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Leitsatz:
Auch beim Vorliegen eines unzulässigen Überholmanövers hat der Geschädigte nachzuweisen, daß das Manöver für seinen Schaden ursächlich war. Dabei können ihm die Grundsätze des Anscheinsbeweises die Beweisführung erleichtern.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 13. Juli 1970
II ZR 163/69
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Der bei der Klägerin versicherte Kahn S näherte sich fast voll abgeladen im Schlepp des Bootes P linksrheinisch auf der Bergfahrt dem Bankeck. Zwischen diesem und einem weiter rechtsrheinisch zu Berg fahrenden Schleppzug, bestehend aus Vorspann, Boot und 3 beladenen Anhängen, fuhr überholend das TMS D hoch.
Außerdem führte an der Steuerbordseite des Philantschleppzuges das dem Beklagten zu 1 gehörende und von ihm geführte MS R, an dessen Bord sich der Beklagte zu 2 als Lotse befand, ein Überholmanöver an der Steuerbordseite des Philantschleppzuges durch. Etwa in Höhe des Bankecks scherte Kahn S zunächst nach Backbord, dann nach Steuerbord aus und geriet auf die Bank am linken Ufer.
Die Klägerin verlangt Ersatz der erstatteten Grundberührungsschäden, weil das Ausscheren des Kahnes S schuldhafterweise darauf beruhe, daß MS R den Kahn mit einem Seitenabstand von nur 6-10 m überholt, hierbei den Kahn zunächst mitgenommen und ihm sodann den Schraubenstrahl gegen das Steuerbordvorschiff geworfen habe.
Der Beklagte meint dagegen, daß das Ausscheren des Kahnes auf der Verlangsamung der Fahrt durch Boot P beruht habe.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat den Anspruch, soweit nicht verjährt, dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Auf deren Revision wurde das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Überholende die tatsächlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit seines Manövers beweisen muß (BGH VersR 1960, 594; 1964, 650; 1969, 658, 660). Die Anwendung dieser aus § 37 Nr. 1, § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO zu entnehmenden Beweisregel, entfällt im Streitfall nicht, wie die Revision meint, deshalb weil SK S aus dem Kurs seines Bootes gelaufen ist und damit nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises ein Verschulden der Führung des Kahnes anzunehmen sei. Zwar trifft es zu, daß beim Ausscheren eines Kahnes aus dem Kurs seines Bootes grundsätzlich der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, daß das Ausscheren durch fehlerhafte nautische Maßnahmen der Kahnführung, insbesondere durch falsche Bedienung des Ruders, verursacht worden ist (BGH VersR 1969, 991). Diese Regel hat aber nichts mit der Frage zu tun, wer die tatsächlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Überholmanövers zu beweisen hat.
Beim Zusammenstoß von Schiffen oder im Falle einer Fernschädigung hat grundsätzlich der Geschädigte das ursächliche Verschulden des angeblichen Schädigers zu beweisen (§ 92 BSchiffG, §§ 734, 735 und 738 HGB). Diesen Grundsatz beachtet das Berufungsgericht nicht hinreichend, wenn es meint, daß derjenige, der ein unzulässiges Überholmanöver ausführt, nachzuweisen habe, daß das Manöver für einen mit dem Überholvorgang im zeitlichen oder räumlichen Zusammenhang stehenden Schiffsunfall nicht ursächlich gewesen sei. Eine solche Änderung der Beweislage läßt sich nicht aus § 37 Nr. 1, § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO herleiten. Denn die genannten Bestimmungen legen dem Überholenden allein die Beweislast für die Zulässigkeit seines Manövers auf. Ebensowenig läßt sich die vom Berufungsgericht angenommene Umkehrung der Beweislast auf den Satz gründen, eine Änderung der Beweislage könne sich ergeben, wenn der angebliche Schädiger gegen eine ein bestimmtes Verhalten gebietende oder verbietende Rechtsvorschrift verstoßen habe, weiche die Vermeidung von Schiffsunfällen bezweckt (BGH VersR 1957, 194, 195). Dabei kann dahinstehen, ob dieser besonders in der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGZ 21, 104, 109; 31, 62, 64; 97, 13, 15) herausgestellte Satz nicht deshalb zumindest einer Einschränkung bedarf, weil er der sich aus den §§ 734, 735 HGB ergebenden Beweislastverteilung widerspricht. Denn als Ausnahmeregelung kann dieser Satz jedenfalls nicht auf Verkehrsvorschriften allgemeiner Art ausgedehnt werden. Um solche, die Zulässigkeit der Vorbeifahrt allgemein regelnde, Vorschriften handelt es sich aber bei § 37 Nr.1, § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO (vgl. auch Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß, 3. Aufl. S. 220). Im Streitfall haben daher nicht die Beklagten zu beweisen, daß ihr unzulässiges Überholmanöver für den Unfall des SK S nicht ursächlich war. Vielmehr hat die Klägerin nachzuweisen, daß die Beklagten durch ihr Verhalten das Ausscheren des Kahnes und dessen Grundberührung herbeigeführt haben, wobei ihr die Grundsätze des Anscheinsbeweises diese Beweisführung erleichtern können. Da das Berufungsgericht den Sach- und Streitstand aus dieser Sicht nicht geprüft hat und außerdem nicht auszuschließen ist, daß seine irrtümliche Auffassung über die Beweislage nicht ohne Einfluß auf die Beweiswürdigung geblieben ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Bei der erneuten Verhandlung der Sache können, wie auch die weiteren Rügen der Revision verdeutlichen, folgende Gesichtspunkte besondere Bedeutung erlangen:
1. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war das mit 400 t beladene MS R wegen der örtlichen Gegebenheiten und der Belegung des Reviers genötigt, in einem Seitenabstand von etwa 5 bis 10 m an SK S vorbeizufahren und damit den schweren, nahezu voll abgeladenen Kahn einer starken Druck- und Sogwirkung auszusetzen. Bei einer solchen Sachlage könnte aber, wir das Berufungsgericht gegebenenfalls zu prüfen haben wird, die allgemeine Erfahrung dahin gehen, daß der Überholende das Ausscheren des Kahnes bewirkt hat. Ist dem so, so wird das Berufungsgericht auch auf den bisher nicht näher geprüften Vortrag der Beklagten eingehen müssen, SK S sei allein deshalb ausgeschert, weil das Boot P die Fahrt verlangsamt habe und dadurch der Kahn ohne genügenden Druck auf dem Ruder in die starke Querströmung am Bankeck geraten sei. Denn dieses Vorbringen zeigt zumindest die Möglichkeit eines anderen, das Ausscheren des Kahnes bewirkenden, Geschehensablaufes auf. Es würde daher im Falle seiner Richtigkeit einen etwaigen Anscheinsbeweis dahin, daß MS R das Ausscheren des SK S verursacht habe, ausräumen.
2. Nach dem - wenn auch unterschiedlichen - Vorbringen der Parteien über den Unfallhergang kommt eine nautisch falsche Maßnahme der Führung des SK S, insbesondere ein Fehler beim Nachsteuern, als Ursache für das Ausscheren des Kahnes nicht in Betracht. Schon deshalb ist im Streitfall kein Raum für eine Anwendung des Grundsatzes, daß beim Ausscheren eines Kahnes aus dem Kurs seines Bootes regelmäßig der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, daß das Ausscheren durch einen Fehler der Kahnführung herbeigeführt worden ist.
3. Daß im Streitfall die Führung des Philantschleppzuges gegen § 107 Buchst. b RheinSchPVO verstoßen habe (und deshalb die Führung des Kahnes zu einem Eingreifen verpflichtet gewesen sei), ist nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht ersichtlich. Die genannte Vorschrift verbietet die Fahrt von Schleppzügen auf gleicher Höhe zwischen Bingen und St. Goar. Sie untersagt hingegen nicht, wie übrigens auch § 51 Nr. 2 und § 108 RheinSchPVO erkennen lassen, das gegenseitige Überholen von Schleppzügen innerhalb der genannten Strecke. Unter das Verbot des § 107 Buchst. b RheinSchPVO fällt es daher nicht, wenn bei einem Überholmanöver der überholende und der zu überholende Schleppzug vorübergehend nebeneinander fahren (vgl. Kählitz, Das Recht der Binnenschiffahrt, Bd. II § 51 RheinSchPVO Anm. II 1). Auch unterliegt es diesem Verbot, wie keiner weiteren Ausführung bedarf, nicht, wenn, wie im Streitfall, der überholende (P-) Schleppzug das Überholmanöver vor dessen Beendigung abbricht und nun seinerseits von dem zu überholenden (Braunkohle-) Schleppzug überholt wird.
4. Hingegen könnte ein Verstoß der Führung des Philantschleppzuges gegen die Vorschrift des § 42 Nr. 4 RheinSchPVO darin zu sehen sein, daß sie die Überholung des Braunkohleschleppzuges erst bei Beginn einer zur Unfallzeit zwischen km 556 und 553,7 für Schleppzüge bestehenden Überholverbotsstrecke abbrach, jedoch mit verringerter Geschwindigkeit weiterfuhr und hierdurch den Braunkohleschleppzug zwang, nun seinerseits den Philantschleppzug innerhalb der Verbotsstrecke zu überholen. Bejaht man diese Frage, so wird weiter zu prüfen sein, ob die Führung des SK S auf Grund eines derartigen Verstoßes der Schleppzugführung gehalten war, diese durch geeignete Maßnahmen, beispielsweise durch das Streichen der Fahrtflagge, aufzufordern, nicht vor einem vollständigen Passieren des Braunkohleschleppzuges in die Überholverbotsstrecke einzufahren. Hierbei wird auch in Betracht zu ziehen sein, daß der Eingriff eines Kranführers in die Befehlsgewalt eines Schleppzugführers nur ausnahmsweise in solchen Fällen wird in Frage kommen können, in denen das Verhalten des Schleppzugführers erkennbar gegen solche Vorschriften verstößt, welche die Sicherheit des Schiffsverkehrs bezwecken, und der Verstoß den Schleppzug oder andere Fahrzeuge im Revier gefährdet. Gerade zu dem letzten Punkte können im Streitfall aber deshalb erhebliche Zweifel bestehen, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts SK S nicht durch die mit verringerter Geschwindigkeit erfolgte Weiterfahrt des Philantschleppzuges ab km 556, sondern erst durch das bei km 555,9 von MS R eingeleitete Überholmanöver gefährdet wurde."