Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Zur Ausweich- und Beobachtungspflicht des Führers eines Kleinfahrzeuges (hier: Paddelboot), der das Fahrwasser der Großschiffahrt benutzt.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 7. November 1988
II ZR 94/88
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg- Ruhrort, Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Der Kläger fuhr mit Ehefrau und 5jährigem Sohn in einem Faltboot am 10. August 1983 kurz nach 19.00 Uhr bei sonnigem Wetter auf dem Rhein zu Tal. Das Boot wurde vom gleichfalls zu Tal kommenden leeren, der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten MS „Libra" bei Rhein-km 729 angefahren, wobei der Kläger erhebliche Verletzungen erlitt.
Der Kläger behauptet, etwa 15-20 m aus den rechtsrheinischen Kribben gefahren zu sein. Er habe sich, ebenso wie seine Ehefrau, regelmäßig nach der Talfahrt umgesehen. Zuerst sei MS „Libra" noch 700 m oberhalb des Bootes linksrheinisch gefahren und habe dann schon nach knapp einer Minute das Faltboot rechtsrheinisch überfahren. Er verlangt daher von dem Beklagten Schadensersatz von über 83000,— DM und ein angemessenes Schmerzensgeld sowie die Feststellung, daß die Beklagten zum Ersatz allen weiteren Unfallschadens und der von der Arbeitgeberin des Klägers getragenen unfallbedingten Lohn- und Beihilfezahlungen verpflichtet sind.
Die Beklagten behaupten, daß der im Unfallbereich übliche Übergang der Talfahrt von links- nach rechtsrheinisch gemacht und der Kläger offenbar in Unkenntnis dieses Kurswechsels mindestens 100 m von den rechtsrheinischen Kribben entfernt gefahren sei, wo man dessen Boot infolge seiner grauen und blauen Farbe sowie wegen seines tiefen Eintauchens und der Blendwirkung der Sonne auf der durch Wind bewegten Wasseroberfläche übersehen habe.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat das Verschulden im Verhältnis des Beklagten zu 2 zum Kläger mit 2/5 zu 3/5, das Rheinschiffahrtsobergericht hat es mit 1/4 zu 3/4 bewertet. Demgemäß hat letzteres dem Zahlungs- und dem Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach zu 1/4 sowie beiden Feststellungsansprüchen zu 1/4 stattgegeben. Der Bundesgerichtshof hat sämtliche Ansprüche des Klägers dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und die Sache lediglich wegen des Zahlungs- und Schmerzensgeldanspruchs zur Entscheidung über die Höhe dieser Ansprüche an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
„Im Revisionsrechtszug ist außer Streit, daß der Beklagte zu 2 bei Beachtung seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht (vgl. § 1.04 RheinSchPV 1981) das Faltboot des Klägers rechtzeitig hätte bemerken können und müssen, zumal er bei der Annäherung an die Unfallstelle nicht unmittelbar in die bereits querab von seinem Fahrzeug stehende Sonne schauen mußte. Hingegen streiten die Parteien noch darum, ob den Kläger ein Mitverschulden an dem Unfall trifft und, falls das zu bejahen sein sollte, ob die Schuldverteilung durch das Berufungsgericht rechtlich fehlerfrei ist.
Nach den Ausführungen des sachverständig beratenen Berufungsgerichts hat der Abstand des Faltbootes zu der Uferlinie (gemeint ist die gedachte Verbindungslinie zwischen den rechtsrheinischen Kribbenköpfen) im Zeitpunkt der Anfahrung 65 m +/— 10 m (also mindestens 55 m) betragen. Bei einem solchen Benutzen des Fahrwassers der Großschiffahrt sei der Kläger besonders veranlaßt gewesen, diese ständig im Auge zu behalten, um rechtzeitig ausweichen zu können. Keinesfalls habe er sich bei der Annäherung des MS „Libra" damit beruhigen dürfen, den Talfahrer in noch 700 m Entfernung linksrheinisch gesehen zu haben. MS „Libra" habe nach den Berechnungen des Sachverständigen immerhin eine Geschwindigkeit von rund 20 km/st relativ zum Wasser innegehabt. Außerdem habe sich das Fahrzeug in einem Bereich befunden, in dem die Talfahrt schiffahrtsüblich nach rechtsrheinisch wechsle. Darauf habe sich der Kläger einstellen müssen. Sollte ihm aber die Route der Talfahrt unbekannt gewesen sein, so habe er eine wesentlich gesteigerte Aufmerksamkeit auf sie richten müssen, zumal diese das voll besetzte Faltboot nur schwer habe ausmachen können und mit einer so leichtsinnigen, unaufmerksamen Fahrweise von Kleinschiffen kaum rechne.
Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, daß auch den Kläger ein Verschulden an dem Unfall trifft.
Nach § 6.02 Nr. 1 (der zum Unfallzeitpunkt geltenden) RheinSchPV 1981 mußten einzelne Kleinfahrzeuge (Fahrzeuge von weniger als 15 t Tragfähigkeit bzw. Wasserverdrängung — vgl. § 1 lit. i RheinSchPV 1981) allen übrigen Fahrzeugen den für deren Kurs und zum Manövrieren notwendigen Raum lassen; sie 'konnten nicht verlangen, daß diese ihnen ausweichen (ebenso § 6.02 Nr. 1 RheinSchPV in der seit 1. Oktober 1983 geltenden Fassung). Die Vorschrift räumte der Großschiffahrt gegenüber den Kleinfahrzeugen einen gewissen Vorrang ein (vgl. BGHZ 62, 146, 148/149; Bemm/Kortendick; Rheinschifffahrtspolizeiverordnung 1983 § 6.02 Rn. 3 ff.; vgl. auch Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 4. Aufl. 5.169). Jedoch untersagte sie den Kleinfahrzeugen nicht schlechthin, auch das Fahrwasser der Großschiffahrt zu benutzen. Andererseits gab sie dieser nicht die Befugnis, den Kurs ohne jede Rücksicht auf Kleinfahrzeuge im Revier zu wählen (vgl. § 1.04 RheinSchPV 1981). Die Kleinfahrzeuge mußten allerdings auch auf eine vorschriftswidrige Fahrweise der Großschiffahrt reagieren und ausweichen (vgl. Senatsurt. v. 12. Dezember 1966 — II ZR 247/64 1), VersA 1967, 225, 226). Deshalb war (und ist) es für den Führer eines Kleinfahrzeuges geboten, die Großschiffahrt sorgfältig zu beobachten. Jedoch braucht er sein Augenmerk nicht immer ununterbrochen auf die Großschiffahrt zu richten. Vielmehr hängen Dauer und Umfang seiner Beobachtungspflicht von den jeweiligen Umständen des einzelnen Falles ab.
Hier hat MS „Libra", als es sich noch etwa 700 m hinter dem Faltboot befunden hat, einen linksrheinischen Kurs gesteuert. Dem Schiff ist — unbestritten — zu diesem Zeitpunkt keine Bergfahrt mehr entgegengekommen. Allerdings hat das Berufungsgericht auf Grund einer Auskunft der Wasserschutzpolizei vom 12. August 1987 festgestellt, daß die Talfahrt zwischen Stromkm 728 und 730 üblicherweise von links- nach rechtsrheinisch wechselt. Der Anlaß hierfür dürfte darin bestehen, daß der Rhein anschließend eine ausgeprägte Linksbiegung macht, deren Hang rechtsrheinisch liegt. Jedoch ist den von keiner Seite angezweifelten Querprofilen des Rheins im Bereich der Unfallstelle zu entnehmen, daß MS „Libra" den Seitenwechsel ohne weiteres innerhalb der rund 150 m breiten garantierten Fahrrinne hätte vornehmen können und damit mindestens 70 m von den rechtsrheinischen Kribbenköpfen entfernt geblieben wäre. Außerdem heißt es in der bereits erwähnten Auskunft der Wasserschutzpolizei, daß sich sowohl die Tal- als auch die Bergfahrt in Höhe von Strom-km 729,35 (Unfallstelle) zu 90 % im mittleren Drittel des Fahrwassers halten und die geringste während ihrer Beobachtung der Schiffahrt im Unfallbereich gemessene Entfernung eines Talfahrers zu der ersten unterhalb der rechtsrheinischen Fährrampe (Strom-km 729,35) befindlichen Radarstange 70 m war. Bei einem solchen Verhalten der Großschiffahrt brauchte der Kläger aber zunächst nicht damit zu rechnen, daß sich MS „Libra" bei einem Uferwechsel in dem von anderen Schiffen freien Revier den rechtsrheinischen Kribbenköpfen unüblich bis auf etwa 55 m nähern und sein Faltboot überfahren werde, zumal sich kurz unterhalb der rechtsrheinischen Fährrampe eine Anlegestelle für Sportboote befunden hat, auf welche die Großschiffahrt auf Grund der allgemeinen Sorgfaltspflicht Rücksicht zu nehmen hatte und die außerdem wegen des sich an einem sonnigen Sommertag dort erfahrungsgemäß abspielenden Verkehrs besonderer Aufmerksamkeit bedurfte. Im 'Hinblick auf diese besonderen Gegebenheiten des Falles war der Kläger nicht gehalten, wegen des zunächst linksrheinisch laufenden Talfahrers näher zu den rechtsrheinischen Kribbenköpfen beizugehen und sein Augenmerk ununterbrochen auf diesen zu richten. Die Vorinstanzen haben demnach dem Kläger zu Unrecht ein Mitverschulden an dem Unfall vorgeworfen."
