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Leitsatz:
Zur Frage der Unfallflucht im Binnenschifffahrtsverkehr.
Vorlagebeschluss des Kammergerichts
vom 29. Oktober 1959
Zum Tatbestand:
Der Führer eines Motorschleppers, dessen Anhang A auf der Fahrt durch den Berliner Wasserstraßenbereich andere an einer Brücke liegende Fahrzeuge schwer angefahren hatte, wurde wegen Unfallflucht im Sinne des § 142 StGB angeklagt und vom Schöffengericht zu Geldstrafe verurteilt, weil er trotz Wahrnehmung des Unfalls die Fahrt mit unverminderter Geschwindigkeit fortgesetzt hatte, obgleich er auf der dem Unfallort folgenden Strecke Gelegenheit zum Anhalten gehabt hätte. Seine Berufung wurde von der Strafkammer verworfen. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten an das Kammergericht.
Das Kammergericht hält die Revision für unbegründet, da nach seiner Ansicht auch auf Wasserstraßen Unfallflucht im Sinne des § 142 StGB begangen werden kann und der subjektive und objektive Tatbestand im Übrigen verwirklicht ist. Eine Entscheidung gegen den Angeklagten war dem Kammergericht jedoch wegen der grundsätzlich entgegen gesetzten Entscheidung des Oberlandesgerichts in Koblenz vom 23. 4. 1959 - (1) Ss 68/ S9 1) nicht möglich, das die Rechtsauffassung vertritt, dass § 142 StGB im Wasserstraßenverkehr nicht anwendbar ist. Infolgedessen musste das Kammergericht, das sich der Ansicht des OLG Koblenz nicht anschließen wollte, gemäß § 121 Abs. 2 GVG durch einen Vorlagebeschluss die Entscheidung des Bundesgerichtshofes
herbeiführen).
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Im Gesetz selbst findet sich kein Anhalt dafür, dass die Anwendung des § 142 StGB ausschließlich auf den Straßenverkehr hätte beschränkt werden sollen. Auf eine derartige Absicht des Gesetzgebers deutet weder der Wortlaut der Strafbestimmung noch einer der in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe hin. Auch das OLG Koblenz räumt ein, dass nach der jetzt maßgebenden „Formulierung", in der die in § 22 Abs. 1 KFG verwendeten Worte „Der Führer eines Kraftfahrzeugs" durch das allgemeine „Wer" ersetzt worden sind, zumindest „die gedankliche Möglichkeit besteht, auch den Führer eines Schiffes zu dem unter § 139a (_ § 142) StGB fallenden Personenkreis zu rechnen".
2. Auch die Entstehungsgeschichte der erörterten Vorschrift bietet keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine einengende Auslegung, wie sie das OLG Koblenz aa daraus folgert. § 142 (_ § 139a) StGB ist durch die Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen (ÄndVO 1940) vom 2. 4. 1940 (RGBL 1, 606) in das Strafgesetzbuch eingefügt worden. dass die Bestimmung an die Stelle des - gleichzeitig außer Kraft gesetzten - § 22 KFG getreten ist, lässt Rückschlüsse, wie sie das OLG Koblenz zieht, nicht zu. Das gilt insbesondere, soweit mit dem Hinweis, die - „frühere, nur auf die Unfälle zu Lande (Führer eines Kraftfahrzeuges) anzuwendende" - Vorschrift des § 22 KFG sei „als § 139a mit geringfügigen Änderungen in das Strafgesetzbuch übernommen" worden, offenbar der Eindruck erweckt werden soll, als handle es sich praktisch, nach wie vor, um dieselbe Bestimmung oder doch allenfalls um eine bloße Änderung, der nur mehr oder weniger gesetzestechnische Bedeutung zukommen könne. Davon auszugehen, wäre verfehlt. § 22 KFG und § 142 StGB sind nicht „identisch". Vielmehr hat der Gesetzgeber den Täterkreis ersichtlich bewusst erweitern wollen; von nur „geringfügigen Änderungen" kann nach Auffassung des Senats nicht gesprochen werden.
Dem OLG Koblenz ist allerdings zuzugeben, dass die amtliche Begründung zur ÄndVO (DJ 1940, 508 Nr. 201) „nichts darüber sagt", ob § 139a ( § 142) StGB auch den Verkehr auf Wasserstraßen erfasst, und scheinbar sogar in Frage stellt, ob der Gesetzgeber diese - sich durch den Wortlaut eröffnende - Möglichkeit überhaupt im Auge gehabt hat.
Die Verhältnisse im Verkehr auf den Wasserstraßen hatten unter dein besonderen Gesichtspunkt der Verkehrsflucht offenbar noch keine so große Bedeutung erlangt dass die Novelle gerade deswegen hätte notwendig erscheinen können; sie gaben jedenfalls nicht den Anstoß zu der Gesetzesänderung. Das schließt aber nicht aus, dass der Gesetzgeber, ungeachtet des unmittelbaren Anlasses, der ihn bewog, die Materie neu zu regeln, diese Gelegenheit gleichwohl benutzte, den Straftatbestand auf den gesamten Verkehr und damit auch auf den Verkehr auf Wasserstraßen auszudehnen.
