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Leitsätze:
1) Ist durch das Verhalten der Großschiffahrt eine Gefahrenlage entstanden, so ist sie verpflichtet, bei der Sicherung des Verkehrs auch die Kleinfahrzeuge im Auge zu haben. Ein 6,40 m langes und mit einem 180 PS-Motor ausgerüstetes Sportboot ist als Schiff im Sinne des Binnenschiffahrtsgesetzes anzusehen.
2) Der Führer eines Sportbootes muß bei der nächlichen Fahrt auf einer Schiffahrtsstraße die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs so bemessen, daß er vor solchen Hindernissen rechtzeitig anhalten oder ausweichen kann, mit deren plötzlichem Auftreten nach allgemeiner Erfahrung zu rechnen ist.
3) Fährt ein Sportboot gegen einen zum Losturnen eines festgekommenen Fahrzeugs benutzten Strang, so liegt kein Zusammenstoß von Schiffen vor. Hingegen ist der Fall einer sogenannten Fernschädigung gegeben.
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 17. Dezember 1973
II ZR 20/72
(Rheinschiffahrtsgericht DuisburgRuhrort; Rheinschiffahrtsgericht Köln)
Zum Tatbestand:
Im Juni 1965 versuchten abends das dem Beklagten zu 3 gehörende und von ihm geführte MS R sowie das den Beklagten zu 4 gehörende und von einem dieser Miteigentümer geführte MS K das rechtsrheinisch bei Strom-km 736,5 auf Grund gekommene, dem Beklagten zu 1 gehörende und vom Beklagten zu 2 geführte MS L bergwärts zur Strommitte hin loszuturnen. Bei Dunkelheit hatte MS L die Lichter eines Stilliegers, während MS R und MS K die Fahrtlichter und an der Steuerbordseite das weiße Blinklicht gesetzt hatten. Etwa um 23 Uhr prallte das zu Tal kommende Kajüt-Motorboot S (180 PS; 75 km/Std.) des Klägers gegen den 26 mm starken Turnstrang zwischen Steuerbordvorschiff des MS „Labor" und Backbordvorschiff des MS R. Der Strang durchschnitt den aus Mahagoniholz gebauten Rumpf des Sportbootes unterhalb der Deckwulst bis über die Bootsmitte hinaus (backbords auf 3,50 rn; steuerbords auf 5 m). Der Kläger erlitt schwere, eine andere mitfahrende Person tödliche Verletzungen.
Der Kläger verlangt u. a. Schadenersatz in Höhe von ca. 29000,- DM von allen Beklagten, weil sie nicht dafür gesorgt hätten, daß die durchgehende Schiffahrt die Sperrung der Durchfahrt zwischen MS L und MS R durch einen Strang rechtzeitig hätte erkennen können.
Die Beklagten sind der Ansicht, daß der Unfall auf weit überhöhte Geschwindigkeit des Motorbootes (etwa 60-65 km/Std.) zurückzuführen sei.
Die Vorinstanzen haben die Klage dem Grunde nach zu 2/3 für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision aller Parteien ist das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur andenweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Es ist anerkannt, daß die Großschiffahrt gegenüber Kleinfahrzeugen - das sind grundsätzlich alle Fahrzeuge von weniger als 15 Tonnen Tragfähigkeit; vgl. - § 1 Buchstabe i) RheinSchPolVO 1954; § 1.01 Buchstabe i) RheinSchPolVO 1970 - einen gewissen Vorrang besitzt. Das folgt aus der in den Schiffahrtspolizeiverordnungen enthaltenen Vorschrift, daß Kleinfahrzeuge allen übriger Fahrzeugen den für deren Kurs und zum Manövrieren notwendigen Raum lassen müssen und nicht verlangen können, dass diese ihnen ausweichen (§ 6 Satz 1 RheinSchPolVO 1954; § 6.02' Nr. 1 RheinSchPolVO 1970; § 6 Satz 1 BinnSchSO 1954 und 1966; § 6.02 Nr. 1 BinnSchSO 1971 ; § 6 Satz 1 MoselSchPolVO 1964; § 6.02 Nr. 1 MoselSchPolVO 1971 § 6.02 Nr. 1 Satz 1 DonauSchPolVO 1970). Jedoch läßt dieser Vorrang die Grundregel des Schiffsverkehrs unberührt, nach der die Schiffsführer über die Bestimmungen der einzelnen Schiffahrtpolizeiverordnungen hinaus alle,; Vorsichtsmaßregeln zu treffen haben, welche die allgemeine Sorgfaltspflicht und die berufliche Ubung gebieten, um gegenseitige±+ Beschädigungen der Fahrzeuge, Behinderungen der Schiffahrt sowie Beschädigungen der Ufer und von Anlagen jeder Art in der Schiffahrtsstraße oder an ihren Ufern zu vermeiden (vgl. auch Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 4. Aufi. € S. 169). Das wird in einzelnen dieser Verordnungen ausdrücklich hervorgehoben (§ 6 Satz 2 RheinSchPolVO 1954; § 6 Satz 2 BinnSchSO 1954 und 1966, § 6 Satz 2 MoseiSchPolVO 1964; § 6.02 Nr. 1 Satz 2 DonauSchPolVO 1970). Deshalb muß die Großschiffahrt auch gegenüber Kleinfahrzeugen alle Vorsichts- : maßregeln treffen, damit diese nicht beschädigt oder nicht mehr als unvermeidbar behindert werden. Das ist um so notwendiger, als die Zahl der Kleinfahrzeuge, insbesondere der Sportboote, sich laufend vergrößert und die Fahrt mit ihnen bei dem ständig t wachsenden Freizeit- und Erholungswert der Schiffahrtsstraßen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ist daher durch das Verhalten ü der Großschiffahrt eine Gefahrenlage entstanden, so ist sie verpflichtet, bei der Sicherung des Verkehrs auch die Kleinfahrzeuge im Auge zu haben. Hierzu kann es notwendig sein, andere oder weitergehende Maßnahmen als solche zu ergreifen, die allein zum Schutze der Großschiffahrt erforderlich sind.
