Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Zu den Pflichten des Schleppzugführers und des Anhangschiffers beim Aufpacken eines nahezu steuerunfähigen Anhangs am Rande einer Schiffahrtstraße.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 6. Oktober 1977
II ZR 141/76
(Rheinschiffahrtsgericht Mainz; Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)
Zum Tatbestand:
Die Sache befand sich bereits einmal im Revisionsverfahren (s. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. März 1974 – II ZR 48/72 - ZfB 1974, S. 334).
Hinsichtlich des Tatbestandes wurde in dem letztgenannten Urteil inhaltlich folgendes festgestellt:
Während das der Klägerin gehörende, beladene TMS V auf der Bergfahrt sich der linken Öffnung der Wormser Nibelungenbrücke näherte, packte oberhalb der Brücke das der Beklagten zu 1 gehörende und vom Beklagten zu 2 geführte Schleppboot H das mit Maschinenschaden am linken Ufer liegende, dem Beklagten zu 3 gehörende und von ihm selbst geführte MS H auf, das hierbei in wechselnde Schräglagen geriet. Beim Ausweichen schlug TMS V mit der Backbordseite in Höhe von Raum IV gegen den rechten Pfeiler der linken Brückenöffnung, fiel um diesen herum und wurde beschädigt. Im übrigen wird auf die Veröffentlichung in der ZfB 1974, S. 334 Bezug genommen.
Nachdem auf Revision der Klägerin das Berufungsurteil aufgehoben und zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden war, hat dieses den Klageanspruch gegenüber den Beklagten zu 1 und zu 2 dem Grunde nach zu einem Viertel für gerechtfertigt erklärt, es im übrigen bei der Abweisung der Klage belassen.
Auf die Revision der Klägerin ist der Klageanspruch gegenüber den Beklagten zu 1 und zu 2 dem Grunde nach jeweils zur Hälfte für gerechtfertigt erklärt worden. Im übrigen wurde die Revision sowie die Anschlußrevision der Beklagten zu 1 und zu 2 zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Packt ein Schleppboot auf einer Schiffahrtsstraße, wie hier dem Rhein, einen Anhang auf, so ist der Führer des Bootes auch gegenüber dem durchgehenden Verkehr zu sorgfältigem Verhalten verpflichtet. Insbesondere muß er verhindern, daß der Anhang während des Manövers mehr als unvermeidbar zum Fahrwasser hin abgeht, da hierdurch der durchgehende Verkehr behindert oder gefährdet werden kann. Diese Verpflichtung, die sich aus der allgemeinen nautischen Sorgfaltspflicht der Schiffsführer (§ 4 RheinSchPolVO 1954, § 1.04 RheinSchPolVO 1970) ergibt, hat der Beklagte zu 2 verletzt. Das folgt aus der verfahrensrechtlich einwandfreien Feststellung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 2 hätte den Anhang seines Bootes, der infolge Maschinenschadens und der nur kurzen, für hohenWasserdruck der Schiffsschraube ausgelegten Ruderblätter selbst lediglich eine geringe Steuerfähigkeit besessen habe, durch Verkürzen des Schleppstrangs wesentlich näher am linken Ufer halten, somit verhindern können, daß MS H bis zu 50 m aus dem linken Ufer geraten sei. Auch liegt es auf der Hand, daß durch die Unterlassung des Beklagten zu 2 für TMS V, das linksrheinisch zu Berg kam und die - der Bergfahrt zur Benutzung empfohlene - linke Brückenöffnung anhielt, eine unklare Lage entstand, zumal das Aufpackmanöver nur etwa 90 m oberhalb der 90 m breiten linken Öffnung der Nibelungenbrücke erfolgte. Das alles berücksichtigt die Anschlußrevision nicht hinreichend, soweit sie jedes Verschulden des Beklagten zu 2 daran verneint, daß TMS V beim Ausweichen nach Backbord gegen den stromseitigen Pfeiler der linken Brückenöffnung geschlagen ist. Außerdem ist es nicht richtig, daß die Gefährdung des Bergfahrers durch das hin und her pendelnde MS H für den Beklagten zu 2 nicht erkennbar gewesen sei. Jeder Schiffsführer weiß, daß das mehrfache Verfallen eines Anhangs in wechselnde Schräglagen für die durchgehende Schiffahrt eine unsichere und damit gefährliche Lage herbeiführen kann. Weiter muß jeder Schiffer in einem solchen Falle damit rechnen, daß es zu Fehlreaktionen anderer Fahrzeuge kommen kann.
...
