Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Zur Frage des Anscheinsbeweises für das Verschulden der Schiffsbesatzung, wenn infolge Bruchs des Ankergeschirrs ein Anker verlorengeht.
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 11. November 1976
II ZR 191/74
(Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Schiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Das bei der Klägerin versicherte TMS K geriet am 27. 5. 1969 während der Fahrt auf dem Datteln-Hamm-Kanal gegen einen in der nördlichen Kanalböschung steckenden Anker und wegen des dabei erhaltenen Lecks und infolgedessen eingedrungenen Wassers trotz Pumpenhilfe der Feuerwehr auf Grund.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten, den Eignern des MS T, Ersatz des an TMS K entstandenen Schadens in Höhe von über 105000 DM, weil MS T am 19. 3. 1964 den betreffenden Anker verloren habe, als es ihn beim Verlassen des Uentroper Hafens wegen des starken Seitenwindes habe setzen müssen.
Die Beklagten bestreiten jedes Verschulden. Zu dem Ankerverlust sei es gekommen, weil die Öse, die den Anker mit der Ankerkette verbunden habe, ohne jede Oberbeanspruchung infolge eines verborgenen Materialfehlers gebrochen sei. Trotz unverzüglicher, stundenlanger Suche sowohl der Besatzung von MS T als auch der Bediensteten der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung sei der Anker nicht gefunden worden. Zwischen dem Ankerverlust und der Havarie bestehe auch kein adäquater Ursachenzusammenhang.
Das Schiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Schifffahrtsobergericht hat den Anspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten ist das erstinstanzliche Urteil wieder hergestellt worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Da der Verlust eines Ankers in nicht hinreichend tiefem Wasser für die Schiffahrt eine Gefahrenlage schafft, ist in solchen Fällen die Beschädigung eines Schiffes durch den verlorenen Anker nicht ungewöhnlich. Daran ändert sich nichts, wenn - wie hier - zwischen dem Verlust des Ankers und der durch ihn verursachten Havarie eines Schiffes ein Zeitraum von gut fünf Jahren verstrichen ist oder wenn er, wie die Revision meint, „im Bereich einer ständig überwachten Wasserstraße" liegt. Denn solange ein Anker nicht gefunden und gekennzeichnet oder geborgen wird, ist die von ihm für die Schiffahrt ausgehende Gefahr nicht beseitigt. Das gilt selbst dann, wenn er zeitweilig eine Lage einnehmen sollte, in der es zu. keiner Berührung mit einem Schiff kommen kann, weil sich diese Lage jederzeit durch die Kraft der Strömung oder infolge Mitnehmens des Ankers durch Schiffe ändern kann. Wie die Erfahrung zeigt, wird auch die Gefahr, die durch den Verlust eines Ankers in nicht hinreichend tiefem Wasser für die Schiffahrt entsteht, nicht bereits dadurch aufgehoben oder entscheidend verringert, daß ein Dritter wegen der ihm für die Wasserstraße obliegenden Verkehrssicherungspflicht gehalten ist, diese in bestimmten Zeitabständen auf ihren sicheren Zustand für den Schiffsverkehr zu kontrollieren und auf die Meldung von dem Verlust eines Ankers hin nach ihm zu suchen (vgl. auch BGH, Urt. v. 6. 2. 69 - 11 ZR 168/67, VersR 1969, 509, 510).
...
Nach dem Senatsurteil vom 28. Juni 1962 - II ZR 112/60 (VersR 1962, 751, 752), das den - praktisch gleich liegenden Bruch einer Schlepptrosse bei einem gewöhnlichen Wendemanöver betrifft, geht der Anscheinsbeweis in einem derartigen Fall in zwei Richtungen: Entweder sei die Trosse aus Gründen, welche die für deren Zustand verantwortliche Schiffsführung zu vertreten habe, nicht in Ordnung gewesen oder die einwandfreie Trosse sei durch einen Navigationsfehler überbelastet worden. Jedoch, so heißt es in der Entscheidung weiter, „könnte" ein nicht erkennbarer Materialfehler der Trosse den Anscheinsbeweis auch im zweiten Punkte zu Fall bringen. Ähnlich wird in dem Senatsurteil vom 28. Februar 1969 - II ZR 174/67 (VersR 1969, 441), das sich mit dem Bruch eines Ankers und Ankerkette verbindenden Bolzens zu befassen hatte, ausgeführt, daß es zweifelhaft sein könne, ob dann, wenn der Schädiger einen versteckten Materialfehler behaupte, der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Schädigers spreche. In beiden Entscheidungen brauchte allerdings der Senat - aus hier nicht interessierenden Gründen - die jeweils angesprochene Frage nicht abschließend erörtern. Sie ist dahin zu beantworten, daß bei dem Bruch eines Teils des Ankergeschirrs oder einer Trosse, der einen verborgenen Materialfehler aufweist, der Anscheinsbeweis für jedes schuldhafte Verhalten der Schiffsführung entfällt. Da der Bruch auch auf der fehlerhaften Beschaffenheit des gebrochenen Teils beruhen kann, ist damit die Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs gegeben. Dem steht hier, wie das Berufungsgericht anscheinend meint, nicht entgegen, daß die Öse, die aus einem „äußerst alterungsanfälligen und zum Sprödbruch neigenden Werkstoff" bestanden hat, infolge einer schlag- oder ruckartigen Beanspruchung gebrochen ist. Zu einer solchen Beanspruchung kann es beispielsweise auch kommen, wenn ein Schiff, wie es hier der Fall war, mit dem Anker abgefangen werden muß, um ein Verwehen in einer Hafenausfahrt durch Seitenwind zu vermeiden.
Da nach den vorstehenden Ausführungen kein Anscheinsbeweis zu Gunsten der Klägerin für ein schuldhaftes Verhalten der Führung des MS T streitet, könnte sie mit der Klage nur dann Erfolg haben, wenn sie ein solches Verhalten im einzelnen dargetan hätte. Daran fehlt es. Das gilt auch, soweit die Klägerin der Führung des MS T vorwirft, sie habe es pflichtwidrig unterlassen, den verlorenen Anker von einem Taucher suchen zu lassen. Hierauf hatten die Beklagten erwidert, der Einsatz eines Tauchers, den übrigens auch die Wasser- und Schiffahrtsverwaltung bei ihrer eigenen Nachsuche nicht herangezogen habe, wäre unsachgemäß und zwecklos gewesen, weil das Wasser im Bereich der Ausfahrt des Uentroper Hafens derart verschmutzt und der dortige Grund derart schlammig sei, daß ein Taucher den in Verlust geratenen Anker nicht hätte finden können. Mit Rücksicht auf dieses Vorbringen der Beklagten hätte die Klägerin näher darlegen müssen, aus welchen Gründen trotzdem der Einsatz eines Tauchers geboten und erfolgreich gewesen wäre. Das ist nicht geschehen.
...“