Nach dem angefochtenen Urteil hat der Turnstrang zwar nicht die amtliche Fahrrinne, jedoch einen Teil des rechtsrheinischen Fahrwassers gesperrt. Dort war, wie das Berufungsgericht näher dargelegt hat und von der Revision der Beklagten nicht bezweifelt werden kann, mit Kleinfahrzeugen - auch bei Nacht - zu rechnen. Deshalb war es geboten, sie vor den Gefahren zu schützen, die ihnen durch den Turnstrang drohten.
Ob hierfür sämtliche Maßnahmen geeignet und zulässig waren, die das Berufungsgericht aufgezählt hat, kann offenbleiben. Denn auch die Revision der Beklagten kann nicht ernsthaft in Frage stellen, daß es in der bestehenden Gefahrensituation nicht nur naheliegend, sondern auch ganz einfach gewesen wäre, den Turnstrang mit dem Scheinwerfer anzustrahlen und, falls erforderlich, seine Wahrnehmbarkeit noch dadurch zu erhöhen, daß an ihm mehrere Lampen oder Tücher zur besseren Reflektion des Lichtes angebracht wurden Auch hätte dem Anleuchten des Turnstranges nicht § 25 RheinSchPolVO 1954 - jetzt: § 3.05 Nr. 1 RheinSchPolVO 1970 - entgegengestanden, der untersagt, andere als die in dieser Verordnung vorgesehenen Zeichen und Lichter zu gebrauchen oder sie unter anderen Umständen zu verwenden, für die sie vorgeschrieben oder zugelassen sind. Denn für die Benutzung des Scheinwerfers gilt die Sonderbestimmung des § 26 RheinSchPolVO 1954 - jetzt: § 3.07 RheinSchPolV0 1970 -. Danach ist es aber nur verboten, den Scheinwerfer so zu betätigen, daß er mit Zeichen oder Lichtern verwechselt werden oder deren Sichtbarkeit beeinträchtigen kann oder durch Blenden die Schiffahrt oder den Verkehr an Land gefährdet oder behindert.
Im übrigen ist zu diesem Punkte zu bemerken, daß die durch das Turnmanöver geschaffene Gefahrenlage ein ständiges Anleuchten des Turnstranges erfordert hätte, um Kleinfahrzeuge vor einem Aufprall zu schützen.
Mit Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß die Führer aller drei Motorgüterschiffe ihre allgemeine Sorgfaltspflicht schuldhaft verletzt haben. Da sie die Gefahrenlage, die zu dem Unfall des Sportbootes geführt hat, durch das gemeinsam vorgenommene Turnmanöver geschaffen haben, traf auch jeder, von ihnen die Pflicht, für eine hinreichende Sicherung des Verkehrs - sei es allein oder zusammen mit den Schiffern der jeweils beiden anderen Fahrzeuge - zu sorgen. Das unterlassen zu haben, gereicht jedem von ihnen zum Vorwurf, Deshalb sind sie und die Eigner der Fahrzeuge dem Kläger schadensersatzpflichtig (§ 4 RheinSchPolVO 1954; § 823 Abs. 1 und 2 BGB; §§ 3, 4, 114 BinnSchG).