Die Revision sieht ein zusätzliches Verschulden des Beklagten zu 2 darin, daß er es unterlassen habe, die Vorausfahrt mit dem Schleppzug vor dem sich nähernden Bergfahrer schleunigst aufzunehmen und jedenfalls auf diesem Wege die Gefährdung der durchgehenden Schiffahrt durch seinen Anhang zu beseitigen. Insoweit sei bedeutsam, daß einer sofortigen Abfahrt des Schleppzuges vor dem herankommenden TMS V nichts entgegengestanden habe. Die Fahrzeichen seien auf dem Schleppzug bereits gesetzt gewesen, der Bergfahrer habe ihm durch Fahrtverlangsamung für den Antritt der Reise mehr als ausreichend Zeit gelassen. Das alles mag zutreffen, vergrößert jedoch nicht, wie die Revision meint, die Schwere des auf seiten des Beklagten zu 2 obwaltenden Verschuldens. Insoweit ist ausschlaggebend, daß es der Beklagte zu 2 - sei es durch Nichtverkürzen des Schleppstrangs, sei es durch Nichtaufnahme der Fahrt - pflichtwidrig versäumt hat, das wiederholte Verfallen des MS H zu verhindern oder jedenfalls das mehrfache erhebliche Abgehen dieses Fahrzeugs nach Backbord und nach Steuerbord so einzuschränken, daß dadurch keine unsichere Lage mehr für die durchgehende Schiffahrt bestehen konnte.
...
Da sie (die Revision) selbst davon ausgeht, daß der Schleppzug ohne Gefahr vor dem sich der linken Offnung der Nibelungenbrücke nähernden TMS V die Vorausfahrt hätte aufnehmen können, kann dem Beklagten zu 3 nicht vorgeworfen werden, er hätte vor dem Passieren des Bergfahrers weder die Landdrähte lösen nach den Anker hochhieven dürfen. Ebensowenig trifft ihn an dem Abgehen seines Fahrzeugs zur Strommitte hin ein Verschulden. Dieses besaß, was auch die Revision nicht ernstlich bezweifeln kann, wegen des Ausfalls der Maschine und der auf den Schraubenstrom zugeschnittenen Ruderanlage selbst keine nennenswerte Steuerfähigkeit. Daß der Anhang sodann, als TMS V sich bereits in der linken Brückenöffnung befand, erneut eine kräftige Pendelbewegung machte und dadurch den Bergfahrer zu dem Ausweichen nach Backbord veranlaßte, geht aber allein zu Lasten des Beklagten zu 2. Ihm - als Schleppzugführer - oblag es, den praktisch steuerunfähigen Anhang so zu manövrieren, daß keine gefährliche Situation für den herankommenden Bergfahrer entstehen konnte. Dazu waren eine Verkürzung des Schleppstrangs oder, wie die Revision außerdem meint, eine rechtzeitige Fahrtaufnahme vor dem sich der linken Brückenöffnung nähernden TMS
V erforderlich, somit Maßnahmen, die dem nautischen Verantwortungsbereich des Schleppzugführers und nicht dem des Anhangschiffers zuzurechnen sind. Bei allem, was die Revision in diesem Zusammenhang für ein Verschulden des Beklagten zu 3 vorbringt, berücksichtigt sie nicht genügend, daß die Leitung eines Schleppzuges bei dem Führer des Bootes liegt (§ 2 Nr. 4 RheinSchPolVO 1954; § 1.02 Nr. 5 RheinSchPolVO 1970; vgl. auch BGHZ 28, 84, 87) und damit dieser für die richtige Bemessung der Stranglänge zu sorgen (Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 4. Aufl. S. 257) oder den Beginn der Fahrtaufnahme zu bestimmen hat. Allerdings entbindet der nautische Oberbefehl des Schleppzugführers einenn Anhangschiffer nicht von der Pflicht, den ersteren auf eine von ihn nicht bemerkte oder für ihn nicht erkennbare Gefahrenlage aufmerksam zu machen. Hier lag es jedoch klar auf der Hand, daß das wiederholte Verfallen des MS „Helena" in wechselnde Schräglagen den durchgehenden Schiffsverkehr gefährden konnte.
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Nach Ansicht des Berufungsgerichts trifft die Führung des TMS V, „wie bereits im ersten Berufungsurteil ausgeführt", ein Mitverschulden an dem Unfall ihres Fahrzeugs. Ihr sei „in Obereinstimmung mit dem in der neuerlichen Berufungsverhandlung eingeholten und auch über das engere Beweisthema hinaus verwertbaren Gutachten" des Sachverständigen B eine Reihe schwerwiegender Fehler bei der Beobachtung und Einschätzung der Lage sowie bei der Wahl und Ausführung der erforderlichen Manöver vorzuwerfen.
