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Leitsätze:
1) Ein Schiffsführer kann bei der Vorbeifahrt an einem an erlaubter Stelle stilliegenden Schiff davon ausgehen, daß es ordnungsgemäß gegen die Beeinflussung durch normalen Wellenschlag, Druck und Sog anderer Schiffe befestigt ist. Diese Vermutung gilt jedoch dann nicht, wenn Mängel der Befestigung des stilliegenden Schiffes erkennbar sind. Ist die Situation erkennbar gefährlich, muß die durchgehende Schiffahrt nach § 6.20 Nr. 1 RheinSchPVO ihre Geschwindigkeit noch weiter bis zu dem Maß herabsetzen, daß allein die Fähigkeit zur sicheren Steuerung gewährleistet bleibt.
Zur Vermeidung von Unklarheiten bei einer etwaigen Zwangsvollstreckung muß die Besonderheit der Haftung im Binnenschiffahrtsrecht im Urteilstenor zum Ausdruck gebracht werden. Die bloße rechtliche Feststellung einer gesamtschuldnerischen Haftung für den ausgeurteilten Betrag genügt nicht.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 13.5.1993
282 Z - 4/93
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar)
Zum Tatbestand:
Die Klägerin ist Eigentümerin einer in Koblenz am linken Rheinufer gelegenen Landebrücke. Die Beklagte zu 1 ist Eignerin des MTS „Jean", das vom Beklagten zu 2 als Steuermann geführt worden ist. Streithelferin der Klägerin ist die Eignerin des MFS „Frankonia", das am 13. 10. 1989 an der Landebrücke der Klägerin festgemacht hatte. Als das Fahrgastschiff im Begriff war, loszumachen, und nur noch in Höhe seiner Einstiegsstelle an der Landebrücke befestigt war, passierte zu Berg fahrend MTS „Jean" beladen mit 1535 t. Bei der Vorbeifahrt des Motortankschiffes gerieten MFS „Frankonia" und die Landebrücke der Klägerin in Bewegung. Die Ketten der Landebrücke rissen. Die Brücke wurde stromab getrieben und beschädigt.
Die Klägerin hat behauptet, die Besatzung des MFS „Frankonia" habe das Ablegemanöver ordnungsgemäß durchgeführt, insbesondere mit wechselndem Maschineneinsatz die verstärkt auf die Verbindung zu der Landebrücke wirkenden Kräfte entlastet. MTS „Jean" habe mit voller Fahrt voraus MFS „Frankonia" in einem' Abstand von nur 10 m passiert, obwohl das Revier frei gewesen sei. Dieses Schiff habe infolge seiner Geschwindigkeit eine so große Bugwelle erzeugt, daß der Sog einen halben Meter Wasser unter dem Motorfahrgastschiff weggezogen habe. Als das Heck des Motortankschiffes „Frankonia" eben passiert gehabt habe, seien die Ketten, mit denen die Landebrücke an Land befestigt gewesen sei, gebrochen.
Die Beklagten haben die Darstellung der Klägerin bestritten und ausgeführt, MTS „Jean" sei weder mit voller Kraft noch zu nahe an MFS „Frankonia" vorbeigefahren. Der Abstand habe 20 m betragen. Die Maschine von MTS „Jean" habe 320 Umdrehungen/ Minute von möglichen 380 Umdrehungen/ Minute geleistet. „Jean" könne keinen so starken Sog und Wellenschlag verursacht haben, daß die Landebrücke dadurch in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Der Schaden sei vielmehr darauf zurückzuführen, daß MFS „Frankonia" im Zeitpunkt der Vorbeifahrt nicht mehr ordnungsgemäß festgemacht gewesen sei. Der Schiffsführer des MFS „Frankonia" habe das Ablegemanöver nicht ordnungsgemäß geleitet. Das Personenboot sei nur noch an der Landebrücke gemeert gewesen, sei deshalb von der Strömung talwärts getrieben worden und habe dabei die Landebrücke mitgenommen.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat der Schadensersatzklage stattgegeben. Die Berufung hatte in der Sache keinen Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
„Die in formeller Hinsicht nicht zu beanstandende Berufung der Beklagten konnte in der Sache keinen Erfolg haben, jedoch war die Haftung der Beklagten für den ausgeurteilten Betrag klarzustellen.
1. Mit Recht hat das Rheinschiffahrtsgericht angenommen, daß der Beklagte zu 2 durch einen Verstoß gegen § 6.20 Nr. 1 RheinSchPVO den Schaden der Klägerin schuldhaft herbeigeführt hat. Nach dieser Vorschrift müssen Fahrzeuge ihre Geschwindigkeit so einrichten, daß Wellenschlag oder Sogwirkung, die Schäden an stilliegenden oder in Fahrt befindlichen Fahrzeugen oder Schwimmkörpern oder an Anlagen verursachen können, vermieden werden. Sie müssen ihre Geschwindigkeit rechtzeitig vermindern, jedoch nicht unter das Maß, das zu ihrer sicheren Steuerung notwendig ist, und zwar nach lit. b) in der Nähe von Fahrzeugen, die am Ufer oder an Landebrücken festgemacht sind oder die laden oder löschen.