Anmerkung der Redaktion:
Das obige Urteil hat in Schiffahrts- und Anwaltskreisen einige Beunruhigung und Kritik ausgelöst. Inwieweit diese vom Standpunkt der Binnenschiffahrt aus vertretbar erscheint, mag sich aus folgenden Überlegungen ergeben:
1. Von jeher ist anerkannt worden, daß Kleinfahrzeugen, wie Paddelbooten, zwar ein Kursrecht nicht zusteht, daß die gewerbliche Schiffahrt aber die Pflicht zur Rücksichtnahme nicht außer acht lassen und, auf ihr Kursrecht pochend, die Kleinfahrzeuge nicht einfach überrennen darf. Diese Rechtsfolge ergibt sich allein schon aus der allgemeinen Verpflichtung, auf das Leben von Mitmenschen und damit auch der in solchen Booten befindlichen Personen Rücksicht zu nehmen. Von diesen Rechtsgrundsätzen ist die Rechtsprechung stets ausgegangen (s. hierzu Wassermeyer, Kollisionsprozeß, 4. Aufl. S. 169 ff und dort erwähnte Urteile, u. a. RG Bd. 117, 172; Urteil des BGH vom 12. 12.66 — II ZR 247/64 — ZfB 1967, S. 175; Urteile des OLG Köln 3 U 188/20 vom 31.1.21; 3 U 81,82/34 vom 21.12.34; 3 U 237/37 vom 25. 2. 38; 3 U 55/35 vom 21. 5. 35; 3 U 41/53 vom 3.12.53; s. a. „Der Rhein" 1935, 227).
2. Natürlich darf die Tatsache, daß sich kaum ein die Kollision zwischen Großschiffahrt und Faltboot betreffendes Urteil finden läßt, in dem nicht das beiderseitige Verschulden festgestellt worden ist, nicht dazu verleiten, allein schon deshalb im vorliegenden Streitfall ein mitwirkendes Verschulden des Paddelbootes anzunehmen oder dessen Feststellung zu fordern. Es bedarf aber der Untersuchung einer Reihe von Tatbestandsmerkmalen oder Möglichkeiten, die — ohne Verschulden des Schiffsführers des MS „Libra" oder des Paddelbooteigners — zu dem Unfall bzw. den besonderen Erschwernissen des Unglücks geführt oder beigetragen haben können:
Bewertet hat der BGH, soweit er sich auf die von den Vorgerichten erfolgten tatbestandlichen Feststellungen berufen konnte, insbesondere folgende Tatsachen:
Die Sorgfaltspflicht des Schiffsführers ist nach den in der Revisionsinstanz unstreitig gebliebenen Feststellungen verletzt, da er das Faltboot rechtzeitig hätte bemerken können und müssen. Der Beklagte (gemeint ist in dieser Anmerkung mit dem „Beklagten" stets der im Urteil bezeichnete „Beklagte zu 2") habe bei Annäherung an die Unfallstelle nicht unmittelbar in die zu diesem Zeitpunkt querab zu seinem Fahrzeug stehende Sonne schauen müssen (etwa um 19.00 Uhr im August).