Allerdings kann dem angefochtenen Urteil insoweit nicht gefolgt werden, als es meint, jeder der Beklagten hafte auch für den Sachschaden des Klägers als Gesamtschuldner (§ 840 BGB), weil hier die besonderen Bestimmungen des § 92 BinnSchG (in der bis zum 5. September 1972 geltenden Fassung) und des § 736 Abs. 1 HGB nicht anzuwenden seien, da das Sportboot „Sylvia" nicht als Schiff im Sinne des Binnenschiffahrtsgesetzes angesehen werden könne. Diese Ansicht berücksichtigt nicht, daß auch .solche Fahrzeuge, die, wie das 6,40 m lange Sportboot des Klägers, ihrer Größe nach im Grenzbereich zwischen „Schiff" und „Boot" liegen und bestimmungsgemäß nicht durch Muskelkraft, sondern durch andere Kräfte (hier: durch einen 180 PS starken Motor) fortbewegt werden, als Schiff im Sinne des Binnenschifffahrtsgesetzes zu betrachten sind (BGHZ 57, 309, 312; vgl. auch § 92 Abs. 3 BinnSchG n. F., worin es nunmehr ausdrücklich heißt, daß „als Schiffe im Sinne dieser Vorschriften auch Kleinfahrzeuge anzusehen sind").
Hingegen könnten sich Bedenken gegen eine Anwendung des § 92 BinnSchG a.F. in Verbindung mit § 736 Abs. 1 HGB daraus ergeben, daß in § 92 lediglich „von der Schadensersatzpflicht beim Zusammenstoße von Schiffen" die Rede ist, ein solcher aber nur dann gegeben ist, wenn Schiffe körperlich gegeneinander geraten (Schaps/Abraham, Das deutsche Seerecht 3. Aufl. Anm. 9 vor § 734 HGB), was bei dem Aufprall eines Fahrzeugs gegen einen zwischen zwei anderen Fahrzeugen stehenden Strang nicht der Fall ist. Jedoch sieht § 92 BinnSchG a.F. auch die entsprechende Anwendung des § 738 HGB vor (in der bis zum Inkrafttreten des Seerechtsänderungsgesetzes vom 21. Juni 1972 geltenden Fassung). Diese Vorschrift besagt aber, daß die Bestimmungen über den Schaden durch den Zusammenstoß von Schiffen (§§ 734 ff HGB) entsprechend anzuwenden sind, wenn ein Schiff durch Ausführung oder Unterlassung eines Manövers einem anderen Schiffe oder den an Bord der Schiffe befindlichen Personen oder Sachen einen Schaden zufügt, ohne daß ein Zusammenstoß stattfindet. So liegt es hier. Denn der Schaden, dessen Ersatz der Kläger von den Beklagten verlangt, steht in einem adäquaten Zusammenhang mit dem Turnmanöver. Zum Mitverschulden des Klägers hat das Berufungsgericht ausgeführt: Der Kläger, der die volle Verantwortung für Kurs und Geschwindigkeit des Sportbootes getragen habe, habe wegen der Dunkelheit eine so geringe Geschwindigkeit einhalten müssen, daß das Sportboot auch einem plötzlich und unerwartet auftauchenden Hindernis hätte ausweichen können.Zwar ist es richtig, daß der Führer eines Sportbootes auf Grund seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht bei der nächtlichen Fahrt auf einer Schiffahrtsstraße die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs so bemessen muß, daß er vor solchen Hindernissen rechtzeitig anhalten oder ausweichen kann, mit deren plötzlichem Auftauchen nach allgemeiner Erfahrung zu rechnen ist. Insoweit mögen Bojen, Tonnen und Schwimmstangen, schlecht oder nicht beleuchtete Fahrzeuge oder größere im Wasser treibende Gegenstände in Betracht kommen. Zum Kreis derartiger Hindernisse gehört jedoch nicht ein Turnstrang, der in der Dunkelheit einen Teil des Fahrwassers sperrt und, wenn überhaupt, nur auf kürzeste Entfernung sichtbar ist. Denn die Schaffung eines solchen - nicht gesicherten - Hindernisses ist derart leichtfertig, daß hierauf ein Sportbootführer sein Augenmerk jedenfalls nicht ohne besonderen Grund richten muß. Fährt er deshalb, wie hier, gegen einen solchen Strang, so kann daraus allein nicht geschlossen werden, die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs sei zu hoch gewesen. Dazu hätte es vielmehr der eindeutigen - gegebenenfalls nach Anhörung eines Sachverständigen zu treffenden - Feststellungbedurft, daß die für das Sportboot mit 28 bis 30 km/st anzunehmende Geschwindigkeit überhöht war, weil dieses bei einer derartigen Geschwindigkeit unter Berücksichtigung der tatsächlich gegebenen Sichtverhältnisse nicht mehr in der Lage war, vor solchen Hindernissen zu stoppen oder sie rechtzeitig zu umfahren, mit deren plötzlichem Auftreten auf dem befahrenden Stromabschnitt erfahrungsgemäß zu rechnen war. Selbst eine derartige Feststellung könnte aber nur dann zu einem zurechenbaren Mitverschulden des Klägers führen, wenn es bei einer nicht überhöhten Geschwindigkeit des Sportbootes möglich gewesen wäre, den Turnstrang zwischen MS L und MS R so rechtzeitig zu erkennen, daß der Aufprall oder zumindest dessen schwere Folgen zu vermeiden gewesen wären."