berufung, weil die 30 Tage nicht eingehalten wurden, unzulässig sei.
Erfüllt die dem Rheinschifffahrtsgericht "gegen Quittung" zugestellte Berufungserklärung die Bestimmungen von Artikel 37 § 2 Mannheimer Akte oder die französischen Strafprozessregeln für Strafverfahren vor der Zentralkommission?
Laut Rechtsprechung der Berufungskammer (Urteil Morgenroth 120 S - 3/81 vom 27. Februar 1981) kann die Berufung entweder in Form der Zustellung durch Gerichtsboten wie in Artikel 37 – Abs. 2 – Mannheimer Akte festgelegt oder in Form der innerstaatlichen Regelung in diesem Fall durch Erklärung in der Gerichtskanzlei gemäß den Bedingungen der Artikel 502 und 547 französische Strafprozessordnung erfolgen.
In dem vorliegenden Fall wurde weder nach der einen noch nach der anderen Regelung verfahren.
Unter den Belegen der Prozessakte gibt es keinen über die Zustellung der Berufungserklärung durch Gerichtsboten am 8. April 1992.
Die Berufungserklärung gegen Quittung vom 8. April 1992 trägt den Stempel des Tribunal d’Instance (Amtsgericht) Straßburg mit dem Datum 10. April 1992 ohne Unterschrift sowie den Eintrag "Schriftsatz, zugestellt an den Oberstaatsanwalt gegen Quittung am 8. April 1992", danach folgt eine unleserliche Unterschrift. Die infolge seiner Berufung am 14. Mai 1992 erfolgte Übergabe der Akte H. „PM“ an den Oberstaatsanwalt Straßburg durch den Gerichtskanzler des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg trägt den Vermerk "bis zu diesem Datum wurde in dem Berufungsregister der Gerichtskanzlei keine Berufung eingetragen" und lässt, da keine Quittung vorliegt, vermuten, dass die Berufungserklärung im Tribunal d’Instance abgegeben wurde, denn der Oberstaatsanwalt erkennt in seinem Antrag vom 18. Mai 1992 die Berufung vom 8. April 1992 an. Hingegen wurde die Erklärung nicht wie in den Artikeln 502 und 547 französische StPO vorgeschrieben in der Gerichtskanzlei abgegeben.
Diese Kammer urteilte in den Sachen „R“ (260 P - 9/92 vom 10. Dezember 1992) und „VI“(261 P - 10/92 vom 10. Dezember 1992) dass weder in den französischen Strafprozessbestimmungen die Berufung gegen ein Urteil des Tribunal de Police (Strafgericht für Bagatellsachen, vergleichbar dem Strafrichter am Amtsgericht, d. Ü.) betreffend noch in den namentlich in Artikel 37 enthaltenen Vorschriften der Mannheimer Akte von einer durch einfache Quittierung festgestellten Berufung die Rede ist und dass die ausdrücklich in Artikel 37 vorgeschriebene Zustellung nicht der Initiative des Berufungsklägers überlassen bleiben darf, sondern die Einschaltung eines Gerichtsboten erfordert.
Aus dem zuvor Gesagten geht hervor, dass die von H. „PM“ eingelegte Berufung nicht vorschriftsmäßig erfolgte und somit laut Absatz 4 des Artikels 37 Mannheimer Akte für nichtig zu erklären ist, ohne dass in der Sache zu prüfen ist.
Aus diesen Gründen
erklärt die Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt die Berufung von „PM“ gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg vom 25. November 1991 für nichtig.
Sie verurteilt „PM“ zur Zahlung der Kosten für die Berufungsinstanz
und bestimmt, dass diese Kosten gemäß Artikel 39 Revidierte Rheinschifffahrtsakte durch das Rheinschifffahrtsgericht Straßburg festgelegt werden.