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Leitsätze:
1) Zur Zulässigkeit einer von der Grundregel des § 15.05 Nr. 1 BinSchStrO - WK - abweichenden Steuerbordbegegnung auf den westdeutschen Kanälen.
2) Die mit der bisherigen Gesetzeslage übereinstimmende, aber neuen Vorschriften nicht mehr entsprechende frühere Schifffahrtsübung, der Talfahrt an bestimmten Stellen die Steuerbordbegegnung zu gestatten, bildet allein keinen Rechtfertigungsgrund, von der Grundregel des § 15.05 Nr. 1 BinSchStrO - WK - (grundsätzlich Rechtsfahrt) abzuweichen.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 16. November 1978
II ZR 8/77
(Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Schiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Unterhalb des Scheitelpunktes der talwärts der Haarener Straßenbrücke beginnenden Rechtskrümmung des DortmundEms-Kanals stießen das beladene TMS L der Klägerin (zu Tal) und das beladene, der Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 geführte MS N (zu Berg) in der Nähe des rechten Ufers Kopf auf Kopf zusammen und wurden dabei erheblich beschädigt.
Die Klägerin verlangt Ersatz des Schadens von ca. 135 000 hfl mit der Begründung, daß der Beklagte zu 2 entgegen dem Rechtsfahrgebot eine Steuerbordbegegnung habe erzwingen wollen.
Die Beklagten behaupten, daß die Steuerbordbegegnung wegen der starken Rechtskrümmung nautisch richtig gewesen sei. Der Talfahrer habe jedoch die blaue Seitenflagge des Bergfahrers übersehen und deshalb den Kurs nicht in die linke Fahrwasserhälfte gerichtet.
Das Schiffahrtsgericht hat den Klageanspruch dem Grunde nach zur Hälfte für gerechtfertigt erklärt. Das Schiffahrtsobergericht hat den Anspruch zu 3/4 für berechtigt gehalten. Auf die beiderseitigen Revisionen wurde die Revision der Beklagten zurückgewiesen und auf die Revision der Klägerin die Klage dem Grunde nach zu 4/5 für gerechtfertigt erklärt.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Den Beklagten zu 2 trifft als Schiffsführer des MS N in mehrfacher Hinsicht ein Verschulden an der Kollision:
a) Für den Unfallbereich gelten die besonderen Bestimmungen des Kapitels 15 - Westdeutsche Kanäle - der Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung vom 3. März 1971 (vgl. § 15.01 Buchst. f BinSchStrO - WK -). Danach steht dem Bergfahrer - abweichend von der Vorschrift des § 6.04 BinSchStrO - nicht die Befugnis zu, dem Talfahrer den Begegnungskurs zu weisen; vielmehr haben beide beim Begegnen rechts zu fahren, soweit das für eine gefahrlose Vorbeifahrt Backbord an Backbord notwendig ist (§ 15.05 Nr. 1 BinSchStrO - WK -). Allerdings kann abweichend von dieser Regel aus wichtigem Grund die Begegnung nach vorheriger gegenseitiger Verständigung durch bestimmte Schall- und Sichtzeichen an Steuerbord verlangt werden, wenn dies ohne Gefahr möglich ist (§ 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK -).
...
b) Das Berufungsgericht hat nicht abschließend erörtert, ob für den Bergfahrer ein wichtiger Grund vorgelegen hat, von dem Talfahrer eine Steuerbordbegegnung zu verlangen. Es meint, die Frage könne offenbleiben, weil es dem Beklagten zu 2 jedenfalls nicht vorgeworfen werden könne, wenn er diesen Punkt falsch beurteilt haben sollte. Insoweit kann jedoch, wie an anderer Stelle noch näher auszuführen sein wird, dem Berufungsgericht nicht gefolgt werden. Die Frage des wichtigen Grundes bedarf deshalb der Entscheidung. Sie ist zu verneinen.