Es kann auf sich beruhen, ob die Befestigung des MFS „Frankonia" zur Zeit der Vorbeifahrt des Tankmotorschiffes der Beklagten zu 1 als schiffahrtsüblich zu beurteilen ist, als man im Begriff war, abzulegen. Ebenso bedarf es keines Eingehens auf die Frage, wie lange ein Personenboot an einem Steiger ohne weitere Sicherungsmaßnahmen bloß gesichert durch Taue eventuell mit Maschinenhilfe liegen darf, bis erwartete Fahrgäste ankommen und an Bord gehen. Denn nach den hier gegebenen Umständen lag es für den Beklagten zu 2 nicht außerhalb jeglicher Erfahrung, daß durch die Vorbeifahrt des MTS „Jean" an MFS „Frankonia" in einem Abstand von 15 bis 20 m mit einer unverminderten Geschwindigkeit, die etwa der Hälfte der Maschinenleistung des sehr großen Tankmotorschiffes entsprach, an der Landebrücke der Klägerin Schaden entstand. Zwar kann ein Schiffsführer, für den hier der Beklagte zu 2 als der für die Schiffsführung verantwortliche Steuermann steht, bei der Vorbeifahrt an einem stilliegenden Schiff davon ausgehen, daß ein an erlaubter Stelle stilliegendes Schiff auch ordnungsgemäß gegen die Beeinflussung durch normalen Wellenschlag, Druck und Sog anderer Schiffe befestigt ist. Diese Vermutung gilt jedoch dann nicht, wenn Mängel der Befestigung des stilliegenden Schiffes erkennbar sind. Wie Wassermeyer (Kollisionsprozeß, 4. Aufl. S. 248) bereits mit Recht betont hat, darf in einem solchen Fall die durchgehende Schiffahrt nicht auf ihr besseres Recht pochend einfach so fahren, als ob die Festlegung ordnungsgemäß sei. Ist die Situation erkennbar gefährlich, muß die durchgehende Schiffahrt ihre Geschwindigkeit noch weiter bis zu dem Maß herabsetzen, daß allein die Fähigkeit zur sicheren Steuerung gewährleistet bleibt. Diese Grundsätze hat der Beklagte zu 2 nicht beachtet.
Nach der Darstellung der Beklagten über die ihrer Ansicht nach notwendige Befestigung des Personenbootes im Zeitpunkt der Vorbeifahrt hätten ein Buganker ausgebracht, ein Vorausdraht und Beidrähte an Land befestigt sein müssen. Eine derartige Befestigung des Personenbootes fehlte unstreitig. Der Beklagte zu 2 hätte rechtzeitig vor der Vorbeifahrt sehen können, daß MFS „Frankonia" auf die von den Beklagten angeführte Weise nicht befestigt war. Der Beklagte zu 2 hat dazu auch bei seiner Vernehmung im Bußgeldverfahren ausdrücklich - angegeben, bei der Passage habe er deutlich gesehen, daß „Frankonia" „nur am Steiger und nicht noch zusätzlich mit Leinen an Land festgemacht war". Der Beklagte zu 2 hat der Befestigung des Personenbootes jedoch keine Rechnung getragen und nicht seine Fahrweise darauf abgestellt. Der Beklagte zu 2 hätte bei Beachtung der gebotenen nautischen Sorgfalt, wenn er schon infolge der Stromverhältnisse dicht am Ufer an einem stilliegenden Personenboot vorbeifahren wollte, erwägen müssen, daß die für ihn sichtbare Befestigung des Personenbootes an dem Steiger gefährlich war, wenn er mit einer der Hälfte seiner Maschinenleistung entsprechenden Geschwindigkeit vorbeifuhr und seine Geschwindigkeit nicht auf das Maß herabsetzte, das zur sicheren Steuerung seines Schiffes notwendig war.
Der Schaden wäre vermieden worden, hätte der Beklagte zu 2 die Geschwindigkeit seines Schiffes auf diesen Umfang vermindert. Das an der Landebrücke befestigte Personenboot wäre nicht von den Sog- und Druckkräften des zu Berg fahrenden Motortankschiffes mitgenommen worden und hätte nicht durch seine Hebelwirkung die an Land befestigten Ketten der Landebrücke abgerissen, so daß das Personenboot samt der Landebrücke abriß. Es liegt bei dieser Sachlage innerhalb des Zurechnungszusammenhanges, wenn der Beklagte zu 2 die Landebrücke der Klägerin abriß.
