Jurisprudentiedatabank

II ZR 276/91 - Bundesgerichtshof (-)
Datum uitspraak: 21.12.1992
Kenmerk: II ZR 276/91
Beslissing: Urteil
Language: Duits
Rechtbank: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Afdeling: -

Leitsatz:

Auch im Hinblick auf objektive Umstände, die bei der Beweiswürdigung eine Rolle spielen können und von der ersten Instanz nicht beachtet worden sind, darf das Berufungsgericht ohne erneute Vernehmung des Zeugen und abweichend von der Vorinstanz zumindest nicht zu dem Ergebnis kommen, daß der Zeuge in einem prozeßentscheidenden Punkt mangels Urteilsfähigkeit, Erinnerungsvermögen oder Wahrheitsliebe objektiv die Unwahrheit gesagt hat (§ 398 ZPO). 

Urteil des Bundesgerichtshofs

vom 21.12.1992

II ZR 276/91

(Oberlandesgericht - Schiffahrtsobergericht Karlsruhe) 

Zum Tatbestand:

Der Beklagte fuhr mit seinem beladenen Schiff „Elle Et Moi" (38,77 m x 5,06 m, 160 PS) auf der linken Neckarseite zu Berg. Er wurde auf der Backbordseite von dem ebenfalls beladenen MS „Lowi" (79 m x 8,20 m, 750 PS) überholt. Als MS „Lowi" ca. 150 m vor dem Beklagten fuhr, kam das leere MS „Lore Krieger" (105 m x 11 m, 1150 PS) zu Tal. Der Schiffsführer der „Lore Krieger" bekam Bedenken, ob die Begegnung gefahrlos von­statten gehen könne (nach seiner Behaup­tung, weil die „Elle Et Moi" plötzlich den Kurs gewechselt und ihm die Fahrt versperrt habe). Er hat deshalb die Maschinen ge­stoppt und „zurückgeschlagen". Die „Lore Krieger" wurde durch dieses Manöver nach rechts abgetrieben und geriet in das Fahr­wasser der am rechten Flußrand entgegen­kommenden „Lowi". Der Schiffsführer der „Lowi" bemerkte das, stoppte ebenfalls die Maschinen und schlug gleichfalls zurück. Dadurch wurde die „Lowi" auch etwas nach rechts von ihrem Kurs abgetrieben zu der „Lore Krieger" hin. Die beiden Schiffe stie­ßen zusammen und wurden beide beschä­digt. Die Klägerin verlangt Ersatz ihres eige­nen an der „Lore Krieger" entstandenen Schadens und außerdem - aus abgetretenem Recht - Ersatz des Schadens an der „Lowi". Das Schiffahrtsgericht hat den Klagean­spruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Berufungsgericht hat die Kla­ge abgewiesen. Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des erst­instanzlichen Urteils. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Schiffahrtsobergerichts aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückver­wiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

