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Leitsätze:
1) Anscheinsbeweis für die Schuld eines anfahrenden Schiffes bei Anfahrung eines ordnungsmäßig befestigt stilliegenden Schiffes.
2) Zur Frage, wie lang Ankerketten eines Stilliegers im Rhein auszustecken sind und wie weit sie gespreizt verlaufen müssen, um Gierbewegungen äußerst einzuschränken.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 10. November 1983
153 Z-13/83
(Rheinschiffahrtsgericht DuisburgRuhrort)
Zum Tatbestand:
Ein der Klägerin gehörender Schubverband, bestehend aus dem Schubboot P und vier beladenen Leichtern, stieß am 11. Dezember 1979 gegen 6.30 Uhr bei Rhein-km 857 mit dem vorn backbords fahrenden Leichter S gegen den etwa 30 m außerhalb der Kribbenlinie des rechtsrheinischen Ufers liegenden Schubleichter M des Beklagten. Der auf 2,30 m abgeladene Leichter hing an 2 Bugankern; Heckanker fehlten. Linksrheinisch fuhr der Schubverband C zu Berg. Durch den Anprall wurden 2 Leichter losgerissen und gerieten, ebenso wie M, dessen Ankerketten rissen, ins Treiben. Das Schubboot trennte sich von den zwei verbliebenen Leichtern und drückte alle treibenden Leichter an einen Liegeplatz, wo der Verband neu zusammengestellt wurde.
Die Klägerin verlangt Ersatz ihres erlittenen Schadens von ca. 260 000 hfl. mit der Begründung, daß der Leichter M kurz vor der Kollision nach Backbord weggeriert und in den Kurs des Schubverbandes geraten sei. Dessen Führung habe die Maschine noch auf rückwärts gestellt und den Kurs nach Backbord verlegt, ohne den Zusammenstoß verhindern zu können. Die Gierbewegung von M sei auf seine zu lang ausgestellten Ankerketten zurückzuführen.
Der Beklagte hat demgegenüber vorgetragen, daß die Länge der ausgestellten und schräg auseinander gelaufenen Ankerketten 60 m betragen habe, wodurch größere Gierbewegungen ausgeschlossen gewesen seien. Tatsächlich habe M, auch nach Zeugenaussagen, mehrere Tage ruhig gelegen. Der Schubverband sei zu nahe an den ordnungsmäßig befestigt liegenden Leichter herangefahren.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung wurde kostenpflichtig zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
1. Liegt ein Schiff an erlaubter Stelle ordnungsgemäß befestigt still und wird es in dieser Lage von einem anderen Schiff oder einem Verband angefahren, so spricht für die Schuld der Besatzung des anfahrenden Schiffes oder Verbandes ein Beweis des ersten Anscheins. Dieser Grundsatz ist in der deutschen Rheinschiffahrtsgerichtsbarkeit allgemein anerkannt.
Im vorliegenden Falle sind die Voraussetzungen seiner Anwendung aus den folgenden Gründen gegeben.
a) Die Liegestelle von M ist vor Gericht nicht beanstandet worden. Der Leichter ist zudem in den Tagen vor der Havarie, die Gegenstand dieses Rechtsstreites ist, von 3 Beamten der Wasserschutzpolizei bei wiederholten Kontrollfahrten gesehen worden, ohne daß diese Anlaß sahen, seine Liegestelle zu beanstanden. Sie haben bei ihrer Vernehmung im Verklarungsverfahren erklärt, der Leichter habe ordnungsgemäß gelegen. Sein Liegeplatz schuf also keine Gefahr für die durchgehende Schiffahrt.
b) Auch die Befestigung des Schiffes durch seine beiden gesetzten Buganker schuf eine solche Gefahr nicht. Geht man davon aus, daß die Länge der ausgesteckten Ankerketten etwa 60 m betrug, so ergibt sich aus dem dem Rheinschifffahrtsgericht erstatteten Gutachten des Sachverständigen S., daß der Leichter aus der gestreckten Lage heraus nur bis zu 5 m nach Backbord oder Steuerbord gierte. Größere Gierbewegungen waren auch mit Rücksicht auf die seitlich etwa 20 m voneinander entfernt gesetzten Buganker selbst unter Windeinfluß nicht möglich. Das Gutachten besagt weiter, daß am Niederrhein ein stilliegender Leichter, der nur durch 2 Buganker gehalten wird, ordentlich befestigt ist, wenn deren Ketten auf 50 bis 60 m ausgesteckt sind. Größere Kettenlängen sind nur unter besonderen Umständen erforderlich, die nach der Ansicht des Sachverständigen bei M nicht gegeben waren. Aus diesen Darlegungen, welche die Berufungskammer übernimmt, ist zu schließen, daß der wie geschildert befetigte Leichter auch mit Rücksicht auf seine Verankerung keine Gefahr für die durchgehende Schiffahrt bildete, denn Gierbewegungen bis zu 5 m sind deshalb ungefährlich, weil sie innerhalb des seitlichen Sicherheitsabstandes erfolgen, den die durchgehende Fahrt zu stillliegenden Einheiten halten muß.
