Jurisprudentiedatabank
Leitsätze:
1) Ein Schiffsführer lässt es an der bei der Radarfahrt gebotenen gesteigerten Sorgfalt fehlen, wenn er im Weg der Talfahrt zu Berg fährt.
2) Ist die Fortsetzung der Fahrt bei unsichtigem Wetter wegen des fehlenden Radarschiffer-Zeugnisses unzulässig gewesen, kann bereits deshalb der für unfallursächliches Verschulden sprechende Anscheinsbeweis nicht erschüttert bzw. nachgewiesen werden, sich so verhalten zu haben, wie es ein die Fahrt erlaubterweise fortsetzender Schiffsführer getan hätte.
Urteil des Oberlandesgerichts (Rheinschiffahrtsgericht) Karlsruhe
vom 12.12.1989
U4/89 Rh
(Rheinschiffahrtsgericht Mainz)
Zum Tatbestand:
Die Klägerin ist Versicherer des TMS „Herma", das im Nebel auf dem Rhein zu Tal fahrend ca. 400 m unterhalb der Eisenbahn-brücke Mainz-Nord (Kaiserbrücke) mit einem zu Berg fahrenden, vom Beklagten 2 führten Schubverband, bestehend aus MS „Gudrun" es Beklagten 1 und dem SL „Sieglind", kollidierte. Anschließend kam es zu einem weiteren Zusammenstoß zwischen dem Schubverband und dem ebenfalls zu Tal fahrenden KMS „Ute". Auf allen Fahrzeugen waren die Radargeräte in Betrieb. Der Schiffsführer des TMS „Her- ma" besaß kein Radarschiffer-Zeugnis. Alle beteiligten Fahrzeuge haben erhebliche Schäden erlitten. Die Klägerin hat vorgetragen, der Unfall sei darauf zurückzuführen, daß der Beklagte 2 der Talfahrt keinen geeigneten Weg zur Vorbeifahrt freigelassen habe. Statt sich linksrheinisch zu halten, wozu genügend Raum zur Verfügung gestanden habe, sei der Beklagte 2 rechtsrheinisch gefahren.
Die Beklagten führen die Kollision, die nach ihren Angaben linksrheinisch erfolgt ist, auf ein Verschulden der Schiffsführung des TMS „Herma" zurück, denn bei den zur Unfallzeit herrschenden Sichtverhältnissen hätte dieses Fahrzeug längst die Fahrt einstellen müssen.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat der Schadensersatzklage dem Grunde nach stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Rheinschiffahrtsobergericht das Grundurteil abgeändert und die Klage bezüglich des Schiffsschadens zu 2/5 dem Grunde nach für gerechtfertigt erkannt. Der Bundesgerichtshof hat durch Beschluß vom 12.11.1990 — II ZR 31/90 — die Revisionen der Klägerin und der Beklagten gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsobergerichts nicht angenommen. Die Rechtssache habe keine grundsätzliche Bedeutung, und die Revisionen hätten im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg.
Aus den Entscheldungsgründen:
„Die Klage ist bezüglich des dem Betrag nach streitigen Schiffsschadens dem Grunde nach nur zu 2/5 gerechtfertigt, denn für den Unfall ist sowohl ein Verschulden des Beklagten 2 wie auch ein Mitverschulden der Schiffsführung des TMS „Herma" ursächlich geworden.
Dem Beklagten 2 ist vorzuwerfen, daß er bei dem herrschenden Nebel entgegen § 6.32 Nr. 5 RhSchPVO die vorgeschriebenen Schallsignale nicht abgegeben und unter Außerachtlassung der bei der Fahrt mit Radar gebotenen gesteigerten Sorgfalt zur Ansteuerung der mittleren, sowohl für die Berg- wie auch für die Talfahrt bestimmten Brückenöffnung der Kaiserbrücke einen in der rechtsrheinischen Stromhälfte verlaufenden Kurs gewählt hat, obwohl jederzeit mit Talfahrt zu rechnen war und sichere Feststellungen über den Schiffsverkehr oberhalb der Eisenbahnbrücke anhand des durch das Brückenbauwerk beeinträchtigten Radarbildes nicht möglich waren.
Der Schiffsführung des TMS „Herma" ist der Vorwurf zu machen, daß trotz der im Brückenbereich erkannten Nebelbank nicht die Fahrt eingestellt wurde, daß entgegen § 6.30 Nr. 1 RhSchPV weder die Geschwindigkeit herabgesetzt noch ein Ausguck aufgestellt wurde und daß entgegen § 6.33 Nr. 1 RhSchPVO die vorgeschriebenen Nebelschallsignale nicht abgegeben wurden.
