Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Kann ein Schiff, das überholen will, in einer Flußkrümmung nach den Stromverhältnissen das Überholmanöver ohne Eigen- oder Fremdgefährdung nicht abbrechen, wenn ein Entgegenkommer etwa in Sicht kommt, und könnte dann bei gleichzeitigem Überholen und Begegnen eine Gefahrenlage entstehen, so ist schon die Einleitung des Überholmanövers unzulässig.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 5. Juni 1967
II ZR 84/65
(Schiffahrtsgericht Mainz; Schifffahrtsobergericht Karlsruhe)
Zum Tatbestand:
Das dem Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 geführte leere MS V (689 t) überholte in der Bergfahrt auf dem Main das der Klägerin gehörende, auf 2,15 m abgeladene MS D (701 t) unter Abgabe der ordnungsgemäßen Signale mit Zustimmung des Schiffsführers von MS D auf dessen Backbordseite. Den beiden Bergfahrern kam im Bereich der bei km 25,5 befindlichen links- und rechtsmainischen Wehrrückenresfe, die in der Flutmitte nur eine Durchfahrt von ca. 50 m gestatten, ein 165 m langer Talzug, bestehend aus Schleppboot A und 2 kurz gekoppelten, leeren Kähnen auf 2 Längen, entgegen und fuhr zwischen dem an der rechtsmainischen Fahrwassergrenze befindlichen MS V und dem an der linksmainischen Fahrwassergrenze befindlichen MS D durch. Letzteres fuhr sich beim Passieren des Wehrrückenrestes linksmainisch fest und erlitt steuerbords eine Leckage mit Wassereinbruch.
Die Klägerin hat Schadensersatz mit der Begründung verlangt, daß das Raken durch fehlerhaftes Überholen des MS V verursacht worden sei. Die Beklagten sind der Ansicht, daß MS D, für das ausreichender Platz vorhanden gewesen sei, das linke Mainufer zu hart angehalten habe.
Das Schiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Schiffahrtsobergericht hat sie zu 2/3 dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach § 37 Nr. 1 BSchSO ist das Überholen nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt; der Oberholende hat sich zu vergewissern, daß sein Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann (§ 42 Nr. 1 a. a. 0.). Nach dem angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Lageplan GA II 93 beginnt die Flugkrümmung bei km 26,0 und vergrößert sich kurz vor km 25,3. Jedenfalls bei hohem Wasserstand ist es gefährlich, wenn bei km 25,3 ein rechtsmainisch fahrendes Schiff von der Größe des Fahrzeugs der Beklagten ein linksmainisch fahrendes Schiff von der Größe des MS D überholt und gleichzeitig ein Talzug den Schiffen begegnet, der zwischen ihnen durchfährt. Bei nur 50 m Fahrwasserbreite kann nur bei augerordentlich geschicktem Navigieren eine Kollision oder eine Grundberührung vermieden werden. Die Breite der Fahrzeuge (hier der Kahn eines Talzuges) kann bis zu 14 m betragen (BSchSO II. Teil Abschnitt II § 2 - Ma -). Rechnet man die Breite der beiden Bergfahrer mit zusammen 15 m dazu, so können die aneinander vorbeifahrenden Fahrzeuge für sich allein eine Breite von fast 30 m einnehmen, so daß der Zwischenraum vom Talzug zu jedem Bergfahrer nur 10 m betragen kann. Das ist aber in dieser scharfen Krümmung ganz unzureichend. Ein langer Talzug kann in dieser Krümmung nicht gestreckt fahren, ganz abgesehen davon, daß die einzelnen langen Kähne in der Krümmung ein erheblich breiteres Fahrwasser einnehmen, als ihrer Breite entspricht. Dazu kommt bei hohem Wasserstand das erhebliche Gefälle zum rechten Ufer, dem nur durch geschicktes Steuern Rechnung getragen werden kann. Auch wenn man mit der Revision unterstellt, daß MS V bei km 25,0 mit dem Überholen begann und dabei den Oberstrom auf 900 m einsehen konnte, muhte mit einer Begegnung in der Krümmung gerechnet werden. Denn das rechtsmainisch fahrende, wenn auch leere MS V konnte, wie auch der Unfallhergang gezeigt hat, in der starken Hangströmung nur verhältnismäßig langsam vorwärtskommen, so daß das Oberholen des im ruhigen Wasser fahrenden MS D längere Zeit in Anspruch nahm, obwohl D seine Fahrt verminderte. Ein Talzug, der sich oberhalb der Strecke befand, die angeblich auf 900 m eingesehen werden konnte, konnte sich bei dem hohen Wasserstand mit einer weit höheren Geschwindigkeit nähern (nach dem Sachverständigengutachten ca. 20 km/h). Hiernach muhte der beklagte Schiffsführer von V, auch wenn man die Behauptungen der Revision unterstellt, damit rechnen, daß während des Oberholvorgangs eine Begegnung bei km 25,3 mit einem Talzug stattfinden konnte. Ein solches Risiko einzugehen, ist nach der Binnenschifffahrtstraßen-Ordnung verboten; denn ein unzweifelhaft hinreichender Raum für Begegnen und gleichzeitiges Oberholen war an dieser Stelle nicht vorhanden.