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Der Sachverständige W. kommt zu dem Ergebnis, daß M, der unter 50 bis 60 m langen Ketten gelegen habe, seitliche Gierbewegungen von 30 m habe machen können. Um sie zu verhindern, habe entweder ein Heckanker gesetzt werden oder der Leichter habe in ein Päckchen von Schiffen so gelegt werden müssen, daß die Buganker der bei ihm liegenden Schiffe wie eigene Heckanker gewirkt hätten.
Zu diesen Ausführungen erklärt die Berufungskammer:
Die Ausrüstung von Schubleichtern mit Heckankern ist nicht vorgeschrieben (vergleich vorübergehende Vorschriften über § 7.01 Ziffer 2 RhSch-UO, in Deutschland in Kraft gesetzt durch Verordnung der Wasser- und Schiffahrtsdirektionen West und Südwest vom 15. Februar 1979). Ebensowenig ist vorgeschrieben, daß sie nur in Päckchen abgelegt werden dürfen. Wenn M also keine Heckanker hatte und nicht in einem Päckchen lag, so ist das allein nicht vorwerfbar. Die Ansicht des Sachverständigen W., M habe bei der Länge seiner Ankerketten unter den zur Unfallzeit herrschenden Windverhältnissen Gierbewegungen bis zu 30 m seitwärts machen können, ist das Ergebnis theoretischer Erwägungen. Der Sachverständige weiß nämlich nicht, wie weit die Ankerketten gespreizt verliefen und ob, sowie inwieweit sie lose hingen. Von beiden Faktoren hängt aber seiner Ansicht nach die Fähigkeit von M zu Gierbewegungen ab. Seine Feststellung, Bewegungen von 30 m seien möglich gewesen, hat deshalb keine hinreiche Grundlage. Sein Gutachten zeigt weiter, daß sich nicht exakt bestimmen läßt, wie lang die ausgelegten Ankerketten sein müssen und wieweit sie gespreizt zu verlaufen haben, um die Möglichkeit von Gierbewegungen des Schiffes äußerst einzuschränken. Richtige Länge der Ankerketten und ihre richtige Spreizung sind nach seiner Ansicht das Ergebnis eines Kompromisses, der die Verhältnisse - Wasserströmung, Wassertiefe, Wind und Ankergrund - berücksichtigt. Diese Ansicht ist zweifellos richtig. Sie zeigt aber auch, daß eine Verankerung eines stilliegenden Schiffes vorliegend dann als fehlerhaft bezeichnet werden kann, wenn sie bewiesenermaßen zu Gierbewegungen geführt hat, die eine Gefahr für die durchgehende Schiffahrt bildeten oder gar zu einem Schiffszusammenstoß geführt haben. Dieser Beweis ist eher im vorliegenden Falle nicht geführt worden, wie an anderer Stelle dargelegt wird. Zusammenfassend erscheint deshalb das Gutachten des Sachverständigen S., daß auch auf die Üblichkeit der Befestigung stilliegender Leichter auf dem Niederrhein abstellt, durch dasjenige des Sachverständigen W. nicht widerlegt.
c) Nur ist allerdings die Kettenlänge umstritten, von welcher der Sachverständige ausgegangen ist. Sie ist aber richtig, da die folgenden Gründe für eine Kettenlänge von etwa 60 m sprechen. Da die Ketten unter Einfluß der Havarie gerissen sind, ist ihre ausgesteckte Länge dadurch zu berechnen, daß man die Länge der Kettenteile, die am Leichter bzw. an den Ankern hingen, zusammenrechnet, soweit die Länge dieser Teile feststeht. Das ist aber nur mit Einschränkungen der Fall. Zwar geht aus dem Interventionsbericht des Sachverständigen K. vom 15. Dezember 1979 hervor, daß der Experte L. am 11. Dezember 1979 an Bord von M festgestellt hat, daß die ausgesteckte Kette des Backbordankers bei 3 m gerissen war, während der Riß der Steuerbordankerkette bei 28 bis 30 m Kettenlänge lag. Der Interventionsbericht K. ist zwar nicht im gerichtlichen Auftrag erstattet worden. Es spricht aber nichts für die Unrichtigkeit der genannten Feststellung. Die Berufungskammer hält sie deshalb für zutreffend.