Die Haftung der Beklagten folgt aus §§ 92c, 92f, 3, 4, 114 BSchG i.V.m. §§ 398 BGB, 67 VVG.
Das Ergebnis der im Verklarungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme läßt unter Berücksichtigung des Sachvortrages der Parteien und des Inhaltes der beigezogenen Strafakten zum Unfallhergang folgende Feststellungen zu: Als das vom Schiffsführer, der nicht im Besitz des Radarschifferzeugnisses ist, geführte, unbeladene, etwa mit 1/2 seiner Maschinenleistung fahrende TMS „Herma", auf dem bereits seit Biblis das Radargerät in Betrieb war und vom Schiffsführer als ,nautisches Hilfsmittel' benutzt wurde, sich vom Oberstrom her der Kaiserbrücke näherte, war zu erkennen, daß im Brückenbereich Nebel herrschte. Das folgt aus der Aussage ... Welche Sichtweiten bei dem herrschenden Nebel vorhanden waren, ist nur annäherungsweise feststellbar ... (Die Beweisaufnahme) rechtfertigt die Überzeugung, daß die optische Sichtweite zumindest unterhalb der Brücke zwischen ca. 100 bis allenfalls 250 m lag. Bei diesen optischen Sichtverhältnissen und in Anbetracht des Umstandes, daß durch das Brückenbauwerk nicht gewährleistet war, daß in der Stromstrecke oberhalb davon befindliche Fahrzeuge als Echos auf dem Radarschirm zur Darstellung kommen werden, wäre der Beklagte 2 verpflichtet gewesen, Nebelschallsignale abzugeben. Das folgt zwingend aus § 6.32 Nr. 5 RhSchPVO. Desweiteren hat der Beklagte es bei der Ansteuerung der mittleren Brückenöffnung an der bei der Radarfahrt gebotenen gesteigerten Sorgfalt fehlen lassen, indem er bei der Ansteuerung der mittleren, sowohl für die Berg- wie auch für die Talfahrt freigegebenen Brückenöffnung so weit rechtsrheinisch fuhr, daß er sich — bezogen auf die Brükkenöffnung — mit seinem Schubverband im rechtsrheinischen Drittel, bei der vorgeschriebenen Begegnung im dortigen Revier im Weg der Talfahrt befand. Mit durch diese Brückenöffnung ankommender Talfahrt mußte der Beklagte jederzeit rechnen, denn verläßliche Feststellungen daüber, daß das Revier oberhalb der Brücke frei von Fahrzeugen ist, konnten aus den aufgezeigten Umständen nicht getroffen werden. Insoweit wäre er schon bei der Ansteuerung dieser Brückenöffnung gehalten gewesen, so weit nach linksrheinisch zu halten, daß die Kurslinie seines Fahrzeuges — bezogen auf die Brückenöffnung — zumindest in der linksrheinischen Hälfte der Öffnung verläuft, was unschwer möglich gewesen wäre. Dies ist für den Unfall ursächlich geworden. Das gilt gleichermaßen für die Nichtabgabe der zwingend vorgeschriebenen Schallsignale, denn dadurch wäre die Schiffsführung der Talfahrt auf das Ankommen eines Bergfahrers aufmerksam geworden und hätte sich rechtzeitig auf die Gefahrensituation einstellen können.
Zu Recht wird von den Beklagten jedoch geltend gemacht, daß auch den Schiffsführer von TMS „Herma" ein Mitverschulden an dem Unfall treffe. Dieser hat bei der Annäherung an die Brücke vom Oberstrom her erkannt, daß Nebel herrschte, daß zumindest unterhalb der Brücke eine Nebelwand stand, die eine Fahrt nach optischer Sicht nicht mehr zuließ. Bei einer Sichtweite von ca. 100 bis allenfalls 250m war die Fortsetzung der Talfahrt nach optischer Sicht ohne Gefahr nicht mehr möglich (vgl. Urteil der Berufungskammer der Rheinzentralkommssion, ZfB 1973, 356). Dies hätte ihn, da die Fahrt mit Radar in Anbetracht des fehlenden Radarschifferzeugnisses nicht zulässig war, sofort nach Erkennen der unterhalb der Brücke stehenden Nebelbank vom Oberstrom her veranlassen müssen, die Fahrt einzustellen, zumal er von dem Auftreten des Nebels nicht überrascht wurde. Unabhängig davon, daß nach seinen eigenen Angaben während der Talfahrt die Sicht schon verschiedentlich durch Nebel eingeschränkt war, war schon bei der Annäherung an die Kaiserbrücke vom Oberstrom her zu erkennnen, daß oberhalb der Brücke — zumindest in der Nähe der Wasseroberfläche — Nebel steht. Eine weitere Verschlechterung — wie dann durch die vom Oberstrom noch erkannte Nebelbank unterhalb der Brücke — war mithin voraussehbar. Das hätte ihn zum sofortigen Anhalten seines Fahrzeuges oberhalb der Brücke veranlassen müssen.