Der Beginn des Oberholens bei km 25,0 mit 900 m Sicht nach Oberstrom war aber auch deshalb nicht zulässig, weil damit zu rechnen war, daß - wie hier tatsächlich geschehen - das gleichzeitige Begegnen und Überholen im Bereich des Wehrrückens stattfinden konnte. Am Wehrrücken betrug die Fahrwasserbreite nach der Feststellung des Berufungsgerichts „höchstens 50 m". Der Sachverständige hat sie auf höchstens 40 bis 45 m geschätzt.
Ein unzweifelhaft hinreichender Raum ist nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht bewiesen. Denn ein solcher ist dann nicht gegeben, wenn MS V, wie die Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 4. Januar 1964 S. 3 ff sagen, ebenso „hart und nachhaltig" wie der Talzug ausgewichen ist, wenn der Kapitän des Talzuges und der Beklagte zu 2 die Lage „mit großer Umsicht und Geschicklichkeit gemeistert" haben und der Kapitän des MS D die gleiche Möglichkeit hatte. Wenn nur durch risikobehaftetes Fahren die Lage gemeistert werden kann, so fehlt es an dem unzweifelhaft hinreichenden Raum.
Mit der Entschuldigung, MS V habe bei Insichtkommen des Talzuges das Überholmanöver nicht abbrechen können, können die Beklagten nicht gehört werden. Wenn diese Ansicht der Beklagten richtig ist, so ist dies nur ein Beweis dafür, daß schon die Einleitung des Oberholmanövers unzulässig war, weil die Sichtstrecke von angeblich 900 m nicht ausreichte. Kann ein Schiff, das überholen will, in einer Flugkrümmung nach den Stromverhältnissen das Überholmanöver ohne Eigen- oder Fremdgefährdung nicht abbrechen, wenn ein Entgegenkommer etwa in Sicht kommt (vgl. BGH VersR 1963, 1122), und könnte dann bei gleichzeitigem Überholen und Begegnen eine Gefahrenlage entstehen, so ist schon die Einleitung des Überholmanövers unzulässig. Denn der unzweifelhaft hinreichende Raum für die Vorbeifahrt muß für die ganze Dauer des Überholvorganges gegeben sein (BGH VersR 1964, 184, 185).
Unrichtig ist die Meinung der Revision, MS V habe deswegen überholen dürfen, weil der Schiffsführer von D durch Winken mit der Hand der Einleitung des Überholmanövers zugestimmt habe. Die Zulässigkeit der Einleitung dieses Manövers hat der Führer des überholenden Schiffes in eigener Verantwortung zu prüfen. Die Zustimmung des zu überholenden Schiffes befreit ihn nicht von dieser Verantwortung. Ebensowenig wird durch eine solche Zustimmung die Ursächlichkeit des Verschuldens des überholenden Schiffsführers, der sich nicht genügend vergewissert hat, daß das Überholen ohne Gefahr durchgeführt werden kann, in Frage gestellt, wenn es mangels unzweifelhaft hinreichenden Raumes zu einem Unfall kommt.
Rechtsirrig ist die Auffassung der Revision, das Berufungsgericht habe die Unzulässigkeit des Überholmanövers nicht annehmen dürfen, da beide Parteien die Zulässigkeit behauptet hätten. Das Gericht hat den festgestellten Sachverhalt rechtlich selbständig zu würdigen; an eine übereinstimmende Rechtsauffassung der Parteien ist es nicht gebunden.
Das Berufungsgericht hat ein Mitverschulden des Führers von MS D darin gesehen, daß dieser die von V angekündigte Überholung in einer Entfernung von nur 200 bis 250 m vor dem Wehrrücken zugelassen und kein Sperrsignal gegeben habe. Es hat dieses Mitverschulden bei der Schadensverteilung mit einem Drittel bewertet und insoweit die Klage (nunmehr rechtskräftig) abgewiesen.
Die Revision will ein weiteres Mitverschulden der Führung von MS D darin sehen, daß dieses Schiff nach Ankündigung des Überholmanövers seine Fahrt nicht noch stärker vermindert oder sogar abgestoppt habe mit der Folge, daß es dem Talzug unterhalb des Wehrrückens begegnet wäre.
Aber auch wenn man dies unterstellen wollte, wäre die vom Berufungsgericht vorgenommene Schadensverteilung als angemessen anzusehen, da auch dann noch das Verschulden der Führung von MS V erheblich überwiegt.
Die Revision will ferner ein - sogar grob fahrlässiges - fehlerhaftes Navigieren von MS D darin sehen, daß das Schiff zu weit nach Steuerbord ausgewichen sei und infolgedessen gerakt habe. Dieser Angriff ist unbegründet. Wenn die Revision meint, der Abstand zwischen dem Talzug und MS D habe am Wehrrücken ca. 30 m betragen, so übersieht sie, daß dieser angebliche Abstand sich nur auf die Distanz zwischen Talzug und dem festgefahrenen Schiff bezieht; ein Fahrwasser in dieser Breite stand dem MS D auch bei Unterstellung dieses Abstandes nicht zur Verfügung; dazu kommt, daß die Fahrwasserzeichen in einem Mindestabstand von 5 m passiert werden sollen (Kählitz a.a.O.). Im übrigen hat das Berufungsgericht einen Abstand von 30 m ohne Rechtsfehler nicht für bewiesen erachtet; auf eine bloße Unterstellung können sich die beweispflichtigen Beklagten nicht berufen. Schließlich hat das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, daß der Führer von MS D eine Kollision mit dem Talzug befürchten mußte, wenn er nicht so weit nach Steuerbord ausweichen würde."