In dem Parallelverfahren (s. ZfB 1988, Heft 2, S. 22) hielt es das OLG Köln allerdings nicht für ausgeschlossen, daß „aufgrund ungünstiger Sichtverhältnisse das Verschulden des Beklagten möglicherweise geringer anzusetzen sein mag", lehnte aber eine weitere Stellungnahme in diesem Zusammenhang wegen der Besonderheit des Rechtsanspruchs ab (Klage eines 5jährigen Minderjährigen auf Schmerzensgeld — daher, kein Mitverschulden im Rechtssinne).
Es wird zutreffen, daß der Schiffsführer in seiner alllgemein nördlichen Fahrtrichtung nicht in die im Westen, also querab zum Flußlauf stehende Sonne schauen mußte. Wie der Beklagte aber unbestritten vorgetragen hat, war die Wasseroberfläche bei Windstärke 3 Bft. bewegt. Es ist daher durchaus vorstellbar, daß auch die querab leuchtenden und flach auf die Wasseroberfläche einfallenden Sonnenstrahlen eine Blendwirkung erzeugt haben, die die Wahrnehmung des tiefgehenden Paddelbootes durch den Schiffsführer verhindert bzw. ein rechtzeitiges Erkennen mindestens erschwert hat. Unter diesem Aspekt erscheint es nicht ausgeschlossen, daß in der Tatsacheninstanz, wie das OLG in seinem Urteil im Parallelprozeß angedeutet hat, bei weiterer Prüfung das Verschulden des Beklagten aus diesem Grunde geringer bewertet worden wäre. Es ist auch nicht auszuschließen, daß bei einer stärkeren Berücksichtigung der möglichen Blendwirkung die Glaubwürdigkeit des Beklagten hinsichtlich seiner wiederholten Beteuerung „Ich habe das Paddelboot nicht gesehen" mehr ins Gewicht gefallen wäre.
3. Der BGH hat entgegen den vorinstanzlichen Entscheidungen jegliches Mitverschulden des Klägers verneint:
a) Unverständlich ist zunächst, daß die dem Urteil zugrunde gelegte Feststellung, daß der Abstand des Faltbootes zu der Uferlinie, also zu den rechtsrheinischen Kribbenköpfen zur Unfallzeit 65 m +/— 10 m betragen hat, kaum und verhältnismäßig einseitig gewürdigt wird. Anknüpfend an die Feststellung des Berufungsgerichts — „Anfahrung 65 m +/— 10 m (also mindestens 55 m)"_ wird dem Kläger zugestanden, daß er nicht damit. habe rechnen können, daß der Beklagte sich mit seinem Schiff abweichend vom Verhalten der Großschiffahrt „den rechtsrheinischen Kribbenköpfen unüblich bis auf etwa 55 m nähern" würde. Das Schiff des Beklagten hätte unter Berücksichtigung der von der Wasserschutzpolizei bekundeten Querprofile und der üblichen Ausnutzung der Fahrrinne durch die Großschiffahrt mindestens 70 m von den Kribbenköpfen entfernt bleiben können und müssen.
Der BGH hat damit ohne weitere Begründung die für den Beklagten jeweils nachteiligsten Werte in Ansatz gebracht. Denn in Bezug auf die Angabe des Sachverständigen — lt. Urteilsgründen: Abstand des Faltbootes von der Kribbenlinie 65 m +/- 10 m — konnte sich das Faltboot also sowohl 75 m als auch 55 m von der besagten Linie befunden haben. Deshalb ist mangels anderer Einwendungen, Berechnungen, sonstiger sachverständiger Beweismittel usw. die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das Faltboot in einer Entfernung von 70-75 m, also auf einer für das Schiff des Beklagten zulässigen Entfernung von den Kribben angefahren worden ist. Hat sich aber das Faltboot in einer solchen Entfernung von den Kribben im Fahrwasser der Großschiffahrt befunden, kann ein Mitverschulden des Klägers kaum verneint werden. Denn dieser mußte wissen, daß der Rhein als Großschiffahrtsstraße erhebliche Gefahren aufweist, mit denen die Klein- und Sportschiffahrt, auch wenn man ihr eine gewisse Rücksichtnahme angedeihen läßt, tagtäglich und jeden Augenblick ihres Aufenthaltes auf Wasserstraßen dieser Größenordnung rechnen muß.
