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II ZR 99/74 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Datum uitspraak: 01.04.1976
Kenmerk: II ZR 99/74
Beslissing: Urteil
Language: Duits
Rechtbank: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Afdeling: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Schwerwiegender Verstoß gegen die allgemeine nautische Sorgfaltspflicht, wenn ein Anhangkahn in der Dunkelheit bei einem bevorstehenden Begegnungsmanöver seinem Boot nicht im Kurs folgt.

2) Zur Abwägung der Schwere des Verschuldens einzelner Schiffe bzw. ihrer Schiffsführer an einer Havarie, die auf falsche Begegnungsmanöver der beteiligten Schiffe zurückzuführen ist.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 1. April 1976

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Im Raum Götterswickerhamm fuhr bei Dunkelheit, aber klarer Sicht der der Beklagten zu 1 gehörende Schleppzug, bestehend aus dem leeren MS H, geführt vom Beklagten zu 3, und dem auf langem Strang anhängenden, beladenen Kahn B, geführt vom Beklagten zu 2, rechtsrheinisch zu Berg. Der Schleppzug war im Begriff, 2 Einzelfahrer zu überholen, die sich nahe an den rechtsrheinischen Kribben hielten. Etwas unterhalb fuhr nahe der linken Grenze der etwa 150 m breiten Fahrrinne ein weiterer Schleppzug, nämlich das der Streithelferin der Klägerin gehörende Schleppboot Ha mit Kahn A im Anhang, ebenfalls zu Berg. Ha befand sich etwa auf Höhe von B. Das der Klägerin gehörende MS W begegnete talwärts fahrend auf Weisung von MS H diesem steuerbords. Danach lief es aber über den Schleppstrang des H-Schleppzuges und stieß 50 m aus dem rechten Ufer mit der Backbordseite gegen den Steven von Kahn B. Beide Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt.

Die Klägerin verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern Ersatz eines Schadens in Höhe von ca. 83000,- DM, weil Kahn B so weit nach Steuerbord aus dem Kurs von MS H herausgelegen habe, daß MS W nicht an der Steuerbordseite des Anhangs habe vorbeifahren können, sondern über den Schleppstrang habe laufen und die Backbordbegegnung versuchen müssen, die aber mißlungen sei.