Bei der geschilderten Sachlage ist der Beklagte zu 2 als verantwortlicher Steuermann des TMS „Jean" für den von ihm adäquatkausal verursachten Schaden der Klägerin nach den §§ 823, 249 BGB, § 6.20 RheinSchPVO verantwortlich. Er hat die im Schiffsverkehr gebotene nautische Sorgfalt durch seine Fahrweise außer acht gelassen.
2. Für den Schaden, den der Beklagte zu 2 der Klägerin zugefügt hat, ist nach § 3 BinSchG die Beklagte zu 1 als Eignerin ebenfalls verantwortlich. Der Umfang dieser Haftung wird durch § 4 Abs. 1 Nr. 3 BinSchG bestimmt. Danach haftet ein Schiffseigner nicht persönlich, sondern nur mit Schiff und Fracht. Aufgrund der beschränkt- dinglichen Haftung kann der Gläubiger seine Befriedigung nur aus Schiff und Fracht suchen, nicht aus dem sonstigen Vermögen des Schiffseigners; denn eine persönliche Verpflichtung, die Schiffsschuld zu bezahlen, tritt nur in den Ausnahmefällen der §§ 112 —115 BinSchG ein. Dem hat das Rheinschiffahrtsgericht nicht hinreichend Ausdruck verliehen. Aus § 114 BinSchG, den das Rheinschiffahrtsgericht ohne nähere Begründung angezogen hat, ergibt sich nicht, daß die Haftung beider Beklagten rechtlich einen völlig gleichen 'Umfang hat. Nach dieser Vorschrift haftet vielmehr ein Schiffseigner, der sein Schiff in Kenntnis von Forderungen eines Schiffsgläubigers zu neuen Reisen aussendet, für die Forderung, für die er an sich nur dinglich mit seinem Schiff und der Fracht haftet, in Höhe des Betrages auch persönlich, der sich für den Gläubiger ergeben hätte, falls der Wert, den das Schiff bei Antritt der Reise hatte, unter die Schiffsgläubiger nach der gesetzlichen Rangordnung verteilt worden wäre. Ist der Schiffswert gering, kann die beschränkt persönliche Haftung im Rahmen des Binnenschiffahrtsgesetzes geringer sein als die des unmittelbar persönlich haftenden schuldigen Besatzungsmitglieds.
Daraus folgt: Der Schiffsgläubiger muß zunächst darlegen, daß der verpflichtete Schiffseigner sein Schiff in Kenntnis des Unfalls und des Entstehens eines Schiffsgläubigerrechts zu neuen Reisen ausgesandt hat.
Dazu entbehrt der Vortrag der Klägerin an sich jeglichen Anhalts. Nach der Lebenserfahrung ist aber anzunehmen, daß die Beklagte zu 1 ihr Schiff selbstverständlich weiterbenutzt und damit zu neuen Reisen ausgesandt hat. Insoweit haben auch die Beklagten in der Berufungsinstanz nicht erinnert, so daß die Berufungskammer davon ausgehen konnte, daß die Voraussetzungen des § 114 BinSchG vorliegen. Es ist demnach von einer beschränkt-persönlichen Haftung im Rahmen dieser Vorschrift auszugehen, die neben die dingliche Haftung mit MTS „Jean" und die Fracht der Unfallreise tritt. Nur in diesem Rahmen haften beide Beklagten als Gesamtschuldner der Klägerin.
Zur Vermeidung von Unklarheiten bei einer etwaigen Zwangsvollstreckung muß die Besonderheit der Haftung im Binnenschifffahrtsrecht im Urteilstenor zum Ausdruck gebracht werden. Es genügt nicht die bloße rechtliche Feststellung einer gesamtschuldnerischen Haftung für den ausgeurteilten Betrag. Eine Interpretation des Urteilstenors aus den Entscheidungsgründen ist angesichts der rechtlichen Besonderheiten des Binnenschiffahrtsrechts und der weitgehen- den Unkenntnis der adjektizischen Haftung für die Vollstreckungsorgane nicht hinnehmbar.
Dementsprechend mußte der Tenor des angefochtenen Urteils klargestellt werden. Im übrigen mußte die Berufung als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kosten der Berufungsinstanz einschließlich der Kosten der Streithelferin der Klägerin haben die Beklagten als Gesamtschuldner in entsprechender Anwendung der §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 4, 101 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Aus den dargelegten Gründen wird für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung ihrer Berufung im übrigen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar vom 8. Januar 1992 wie folgt abgeändert:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, die Beklagte zu 1 lediglich dinglich haftend mit MTS „Jean" und im Rahmen des § 114 Binnenschiffahrtsgesetz auch persönlich haftend, an die Klägerin 7261,80 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 12. Januar 1991 zu zahlen ..."
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1993- Nr.12 (Sammlung Seite 1430 f.); ZfB 1993, 1430 f.