Es mag sein, daß es im Unfallbereich wegen der dortigen starken Krümmung der Wasserstraße üblich war, der Talfahrt die linke Seite des Fahrwassers zu überlassen, somit Steuerbord an Steuerbord zu begegnen. Jedoch kann das Bestehen einer solchen Übung allein nicht als wichtiger Grund im Sinne von § 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK - angesehen werden. Die Regelung des § 15.05 Nr. 1 BinSchStrO - WK -, beim Begegnen rechts zu fahren, ist für die westdeutschen Kanäle anläßlich der Neufassung der Binnenschiffahrtsstraßen-Ordnung im Jahre 1971 eingeführt worden. Sie soll - ebenso wie die seit dem 1. April 1975 für einzelne Strecken des Rheines vorgeschriebene sog. „Geregelte Begegnung" (so zuletzt durch Art. 1 der Schiffahrtspolizeilichen Verordnung über das Begegnen auf dem Rhein zwischen Duisburg und der deutsch-niederländischen Grenze sowie zwischen der Neckarmündung und Lorsch vom 27. Februar 1978, VkBI. 1978, 123) - erreichen, daß auf den von ihr erfaßten Schiffahrtsstraßen im Interesse einer möglichst sicheren Verkehrsabwicklung grundsätzlich rechts gefahren und dementsprechend Backbord an Backbord begegnet wird (vgl. Pabst/Vollmerhaus, Erläuterungen zur neuen Binnenschiffahrtsstraßen-Ordnung für den Schiffsführer 1971 S. 11). Damit wäre es nicht zu vereinbaren, wenn bereits eine abweichende Schifffahrtsübung in einem bestimmten Bereich genügen würde, ein Abgehen von der Grundregel des § 15.05 Nr. 1 BinSchStrO - WK - zu gestatten. Deshalb kann eine solche Übung allein keinen wichtigen Grund im Sinne des § 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK - abgeben.
Andere Gesichtspunkte, die im Streitfall die Annahme eines wichtigen Grundes im Sinne des § 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK - rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
...
c) Der Beklagte zu 2 hat ferner (objektiv) pflichtwidrig gehandelt, weil er den Kurs seines Fahrzeugs nach Backbord zum rechten Ufer hin geändert hat, obwohl die in § 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK - vorgeschriebene vorherige Verständigung mit dem Talfahrer über die geforderte Steuerbordbegegnung nicht vorlag. Ebenso ist dem Berufungsgericht zuzustimmen, soweit es meint, der Beklagte zu 2 habe die hierfür vorgesehenen Zeichen noch nicht einmal selbst vorschriftsmäßig gegeben. Zwar kann zu Gunsten der Beklagten davon ausgegangen werden, daß der Beklagte zu 2 die blaue Seitenflagge vor dem Kurswechsel seines Fahrzeugs hat setzen lassen. Jedoch hat er es versäumt, g l e i c h z e i t i g das Schallzeichen „zwei kurze Töne" zu geben (§ 15.05 Nr. 3 BinSchStrO - WK -; vgl. auch § 15.05 Nr. 4 Satz 2 BinSchStrO - WK -).
...
Auch hat die von der Revision aufgeworfene Frage, ob das entgegenkommende Fahrzeug grundsätzlich das Verlangen nach einer Steuerbordbegegnung befolgen muß, nichts damit zu tun, daß der Verlangende zunächst die vorgeschriebenen Zeichen geben muß und den Kurs zu einer Steuerbordbegegnung erst ändern darf, wenn er sich mit dem Gegenkommer verständigt hat. Alles andere würde zu Unsicherheiten und damit zu einer Gefährdung des eigenen oder des fremden Fahrzeugs führen.