3. § 142 StGB ergibt, seinem Wortlaut nach, klar und eindeutig, dass durch die Vorschrift jeder Verkehrsunfall erfasst werden soll. Das entspricht ersichtlich auch dem Sinn und Zweck der Bestimmung. Es mag sein, dass den Gesetzgeber in erster Linie die Absicht geleitet hat, der Unfallflucht im Straßenverkehr mit härteren Strafandrohungen zu begegnen. Es gibt aber, wie nicht zuletzt die hier zu entscheidende Sache erkennen lässt, auch im Verkehr auf Wasserstraßen Fälle der Unfallflucht, die nicht weniger strafwürdig erscheinen.
Dass es in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben sollte, derartige Fälle von der Strafandrohung des § 142 StGB auszunehmen, kann angesichts des klaren und eindeutigen Wortlauts der Vorschrift nicht angenommen werden; und zwar um so weniger, als eine solche Annahme im Ergebnis darauf hinausliefe, ohne weiteres davon auszugehen, dass der Gesetzgeber übersehen oder verkannt hat, dass die von ihm gewählte „Formulierung" die „gedankliche Möglichkeit" eröffnet, „auch den Führer eines Schiffes zu dem unter § 139a StGB fallenden Personenkreis zu rechnen" (vgl. OLG Koblenz). Ohne triftigen Grund zu unterstellen, dass dem Gesetzgeber und den bei der Gesetzgebung mitwirkenden Instanzen ein derart grober Fassungs- oder „Redaktions"-Fehler unterlaufen ist, verbietet sich von selbst.
4. Mit Recht hat daher schon das RG ausgesprochen, dass § 139a = 142 StGB, der „den früheren § 22 Abs. 1 KFG ersetzt", „dessen Strafandrohung auf alle Teilnehmer am Verkehr, nicht etwa nur am Straßenverkehr, erweitert" RGSt 75, 355/359). Dem ist das Schrifttum, soweit es die Frage überhaupt ausdrücklich berührt, von einer Ausnahme abgesehen (L K 1957, § 142 Anm II S. 781, nach dessen Ansicht „§ 142 StGB nach seiner Entstehungsgeschichte auf den Eisenbahn- und Luftverkehr keine Anwendung findet"), gefolgt (so insbesondere Kählitz, Das Recht der Binnenschifffahrt Bd II Verkehrsrecht auf Binnenwasserstraßen 1957 S 312 unter Hinweis auf OLG Oldenburg aaO und Nagel in Wasserschutzpolizei 1954, 32 und 1956, 19; ferner Müller, StrVerkR 1957 zu § 142 StGB S 457). Zwar findet sich, wie das OLG Koblenz bemängelt, weder da noch dort eine Begründung für diese Auffassung. Sie ergibt sich aber, wovon offenbar auch das RG und das ihm folgende Schrifttum (wie von einer Selbstverständlichkeit) ausgehen, von selbst aus dem klaren und eindeutigen Wortlaut der Vorschrift, die eine einengende Auslegung gar nicht zulässt.
5. Die Erwägung, die das OLG Koblenz zu Art. 8 des Brüsseler Übereinkommens zur einheitlichen Feststellung von Regeln über den Zusammenstoß von Schiffen vom 23. 9. 1910 (IUeZ - abgedruckt bei Wassermeyer, Der Kollisionsprozess in der Binnenschifffahrt 2. Aufl. S. 353/355) anstellt, sind gleichfalls nicht geeignet, seine Auffassung zu stützen. Art. 8 IUeZ wird durch § 142 StGB auch bei einer Auslegung, wie sie der beschließende Senat für zutreffend hält, weder geändert noch sonst berührt.
6. Soweit das OLG Koblenz auf die besonderen - sich von dem Inlandverkehr weitgehend unterscheidenden - Verhältnisse auf dem Wasser abstellt, berührt es damit nicht die Frage der Anwendbarkeit des § 142 StGB, sondern die der Rechtswidrigkeit, der Zumutbarkeit bzw. der Pflichtenkollision, die „den allgemeinen Regeln folgen" (Maurach aaO S. 594). Wer nach einem Verkehrsunfall auf dem Wasser, etwa bei der Talfahrt auf dem Rhein, aus technischen oder sonstigen Gründen nicht in der Lage ist, anzuhalten (vgl. OLG Koblenz), handelt nicht rechtswidrig, wenn er weiterfährt: er kann den Tatbestand der Verkehrsunfallflucht gar nicht verwirklichen und ist ggf. nicht nur entschuldigt, sondern gerechtfertigt. So liegen die Verhältnisse aber nicht immer. Vielmehr lassen sich auch im Verkehr auf Wasserstraßen unzählige Fälle denken, in denen es den Unfallbeteiligten möglich und für sie auch zumutbar ist, anzuhalten und den sich aus § 142 StGB ergebenden Pflichten nachzukommen (z. B. Zusammenstoß zweier Ruderboote oder eines Ruderbootes mit einem Motorboot auf dem Wannsee: Manövrierunfälle im Hafen usw.). Warum auf derartige Fälle § 142 StGB nicht angewendet werden kann und soll, ist nicht einzusehen. Gewiss wird der Richter bei Verkehrsunfällen auf dem Wasser mit besonderer Sorgfalt prüfen müssen, ob im konkreten Einzelfall Umstände vorlagen, die es dem Unfallbeteiligten unmöglich machten, sich so zu verhalten, wie es das in § 142 StGB enthaltene Gebot an sich vorschreibt.