Leider fehlen ähnlich präzise Feststellungen der Länge der an den geborgenen Ankern hängenden Kettenteile. Der im Verklarungsverfahren gehörte Bakenmeister H. war bei der Bergung eines Ankers anwesend. Er weiß aber nicht, ob es der Backbord- oder der Steuerbordanker von M war. Nach der Länge der an dem Anker hängenden Kette „hat er sich erkundigt" und die Auskunft erhalten, sie habe 50 bis 60 m betragen. Aus eigenem Wissen konnte der Zeuge zur Länge nichts sagen. Es soll aber davon ausgegangen werden, daß die ihm erteilte Auskunft richtig war.
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Einen sicheren Schluß dieser Art läßt auch der „Rapport van Expertise" der Sachverständigen K. und P. vom 6. Oktober 1980 nicht zu. Hier ist zwar von „geborgen anker met ongeveer 53 meter ketting" die Rede und gemeint sind damit die beiden geborgenen Anker von M. Es sieht aber nicht so aus, als ob die Sachverständigen hiermit eine präzise Feststellung hätten treffen wollen. Dagegen spricht z. B. die genannte gleiche Länge beider Ankerketten, die mit den Feststellungen des Experten L. über die ungleiche Länge der an M hängenden Kettenteile unvereinbar ist, wenn beide Anker mit gleicher Kettenlänge ausgelegt waren. Etwas anders ist aber nicht vorgetragen worden. Die Berufungsbegründung schließt nur aus der Expertise K. auf unterschiedliche Kettenlängen. Sie geht damit ohne Prüfung davon aus, die Expertise erlaube einen solchen Schluß, während er in Wirklichkeit nicht zulässig ist. Zu beachten ist weiter, daß die Expertise die mit der umstrittenen Havarie verbundenen Reparaturarbeiten an M und deren Kosten beschreibt, nicht aber eine präzise Feststellung der an den geborgenen Ankern hängenden Kettenteile treffen will, da dieser Punkt für die Reparaturarbeiten und ihre Kosten ohne Bedeutung war.
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Die Berufungskammer bestätigt deshalb die Ansicht des Rheinschiffahrtsgerichts, die Ankerketten von M seien auf etwa 60 m Länge ausgesteckt gewesen. Damit verbleibt es auch bei der Feststellung des Sachverständigen S., M sei ordnungsgemäß befestigt gewesen.
2. Nach den bisherigen Darlegungen ist die Antwort auf die Frage, ob der zu Berg fahrende Verband C zu Gierbewegungen von M geführt hat, ohne Bedeutung, denn diese Bewegungen hätten nach dem Gutachten S. nur bis zu 5 m nach Backbord und Steuerbord erfolgen und sich keineswegs auf ca. 30 m erstrecken können. Sie hätten also die Kurslinie des Schubzuges P, die nach der Aussage seines Kapitäns F. im Verklarungsverfahren zwischen derjenigen des Schubverbandes C und dem 30 m außerhalb der Linie der Kribben des rechtsrheinischen Ufers liegenden Leichter M lag, nicht erreichen können. Nur der Vollständigkeit halber weist deshalb die Berufungskammer darauf hin, daß ein die Havarie erklärender Einfluß des Condorschubzuges auf M nicht feststeht. Der Kurs des Schubzuges lag in der linksrheinischen Stromhälfte, also weitab des stilliegenden Leichters. An diesem war er zudem einige Zeit vor der Havarie vorbeigefahren, denn selbst Kapitän F. hat erklärt, seine Begegnung mit dem Condorschubzug sei etwa400 m oberhalb, also stromaufwärts von M erfolgt. Selbst unterstellte leichte Gierbewegungen des Leichters als Folge der Vorbeifahrt von C mußten also beendet sein, als der Schubzug P sich dem Stillieger näherte. Die Fahrt des Condorschubzuges kann also zum Unfall nicht beigetragen haben.
3. Mit den voraufgegangenen Darlegungen ist auch festgestellt, daß die Berufungskammer die Aussagen des Kapitäns F. und des Steuermannes Z. nicht akzeptiert, M habe kurze Zeit vor der Kollision eine Gierbewegung in den Kurs des Schubzuges P hinein gemacht, welcher nicht mehr habe Rechnung getragen werden können. Diese Aussagen stehen im Widerspruch zu dem sonstigen Ergebnis der Beweisaufnahme und können deshalb nicht Grundlage einer gerichtlichen Feststellung sein. Insgesamt ist also der gegen die Besatzung des Schubzuges P sprechende Beweis des ersten Anscheins nicht widerlegt, ihre Schuld an der Havarie steht also fest. Ausführungen darüber, welche Fehler schuldhaft gemacht worden sind, sind weder möglich noch notwendig.
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