d) Zu Unrecht hat das Berufungsgericht ein Verschulden des Beklagten zu 2 insoweit verneint, als es um die Frage eines wichtigen Grundes für eine Steuerbordbegegnung geht. Zwar hat das für den Unfallbereich zuständige Wasser- und Schiffahrtsamt M. in der Stellungnahme vom 14. Februar 1973 erklärt, „in der scharfen Rechtskrümmung, in der der Zusammenstoß erfolgte, ist die Begegnung an Steuerbord sachgemäß und üblich". Jedoch entlastet das den Beklagten zu 2 ebensowenig wie die Bemerkung in dem Ermittlungs- und Schlußbericht des Wasserschutzpolizeireviers M. vom 10. Februar 1973, daß es in der in Frage stehenden Krümmung „schiffahrtsüblich und den Stromverhältnissen entsprechend erforderlich" sei, dem Talfahrer die Grube zu überlassen. Der letztgenannte Bericht geht von der irrtümlichen Auffassung aus, im Streitfall komme die - allgemeine - Vorschrift des § 6.04 BinSchStrO zum Zuge; auch zeigen weder der Bericht noch die Erklärung des Wasser- und Schiffahrtsamts Tatsachen auf, die dafür prechen könnten, daß zwischen MS N und TMS L aus Sicherheitsgründen eine Steuerbordbegegnung notwendig war. Davon abgesehen, ist gerade dort, wo ein Schiffahrtsbrauch vorhanden ist, der mit der früheren Gesetzeslage übereingestimmt hat (vgl. § 38 Nr. 1 Abs. 2 BinSchStrO 1954 und 1966), zu der jetzigen Regelung hingegen in Widerspruch steht, zu verlangen, daß die Schiffsführer eigenverantwortlich und mit besonderer Sorgfalt prüfen, ob es ihnen trotzdem erlaubt ist, an der Übung festzuhalten.
Zutreffend hat das Berufungsgericht ein Mitverschulden der Führung des TMS L an dem Schiffszusammenstoß bejaht.
...
Sicher entsprach das alleinige Zeigen der blauen Seitenflagge nicht der in § 15.05 Nr. 3 BinSchStrO - WK - vorgeschriebenen Zeichengebung. Gerade deshalb bestand aber für den Talfahrer die vom Berufungsgericht aufgezeigte unklare Lage, auf welche er durch Anhalten oder zumindest durch ein Achtungssignal hätte reagieren müssen. Hingegen war er entgegen der Ansicht der Revision nicht gehalten, den Kurs nach Backbord zum linken Ufer zu ändern. Insoweit verkennt sie, daß bereits objektiv kein wichtiger Grund für ein Abweichen von der Grundregel des § 15.05 Nr. 1 BinSchStrO - WK - vorgelegen und es außerdem an einer Verständigung im Sinne des § 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK - zwischen dem Berg- und dem Talfahrer gefehlt hat. Auch ist die - verspätete - Abgabe des Schallzeichens „zwei kurze Töne" durch MS N schon deshalb für die Mitverschuldensfrage ohne Bedeutung, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr die Möglichkeit einer gefahrlosen Steuerbordbegegnung bestanden hat.
Das Berufungsgericht ist bei der Abwägung der Schwere des auf beiden Seiten obwaltenden Verschuldens (vgl. § 92 c Abs. 1 BinSchG) davon ausgegangen, daß den Beklagten zu 2 ein erheblicher Schuldvorwurf trifft.
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Das Verschulden der Führung des MS L wiege erheblich geringer als das des Beklagten zu 2. Es sei deshalb eine Schadensverteilung im Verhältnis von 3 (MS N) zu 1 (TMS L) angemessen.
Diese - im wesentlichen auf dem Gebiete tatrichterlicher Würdigung liegenden - Ausführungen lassen an sich keinen Rechtsfehler erkennen. Jedoch ist zu prüfen, ob die genannte Schadens-teilungsquote nicht aus dem Grunde einer Korrektur zu Lasten der Beklagten bedarf, weil den Beklagten zu 2 im Gegensatz zu den Darlegungen des Berufungsgerichts auch insoweit ein Verschulden an der Kollision trifft, als er mit dem Talfahrer Steuerbord an Steuerbord begegnen wollte, obwohl kein wichtiger Grund hierfür vorlag. Die Frage ist zu bejahen. Denn das Fehlen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 15.05 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO - WK - vergrößert die Schwere des Verschuldens des Beklagten zu 2 nicht unerheblich. Das gebietet es, die Schadensteilungsquote des Berufungsgerichts dahin zu ändern, daß die Beklagten 4/5 und die Klägerin (nur) 1/5 des streitigen Unfallschadens zu tragen haben.
...“