Jurisprudentiedatabank
Leitsätze:
1) Der Bergfahrer muß dem Talfahrer so viel Raum lassen, daß er auch an den Fahrzeugen, die er nach der Begegnung passieren muß, ohne Gefahr vorbeifahren kann.
2) Zu den Pflichten eines Schiffsführers, dessen Sicht bei der Ausfahrt aus einer Schleuse in das Schleusenunterwasser eingeschränkt ist.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 21. April 1969
II ZR 147/67
(Schiffahrtsgericht Dortmund; Schiffahrtsobergericht Hamm)
Zum Tatbestand:
In der Südkammer der Schleuse Herne-Ost wurden gemeinsam das auf 2 m abgeladene MS S das leere MS F und das leere, bei der Klägerin versicherte B zu Tal geschleust. In dieser Reihenfolge fuhren sie durch den bei km 37,300 beginnenden, 37-40 m breiten, in ostwestlicher Richtung verlaufenden Vorhafen der Südkammer, der in den gegen 100 m breiten Vorhafen für beide Schleusenkammern übergeht. Die Talfahrer begegneten zunächst steuerbords dem der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten Schubboot S mit dem leeren Schubleichter C (Gesamtlänge der Schubeinheit: 84,98 m Länge, 9,50 m Breite). Anschließend passierten sie das beladene MS A Backbord an Backbord. MS B stieß hierbei mit dem Backbordvorschiff gegen das Backbordvorschiff des hart an der südlichen Fahrwassergrenze fahrenden MS A, das daraufhin mit dem Steuerbordvorschiff gegen den Dalben Nr. 8 an der Südseite des Kanals prallte. Beide Schiffe und der Dalben wurden beschädigt.
Die Klägerin verlangt Schadensersatz in Höhe von etwa DM 57500 wegen nautischen Fehlverhaltens des Schiffsführers von S. Der Schubzug habe zunächst hinter einem Bergfahrer verhalten, sei nach der Ausfahrt der Talfahrer jedoch mit großer Geschwindigkeit in die südliche Hälfte des gemeinsamen Schleusenvorhafens hinübergewechselt, um vor dem MS A in die Südkammer einzufahren. Dadurch seien MS F und MS B gezwungen gewesen, ihren Kurs von Fahrwassermitte unvermittelt nach Backbord zu ändern. B habe das MS A nicht mehr freifahren können. Das Schubboot habe das Blinklicht für eine Steuerbordbegegnung zu spät eingeschaltet.
Die Beklagten bestreiten den Klageanspruch. MS B sei nicht zur unvermittelten Kursänderung gezwungen worden und habe für die Begegnung eine Fahrwasserbreite von mindestens 20 m zur Verfügung gehabt. Zwischen der Schubeinheit und dem nachfolgenden MS A habe ein Abstand von nicht weniger als 200 m bestanden. Der Unfall sei darauf zurückzuführen, daß B beide Bergfahrer zu spät ausgemacht habe und sich auf die von MS A verlangte Backbordbegnung nicht mehr habe einrichten können.
Das Schiffahrtsgericht hat den Klageanspruch in vollem Umfang, das Schiffahrtsobergericht hat ihn zu 1/3 dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Klägerin wurde der Klageanspruch zu 3/4 für gerechtfertigt gehalten.
Aus den Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht wirft dem Beklagten zu 2 eine Verletzung der ihm nach § 4 BSchSO obliegenden allgemeinen nautischen Sorgfaltspflichten vor. Es meint, er habe in den Vorhafen der Südkammer erst nach der Begegnung mit den Talfahrern hineinfahren dürfen, da der Abstand zwischen der Schubeinheit und MS A keine gefahrlose Begegnung zwischen diesem Schiff und MS B gestattet habe. Der Führung des letztgenannten Fahrzeugs lastet das Berufungsgericht an, sie habe aus Unachtsamkeit beide Bergfahrer zu spät bemerkt, sei bei der Begegnung mit dem Schubverband ohne Notwendigkeit bis in unmittelbare Nähe der Dalben am Südufer ausgewichen und habe hierdurch die Manövrierfähigkeit ihres Schiffes so weitgehend beeinträchtigt, daß sie der Kursweisung von MS A nicht mehr habe folgen können.
Diese Fehler wiegen nach der Auffassung des Berufungsgerichts doppelt so schwer wie die beanstandete Handlungsweise des Beklagten zu 2.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten nicht in allen Punkten einer rechtlichen Nachprüfung stand.
Zu Recht rügt die Klägerin, daß das Berufungsgericht keinen Verstoß des Beklagten zu 2 gegen § 38 Nr. 1 Abs. 1 BschSO angenommen hat. Nach dieser Vorschrift müssen Bergfahrer unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs Talfahrern einen geeigneten Weg freilassen. Das bedeutet auch, daß der Bergfahrer dem Talfahrer so viel Raum lassen muß, daß er auch an den Fahrzeugen, die er nach der Begegnung passieren muß, ohne Gefahr vorbeifahren kann, (BGH VersR 1965, 44, 45). Dies war vorliegend nicht der Fall. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Führung des MS B durch das Hineinfahren der Schubeinheit in den Vorhafen der Südkammer zu einem doppelten Ausweichmanöver mit der Notwendigkeit eines gewissen „Schlangenfahrens" innerhalb eines Zeitraums veranlaßt worden, der für eine gefahrlose Begegnung nicht ausgereicht hat.
MS B fuhr leer und hinter zwei anderen Schiffen durch den Vorhafen der Südkammer zu Tal. Erfahrungsgemäß war damit die Sicht für seine Führung in das Unterwasser der Schleuse durch das eigene hochstehende Vorschiff und durch das leer voranfahrende und damit ebenfalls hoch aus dem Wasser ragende MS F beeinträchtigt. Hinzu kommt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine weitere Sichtbehinderung der Führung des MS B durch die Schleuseninsel in Richtung des nördlichen Teils des gemeinsamen Vorhafens. Dabei mußte die Führung des MS B damit rechnen, daß auch von dort Bergfahrer in den kammer zur Bergschleusung noch nicht frei war und vor der Süd MS B aufzustellen. Wäre dies geschehen, so hätte die Führung des MS B zumindest um eine Schiffslänge früher die von dem Manöver der Schubeinheit ausgehende Gefahrenlage erkennen und ihr durch die Abgabe eines Achtungssignals bei gleichzeitiger Herabsetzung der eigenen Geschwindigkeit begegnen können.
Das Berufungsgericht hat bei der Abwägung des Verschuldens der Führung der Schubeinheit und des MS B nicht hinreichend berücksichtigt, daß in erster Linie der Beklagte zu 2 die Gefahrenlagen geschaffen hat, in der es zu dem Schiffsunfall gekommen ist. Es hat ferner nicht genügend beachtet, daß der Beklagte zu 2 ohne Rücksicht auf die Sicherheit der aus der Südkammer ausfahrenden Talfahrer unter Einsatz der vollen Maschinenkraft seines Schubbootes in den Vorhafen dieser Kammer eingefahren ist, um sie vor dem zu Berg kommenden MS A, wie die Beklagten in den Vorinstanzen nicht in Abrede gestellt haben, der Schubeinheit zu keinem Zeitpunkt den Schleusenvorrang streitig gemacht oder in sonstiger Weise nautisch falsch gehandelt hat. Es kann deshalb nicht bei der vom Berufungsgericht vorgenommenen Schadensverteilung bleiben."