Der Ansicht der Klägerin, eine Fahrteinstellung sei für TMS „Herma" nicht möglich gewesen, vermag der Senat nicht zu folgen. Liegen wie hier die Voraussetzungen zu einer Fahrteinstellung vor, so muß derjemige, der pflichtwidrig weitergefahren ist, die Umstände darlegen und gegebenenfalls beweisen, die ihn an der Einstellung der Fahrt gehindert haben (vgl. Bemm/Kortendick, RhSchPVO 1983, § 630, Rn 25). zur Darlegung derartiger, die Einstellung der Fahrt nicht zulassender Umstände ist der Vortrag der Klägerin jedoch nicht geeignet ...
Die von der Klägerin in diesem Zusammenhang angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofes (Urteil vom 20.9.1973, VersR 1974, 134) ist, da ihr ein völlig anderer Geschehensablauf zugrunde lag, hier nicht einschlägig. Durch das weiter angeführte Urteil des Bundesgerichtshofes (ZfB 1986, 131) sowie durch die weitere Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 19.12.1988 (ZfB 1989,92) wird klargestellt, daß in den Fällen, in denen die Fahrt unerlaubt fortgesetzt wird, ein Anscheinsbeweis dafür spricht, daß es durch die schuldhaft fehlerhafte Fortsetzung der Fahrt zu der Kollision gekommen ist. Insoweit wäre es hier Sache der Klägerin gewesen, diesen gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern bzw. nachzuweisen, daß sich TMS „Herma" so verhalten hat, wie es ein die Fahrt erlaubterweise fortsetzender Talfahrer getan hätte. Letzeres scheitert bereits daran, daß bei den herrschenden Sichtverhältnissen die Fortsetzung der Talfahrt unzulässig war.
Unabhängig von der gebotenen Fahrteinstellung ist dem Schiffsführer von TMS „Herma" vorzuwerfen, daß er bei den herrschenden Sichtverhältnissen mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren ist, keinen Ausguck aufgestellt und die Abgabe der zwingend vorgeschriebenen Schallsignale unterlassen hat (§§ 6.30 Nr, 1, 6.33 Nr. 1 RhSchPVO). Auch dies ist für den Unfall ursächlich geworden, denn durch die Abgabe der vorgeschriebenen Schallsignale wäre der Beklagte 2 darauf aufmerksam geworden, daß sich im Brückenbereich und oberhalb davon Fahrzeuge befinden. Durch die Aufstellung des vorgeschriebenen Ausgucks wäre der Bergfahrer früher erkannt und die Einleitung des Ausweichmanövers früher durchführbar gewesen, wobei bei rechtzeitiger Herabsetzung der bis dahin gehaltenen Geschwindigkeit des Talfahrers von ca. 22 km/h über Grund, die bei den herrschenden Sichtverhältnissen sogar für einen Bergfahrer als zu hoch anzusehen wäre, auch mehr Zeit zur Ausführung des Ausweichmanövers zur Verfügung gestanden hätte. Stellt man das für den Unfall ursächlich gewordene Fehlverhalten der beiden Schiffsführer gegenüber, so ist unter Berücksichtigung der Nichtabgabe der vorgeschriebenen Schallsignale auf beiden Fahrzeugen das Nichteinstellen der Talfahrt, deren Fortsetzung mit zu hoher Geschwindigkeit ohne Aufstellung eines Ausguckes durch den Schiffsführer schwerer zu bewerten, als das dem Beklagten 2 anzulastende Fehlverhalten. Insoweit erachtet der Senat eine Verschuldensquote von 3/5 zu Lasten der Talfahrt und von 2/5 zu Lasten der Bergfahrt als sachgerecht ..."
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1992 - Nr.14 (Sammlung Seite 1383f.); ZfB 1992, 1383 f.