Die Beklagten behaupten, daß der Kahn dem Schleppboot richtig gefolgt sei und lediglich das Schraubenwasser etwas nach Steuerbord freigefahren habe. Der Talfahrer habe sich infolge der Dunkelheit, der Stromkrümmung und zahlreich vorhandener Lichter nicht zurechtgefunden, zumal sein Schiffsführer durch einen Sehfehler behindert gewesen sei und kein Patent habe vorweisen können.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat der Klage dem Grunde nach zum Teil mit verschieden hohen Anteilen (1/3 bis 2/3) der einzelnen Beklagten stattgegeben. Das Rheinschiffahrtsobergericht hat die Berufung zurückgewiesen. Die Revision der Klägerin wurde zurückgewiesen. Auf die Revision der Beklagten ist auf einen etwas geringeren Schadensersatz mit verschieden hohen Anteilen erkannt worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 6.03 Nr. 1 RheinSchPolVO ist das Begegnen oder Überholen gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. Daß das hier nicht der Fall gewesen sein soll, hat die Klägerin in den Vorinstanzen nicht behauptet. Auch läßt sich in dieser Richtung dem angefochtenen Urteil nichts entnehmen.
Nach  § 6.03 Nr. 1 RheinSchPolVO müssen beim Begegnen die Bergfahrer unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs den Talfahrern einen geeigneten Weg frei lassen. Das ist nach den Ausführungen des Berufungsgerichts vorliegend der Fall gewesen. Ihre gegenteilige Ansicht stützt die
Anschlußrevision im wesentlichen auf die Annahme, SK B sei immer weiter nach linksrheinisch bis in die Nähe des „Harmonie IV-Schleppzuges geraten. Diese Annahme findet jedoch in dem angefochtenen Urteil keine genügende Grundlage.
Der Senat hat bereits in dem Urteil vom 28. Oktober 1965 - II ZR 218/63, VersR 1966, 77, 78 ausgesprochen, daß es einen schwerwiegenden Verstoß des Anhangschiffers gegen die allgemeine nautische Sorgfaltspflicht darstellt, wenn er in der Dunkelheit bei einem bevorstehenden Begegnungsmanöver seinem Boot im Kurs nicht folgt (vgl. auch Urt. v. 29. 6. 59 - 11 ZR 3/58, LM Nr. 3 zu RheinschiffahrtspolizeiVO v. 4. 12. 54 = VersR 1959, 608, 610). Dieser Satz beruht auf der Überlegung, daß ein Anhang, der aus dem Kurs des Bootes nach der Seite herausliegt, die der Entgegenkommer für die Vorbeifahrt zu benutzen hat, im allgemeinen eine Gefahr für diesen bildet (ebenso Wassermeyer aaO. S. 264; vgl. auch Bemm/Kortendick, Rheinschiffahrtspolizeiverordnung 1970 § 1.02 Anm. 5). Denn infolge einer solchen Fahrweise kann der Entgegenkommer zu einer falschen Beurteilung der Lage gelangen und fehlerhaft reagieren. Das gilt vor allem bei Dunkelheit, in der es ohnehin leicht zu - verschuldeten oder unverschuldeten - Fehleinschätzungen und Irrtümern kommen kann. Das alles berücksichtigt die Revision nicht genügend, soweit sie einen Verstoß des Beklagten zu 2 sowie des - als Schleppzugführer für den Kurs des SK B ebenfalls verantwortlichen - Beklagten zu 3 gegen § 1.04 RheinSchPolVO verneint. Insbesondere entfällt ein derartiger Verstoß nicht deshalb, weil die Topplichter des MS H und des SK B deutlich sichtbar und die Schiffskörper trotz Dunkelheit erkennbar gewesen seien. Denn das schloß eine auf der Fahrweise des SK B beruhende Täuschung des Talfahrers nicht aus, zumal die Erkennbarkeit von Lichtern allein noch nicht deren richtige Zuordnung verbürgt. Auch ist es für die rechtliche Beurteilung des Verhaltens der Beklagten zu 2 und 3 bedeutungslos, daß MS W genügend Raum hatte, um an der Steuerbordseite des SK B vorbeizufahren und die Kollision durch eine Backbordkursänderung hätte vermeiden können. Denn die Führung eines Schiffes, die durch falsches Navigieren eine unklare Lage schafft, wegen der es sodann zur Kollision mit einem anderen Fahrzeug kommt, kann das eigene fehlerhafte Verhalten nicht damit entschuldigen, daß dieses Fahrzeug die Lage bei rechtzeitigem Erkennen und richtigem Handeln hätte meistern können.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat Schiffsführer L. von MS W den Zusammenstoß seines Schiffes mit SK B mitverschuldet. Allerdings besage der Umstand, daß er angeblich kein Schifferpatent habe vorlegen können, nichts über seine Fähigkeiten als Schiffsführer. Auch sei daraus nicht zu schließen, daß er ein solches Patent nicht besitze, was von den Beklagten auch nicht behauptet werde. Ferner sei es nicht richtig, daß er wegen eines Sehfehlers eine Fernbrille hätte tragen müssen.
Das Berufungsgericht hat sich mit den Schlußfolgerungen auseinandergesetzt, welche die Beklagten aus den Angaben gezogen haben, die Schiffsführer L. von MS W vor der Wasserschutzpolizei über sein Patent gemacht hat.
Es hat diesen Angaben nicht zu entnehmen vermocht, daß L. ein Rheinschifferpatent nicht besitze oder seine Fähigkeiten, ein Schiff zu führen, beeinträchtigt seien. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Das Schiffsführer L., wie dem angefochtenen Urteil zu entnehmen ist, während der Annäherung an den H-Schleppzug das Revier mit dem Nachtglas beobachtet hat, spielt die Frage, ob er ansonsten eine Fernsichtbrille hätte tragen müssen und diese abgelegt hatte, weil sich die zahlreichen Lichter im Revier in den Brillengläsern gespiegelt und ihn verwirrt hätten, keine Rolle.