b) Selbst wenn es richtig wäre, daß sich der Unfall nur 55 m von der Kribbenlinie entfernt abgespielt hätte, kann das Mitverschulden des Klägers nicht ausgeschlossen werden. Denn andererseits muß die Frage erlaubt sein, warum ihm nicht die Fahrt in einer Entfernung von etwa 10-20 m von der Kribbenlinie genügte und warum er sich bis in oder an die Fahrrinne der Großschiffahrt vorwagte. Diese Frage dürfte umso berechtigter sein, als der Kläger längst vor dem Unfall erkannt haben muß, daß — wie im Urteil ausgeführt wird, — der Rhein schon bald darauf eine ausgeprägte Linksbiegung macht, deren Hang rechtsrheinisch liegt. Dann mußte der Kläger auch wissen, — wenn er sich bei sorgfältiger Vorbereitung wenigstens einige Kenntnisse vom Stromverlauf und seinen Eigenarten, über den Wechsel von Grund und Hang und die Reaktionen der Großschiffahrt auf diese Naturgegebenheiten vor Befahren des Stromes verschafft hätte —, daß er am rechten Ufer leicht in die Bewegung der Großschiffahrt geraten würde und demgemäß seinen Kurs noch näher an die schützende Kribbenlinie hätte verlegen müssen. Hatte er keine Erfahrungen und sich auch keine Kenntnisse angeeignet, müßte das Mitverschulden des Klägers schon aus diesem Grunde außer Zweifel stehen. Das Revisionsurteil sagt hierüber nichts aus.
4. Die Verpflichtung zur Berücksichtigung drohender Gefahren war im vorliegenden Falle wegen verschiedener Umstände in noch gesteigertem Umfang gegeben:
a) Das Faltboot war mit Kläger, Ehefrau und 5jährigem Sohn offensichtlich überladen, was naturgemäß ein starkes Einsinken des Bootes zur Folge hatte. Dadurch wird es wahrscheinlich, mindestens möglich gewesen sein, daß das Faltboot vom Rheinschiff aus nicht gesehen wurde, jedenfalls nicht in einer Entfernung, in welcher ein Abstoppen oder Rudermanöver noch möglich gewesen wäre.
b) Ferner muß in diesem Zusammenhang bedauert werden, daß das Urteil sich überhaupt nicht mit der Frage des Sichtschattens und seiner Größe befaßt hat, obwohl darin eine besondere Gefahr liegt, von der ein Laie keine Vorstellung hat, mit der aber ein Faltbootfahrer, der sich in oder an die Fahrrinne der Großschiffahrt begibt, rechnen muß. Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß diese Frage angesichts der Größenverhältnisse — einerseits das große, leere, stark aus dem Wasser herausragende MS „Libra", andererseits das kleine, wegen der Belastung stark ins Wasser eintauchende Faltboot — eine ganz besondere Rolle gespielt hat.
c) Ein weiteres, ebenfalls nicht berücksichtigtes Gefahrenmoment ist die Geschwindigkeit, mit der das leere Motofschiff zulässigerweise zu Tal gefahren ist. Wenn der Kläger die „Libra" zunächst linksrheinich in 700 m Entfernung gesehen haben will, die dann schon nach ca. 1 Minute in seiner Nähe gewesen sei und sein Boot kurz darauf überfahren habe, so können diese Angaben objektiv nicht richtig sein. Denn der Sachverständige hat die Geschwindigkeit des Rheinschiffs mit rd. 20 km/std. angegeben, so daß von ihm erst in 2 Minuten etwa 670 m gefahren sein können. Dazu kommt die Strecke, die das Faltboot in der Zwischenzeit vorausgefahren ist, — nach vorsichtiger Schätzung in 3 Min. etwa 130 m. Für die Gesamtstrecke von etwa 800 m zwischen Sichtzeitpunkt und Unfall hätte das Schiff des Beklagten also etwa 2,5 Min. benötigt. Daraus ergibt sich die Feststellung, daß es der Kläger 2-3 Min. nicht für nötig gehalten hat, sich nach dem bereits gesichteten, herankommenden Schiff des Beklagten umzusehen oder etwa seine Ehefrau zu veranlassen, die „Libra" laufend durch Rückwärtsschau im Blick zu behalten. Jedenfalls werden von organisierten und im Vereinsleben für die Fahrt auf dem Rhein vorbereiteten Angehörigen der Klein- und Sportschiffahrt derartige Vorsichtsmaßnahmen als selbstverständliche Verpflichtungen angesehen.