,,....Das Schiffahrtsgericht hat es auf­grund der Aussagen der Zeugen M. und S. - entgegen der Aussage der Ehefrau des Be­klagten - als erwiesen angesehen, daß der Beklagte plötzlich und unerwartet vom lin­ken zum rechten Neckarufer gesteuert habe, als die Schiffe der Parteien nur noch ca. 400 m voneinander entfernt gewesen seien. Durch dieses nach § 6.03 Abs. 3 der Bin­nenschiffahrts-Straßen-Ordnung verbotene Fahrmanöver habe der Beklagte - so meint das Schiffahrtsgericht - die Kollision der beiden Schiffe verursacht. Ohne die Zeugen erneut zu vernehmen, hat das Berufungsgericht die Klage abge­wiesen mit der Begründung, es bleibe un­klar, wie das Schiff des Beklagten in der entscheidenden Phase weitergefahren sei. Die Darstellung des Beklagten, er habe sei­nen Kurs konsequent beibehalten und sei erst - in seiner Fahrtrichtung - nach links abgetrieben worden, als er die Maschinen gestoppt habe, weil er gesehen habe, daß das vor ihm fahrende Schiff und das entge­genkommende Schiff zu kollidieren droh­ten, sei nicht widerlegt. Die Revision rügt zu Recht, daß das Be­rufungsgericht gegen § 398 ZPO verstoßen hat. Es hätte von der Beweiswürdigung des Schiffahrtsgerichts nicht abweichen dürfen, ohne zumindest den Zeugen M. selbst zu vernehmen. Zwar stellt es § 398 Abs. 1 ZPO grund­sätzlich in das Ermessen des Berufungsge­richts, ob es einen im ersten Rechtszug ge­hörten Zeugen erneut vernehmen will oder nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dieses Ermessen je­doch gebunden und das Berufungsgericht zur erneuten Vernehmung des Zeugen ver­pflichtet, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders beurteilen will als die Vorinstanz, wenn es die protokollierte Aussage für un­genau und deshalb präzisierungsbedürftig hält oder wenn es die protokollierte Aussa­ge eines Zeugen anders verstehen will als der Richter der Vorinstanz (vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 29. Januar 1991 - XI ZR 75/90, WM 1991, 963, 964; Urt. v. 19. lud 1991 - VIII ZR 116/90, WM 1991, 1896, 1897 = NJW 1991, 3285, jew. m.N.). In der Literatur wird die Meinung vertreten, eine erneute Vernehmung des Zeugen sei entbehrlich, wenn das Berufungsgericht aus objektiven Gründen von der Beweiswürdi­gung des Erstrichters abweiche, ohne daß es hierbei auf die subjektive Glaubwürdig. keit des Zeugen entscheidend ankomme (so Zöller/Stephan, ZPO, 17. Aufl. 1991, § 398 Rdn. 4 m.N.; Pantle, NJW 1987, 3160, 3162). Ob dieser Literaturmeinung zu folgen ist, hat der Bundesgerichtshof mehrfach offengelassen (zuletzt aaO WM 1991,1896, 1897 =NJW 1991, 3285, 3286). Die Frage braucht auch im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann nämlich allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheits­liebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen. Auch im Hinblick auf objektive Umstände, die bei der Beweiswürdigung eine Rolle spielen können und von der er­sten Instanz nicht beachtet worden sind, darf das Berufungsgericht aber ohne erneute Vernehmung des Zeugen und abweichend von der Vorinstanz zumindest nicht zu dem Ergebnis gelangen, daß der Zeuge in einem prozeßentscheidenden Punkt mangels Ur­teilsfähigkeit, Erinnerungsvermögen oder Wahrheitsliebe objektiv die Unwahrheit gesagt hat (BGH aaO WM1991, 1896, 1898 = NJW 1991, 3285, 3286). Das Berufungsgericht begründet seine abweichende Beweiswürdigung damit, im Gegensatz zu der Annahme des Erstrich­ters sei die Aussage des Zeugen S. ange­sichts der unstreitigen Entfernungsangaben - also aufgrund objektiver Umstände - nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen mit der Darstellung des Zeugen M. Das ändert aber nichts daran, daß das Schiffahrtsge­richt die Aussagen des Zeugen M. unein­geschränkt für glaubhaft gehalten hat, wäh­rend das Berufungsgericht es zumindest für möglich hält, daß der Zeuge M. die Un­wahrheit gesagt hat. Laut Protokoll des Schiffahrtsgerichtes vom 18. August 1989 hat der Zeuge M. ausgesagt, nach der Ra­darauswertung sei eine Begegnung mit der „Lowi" Steuerbord/Steuerbord und mit der „Elle Et Moi" Backbord/Backbord möglich gewesen (d.h.: er hätte zwischen den bei­den entgegenkommenden Schiffen hin­durchfahren können). Bei der weiteren An­näherung habe er dann festgestellt, daß die „Elle Et Moi" ohne Absprache den Kurs gewechselt und von der linken Neckarseite auf die rechte Neckarseite hinübergefah­ren sei. Zu diesem Zeitpunkt sei er etwa 400 Meter entfernt gewesen. Das sei für ihn der Anlaß gewesen, die Maschine abzustellen und dann „zurückzumachen". Das Schiff­fahrtsgericht hat eindeutig zu erkennen ge­geben, daß es diese Darstellung des Zeu­gen M. für richtig hält. Davon abweichend hält es das Berufungsgericht für unklar, wie die „Elle Et Moi" zu diesem Zeitpunkt wei­tergefahren sei. Diese Annahme des Beru­fungsgerichts ist unvereinbar mit der Beur­teilung des Schiffahrtsgerichts, die Aussa­ge des Zeugen M. sei glaubhaft. Zu diesem Beweisergebnis hätte das Berufungsgericht nicht kommen dürfen, ohne den Zeugen M. selbst zu vernehmen."


Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1993- Nr.18 (Sammlung Seite 1438 f.); ZfB 1993, 1438 f.