Sollte Schiffsführer L. - wie die Anschlußrevision dessen Aussage im Verklarungsverfahren entnimmt - erst auf eine Entfernung von 200 m bemerkt haben, daß SK B zu MS H gehörte, so würde ihn das in keiner Weise entlasten. L. hatte an den Lichtern des MS H bereits auf etwa 1000 m erkannt, daß dieses - rechtsrheinisch entgegenkommende - Fahrzeug einen Anhang besaß und ihm die Weisung erteilte, an der Steuerbordseite des Schleppzuges vorbeizufahren. Da er den Anhang zunächst nicht ausmachen konnte, war die Lage für ihn unklar. Deshalb war er gehalten, mit äußerster Vorsicht zu navigieren. Insbesondere mußte er sofort die Geschwindigkeit von MS W nachdrücklich vermindern, Achtungssignal geben und durch einen Kurswechsel in den linken Teil des Fahrwassers für einen möglichst großen Sicherheitsabstand zwischen seinem Fahrzeug und dem H-Schleppzug sorgen. Das alles hat L. jedoch unterlassen. Stattdessen ist er, wie seinen Angaben im Verklarungsverfahren zu entnehmen ist, in der rechten Fahrwasserhälfte verblieben, mit einem Seitenabstand von 35 bis 40 m an der Steuerbordseite des MS H vorbeigefahren, sodann mit immer noch unveränderter Geschwindigkeit über den Schleppstrang des „Heilbronn-Schleppzuges gelaufen, um mit SK B entgegen der ihm erteilten und nach § 6.04 Nr. 5 RheinSchPolVO zu befolgenden Weisung eine Backbordbegegnung zu versuchen.
Bei der Abwägung der Schwere des auf seiten der Beklagten zu 2 (SK B) und 3 (MS H) sowie des Schiffers L. von MS W obwaltenden Verschuldens (vgl. § 92 BinnSchG a. F., § 736 Abs. 1 HGB) hat sich das Berufungsgericht den Ausführungen des Rheinschiffahrtsgerichts angeschlossen.
Diese Ausführungen lassen nicht erkennen, aus welchen Gründen das schuldhafte Verhalten der Beklagten zu 2 und 3 jeweils schwerer wiegen soll, als die mehrfachen Fehler, die Schiffsführer L. von MS W begangen hat. Schon deshalb kann das angefochtene Urteil in diesem Punkt keinen Bestand haben. Hinzu kommt, daß das Rheinschiffahrtsgericht bei der Festlegung der vom Berufungsgericht ohne weitere Begründung übernommenen Quoten möglicherweise zum Nachteil der Beklagten zu 2 und 3 angenommen hat, SK B habe dem Talfahrer keinen hinreichenden Raum für die Steuerbordbegegnung gelassen, was nach dem angefochtenen Urteil gerade nicht der Fall gewesen ist.
Im Verhältnis zwischen dem Schiffer L. von MS W und dem Beklagten zu 2 erscheint eine Schuldquote von 2:1 angemessen. Für das wesentlich schwerere Verschulden von L. ist ausschlaggebend, daß er in eine unklare Lage mit unverminderter Geschwindigkeit hineinfuhr, den Kurs seines Fahrzeugs nicht dorthin verlegte, wo dessen Sicherheitsabstand zu dem H-Schleppzug am größten gewesen wäre, selbst die Abgabe eines Achtungssignals unterließ und schließlich - weisungswidrig - an der Backbordseite des SK B vorbeizufahren versuchte, obwohl es ihm bei einem verkehrsgerechten Verhalten ohne weiteres möglich gewesen wäre, den Kahn an der Steuerbordseite zu passieren. Demgegenüber fällt bei der Bewertung des Verschuldens des Beklagten zu 2 zwar ebenfalls nicht unerheblich ins Gewicht, daß es grundsätzlich einen schwerwiegenden Verstoß des Anhangschiffers darstellt, wenn er bei Dunkelheit nach der Seite aus dem Kurs des Bootes herausliegt, die dieses einem Entgegenkommer für die Vorbeifahrt zugewiesen hat. Jedoch entlastet es den Beklagten zu 2 nicht wenig, daß trotz seiner fehlerhaften Fahrweise hinreichend Raum für eine Steuerbordbegegnung mit dem Talfahrer vorhanden war, selbst wenn er so weit aus dem Kurs des MS H herausgelegen haben sollte, wie es Schiffsführer L. bei seiner Vernehmung im Verklarungsverfahren angegeben hat.
Im Verhältnis zwischen dem Schiffer L. von MS W und dem Beklagten zu 3 hält der Senat eine Schuldquote von 4:1 für angemessen. Bestimmend für die Schwere des Verschuldens von L. sind insoweit die gleichen Erwägungen, wie sie vorstehend im Rahmen der Schuldverteilung zwischen L. und dem Beklagten zu 2 bereits wiedergegeben sind. Hingegen trifft den Beklagten zu 3 lediglich der ganz wesentlich leichter zu bewertende Vorwurf, nicht auch seinerseits für einen richtigen Kurs des SK „Büderich" gesorgt zu haben.
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Einzelabwägungen ergibt sich für die nunmehr vorzunehmende Gesamtabwägung (vgl. Urt. v. 29. 6. 59 - II ZR 3/58, LM Nr. 3 zu RheinschiffahrtspolizeiVO v. 4. 12. 54 - VersR 1959, 608, 613) ein - auch für die Schiffseignerhaftung der Beklagten zu 1 geltender - Verteilungsmaßstab von 4 (MS W) : 2 (SK B) : 1 (MS H). Danach hat die Klägerin 5/7 ihres Schadens selbst zu tragen, während die Beklagten für den restlichen Schaden wie folgt haften:

a) Die Beklagten zu 1 als Eignerin des SK B zu 2/7 - im Rahmen der §§ 4, 114 BinnSchG;
b) die Beklagten zu 1 als Eignerin des MS H zu 57 - im Rahmen der §§ 4, 114 BinnSchG;

c) der Beklagte zu 2 zu 1/3 : zusammen nicht mehr als 3/7. 
   

der Beklagte zu 3 zu 1/5 :

Dabei besteht gesamtschuldnerische Haftung zwischen
a) den Beklagten zu 1 und 2 zu 2/7,
b) den Beklagten zu 1 und 3 zu 3/7,
c) den Beklagten zu 2 und 3 zu 1/5.