d) Wenn der BGH meint, der Kläger habe bei einem üblichen Verhalten der Großschiffahrt, nämlich bei einem zu 90 % gewählten Kurs im mittleren Drittel des Fahrwassers mindestens 70 m von den Kribbenköpfen entfernt, nicht damit zu rechnen brauchen, daß sich das Schiff des Beklagten bis auf etwa 55 m der Strichlinie nähern würde, dann ist wohl die Frage berechtigt: Woher hätte der Kläger als Laie etwas von einem diesbezüglichen Verhalten der Großschiffahrt an dieser Stelle wissen können, über das die sehr sachverständigen Schiffahrtsgerichte und -senate erst durch Auskunft der Wasserschutzpolizei aufgeklärt worden sind?!
Als Ergebnis ist also davon auszugehen, daß der Kläger mindestens 1 Min. nach erster Wahrnehmung des MS „Libra" selbst oder durch seine Ehefrau hätte bemerken müssen, daß das Rheinschiff vom Links- zum Rechtskurs übergegangen war und es deshalb — schon wegen der Wirkungen des Wellenschlages — angezeigt erscheinen müssen, das Faltboot mehr in den Schutz der Kribben, d. h. etwa 20-30 m von der Linie der Kribbenköpfe entfernt, zu steuern. Da der Kläger weiterhin im Bereich und nicht einmal am Rande des rechten Fahrwasserdrittels gefahren ist, hätte er nach diesseitiger Auffassung mindestens ein Mitverschulden, etwa in dem von den Vorinstanzen angenommenen Ausmaß, zu vertreten gehabt.
5. Um Mißverständnissen vorzubeugen, mag noch dies gesagt werden: Die Binnenschiffahrt beabsichtigt nicht, die Kleinschifffahrt, auch nicht den Ausflügler und den Faltbootfahrer durch Klagen, Beschwerden oder gar Schikanen von der Wasserstraße zu verdrängen. Vielmehr kann der Nachweis geführt werden, daß sich die verantwortlichen Stellen des Gewerbes stets für die Wahrung der Rechte gerade auch des „Kleinen Mannes" eingesetzt haben. Man kann nur nicht von der Binnenschiffahrt erwarten, daß sie im Wettbewerbskampf der Verkehrsträger auf die weitere Modernisierung, besonders ihrer technischen Betriebsformen und -möglichkeiten und die Ausnutzung ihrer arteigenen Vorteile verzichtet. Sie erwartet nur, daß die Freunde des Wassersports und der sonstigen. Freizeitgestaltung die Gefahren der Schiffahrt auf allen Wasserstraßen richtig einschätzen und Vorsicht in jeder nur denkbaren Weise walten lassen. Die Klein- und Sportschiffahrt darf sich auch nicht wundern, wenn im Hinblick auf die Entscheidung des BGH von Seiten der Großschiffahrt demnächst verlangt wird, daß solche Faltboote mit entsprechend hohen Fahnenstöcken ausgerüstet sein müssen, um ihren Standort bzw. Kurs schon von weitem erkennen zu können. (Soeben werden schon Vorbehalte der ausländischen Rheinschiffahrt bekannt, anläßlich des obigen Urteils grundsätzliche Änderungen der Rheinschiffahrt-Polizeiverordnung zu beantragen).
Was die Binnenschiffsbesatzungen manchmal erleben, ist kaum vorstellbar. In den Binnenschiffahrts-Nachrichten (BN) Nr. 1/2 1989 kann man in dem Artikel „Junge, Junge, wenn bei dem jetzt die Maschine ausfällt .. ." die schlimmsten Auswüchse der wilden Fahrt unter den Schlagzeilen „Haarsträubendes vor dem Bug", „Das Sonntagsgefühl von Freiheit", „Zwischen Hoffen und Bremsen" und sonst noch „Was so aufregt . ." zur Kenntnis nehmen. Folge man dem vernünftigen Motto des genannten Aufsatzes: „Statt Auf-die-Pelle-rücken mehr Abstand-halten".
Daran hat es leider in dem obigen Rechtsfall gefehlt.
Dr. Dütemeyer
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1989 - Nr.3 (Sammlung Seite 1252 ff.); ZfB 1989, 1252 ff.