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....kann die Revision keinen Erfolg haben, soweit sie eine Verletzung des § 448 ZPO durch das Berufungsgericht rügt. Dieses hat die Beklagten zu 2 und zu 3 gemäß Beweisschluß vom 4. Februar 1975 „über das Aufpackmanöver bei dem streitigen Unfall vom 5. Januar 1967 von Amts wegen als Parteien vernommen". Selbst wenn darin ein Verstoß gegen § 448 ZPO gelegen haben sollte, weil die Vorschrift nicht, wie die Revision meint, die Parteivernehmung „zur Klärung des Sachverhalts oder eines bestimmten Sachverhaltsausschnittes" gestatte, so steht der Rüge die Vorschrift des § 295 Abs. 1 ZPO entgegen, weil die Klägerin den - angeblichen - Verfahrensfehler in der der Vernehmung folgenden mündlichen Verhandlung nicht gerügt hat. Nun meint allerdings die Revision, zu Gunsten der Klägerin greife § 295 Abs. 2 ZPO ein; eine Partei könne auf die Befolgung der Vorschrift des § 448 ZPO wirksam nicht verzichten, andernfalls werde der Beibringungsgrundsatz, also ein Grundprinzip des Zivilprozesses, verletzt. Dabei übersieht sie, daß § 295 Abs. 1 ZPO auch auf Verletzungen des Beibringungsgrundsatzes durch das Gericht anwendbar ist (Baumbach/Lauterbach, ZPO 35. Aufl. Grundz. v. § 128 Anm. 3 F und § 295 Anm. 3 A), weil es im Belieben der Parteien liegt, ob sie es zulassen wollen, daß sich das Gericht Tatsachenstoff selbst beschafft.
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Ferner kann der Revision nicht gefolgt werden, soweit sie meint, das Berufungsgericht habe gegen die §§ 402f ZPO verstoßen.
Diesen Verstoß erblickt die Revision darin, daß das Berufungsgericht „rechtliche Würdigungen" des Sachverständigen B zu den Sorgfaltspflichten und -verstößen der Führung des TMS V übernommen habe, statt sich bei der Verwertung des Gutachtens auf die dem Sachverständigen in dem Beweisbeschluß vom 7. Februar 1975 allein gestellte Frage zu beschränken, was das Verfallen des MS H in wechsende Schräglagen bewirkt habe. Sicher wäre eine derartige Verwertung zu beanstanden, wenn sie erfolgt wäre, ohne daß die Klägerin zuvor Gelegenheit gehabt hätte, ihrerseits zu den Vorwürfen des Sachverständigen gegenüber der Führung des TMS V Stellung zu nehmen. Das vermag die Revision jedoch nicht zu rügen. Weiter mag es zutreffen, daß es mit den §§ 402 f ZPO nicht zu vereinbaren wäre, wenn das Berufungsgericht bestimmten Rechtsansichten des Sachverständigen ohne jede eigenverantwortliche Prüfung gefolgt wäre. Dafür gibt das angefochtene Urteil aber keinen hinreichenden Anhalt.
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Allerdings ist der Revision zuzugeben, daß dem Bergfahrer nicht vorgeworfen werden kann, er habe es pflichtwidrig unterlassen, die mittlere Brückenöffnung zu benutzen. Der gegenteiligen Auffassung des Berufungsgerichts stehen bereits dessen weitere Ausführungen entgegen, wonach der Bergfahrer die Brücke und anschließend den Schleppzug gefahrlos hätte passieren können, wenn er die - der Bergfahrt empfohlene - linke Brückenöffnung in ihrer vollen Breite ausgenutzt hätte. Zudem durfte er mit Rücksicht auf den Vertrauensgrundsatz zunächst abwarten, ob der Schleppzugführer nicht alsbald seiner offenkundigen Pflicht nachkommen werde, seinen Anhang bis zur Abfahrt des Schleppzuges in der Nähe des linken Ufers zu halten. Insoweit ist auch bedeutsam, daß der Bergfahrer - nach dem angefochtenen Urteil bereits etwa 250 m unterhalb der Nibelungenbrücke die eigene Geschwindigkeit wegen des Aufpackmanövers und dem zur Strommitte hin verfallenden Anhang auf 2 km/st (= 33 m/min) verringert hatte und damit dem Schleppzugführer bis zum Herankommen des TMS V eine geraume Zeitspanne zur Verfügung stand, dem Verfallen seines Anhangs in wechselnde Schräglagen wirksam zu begegnen und ihn wieder in die Nähe des linken Ufers zu bringen. Nautisch fehlerhaft und vorwerfbar war es hingegen, daß der Bergfahrer etwa in der verlängerten Kiellinie des Schleppzuges in die linke Brückenöffnung hineinfuhr. Abgesehen davon, daß er zumindest jetzt nicht mehr damit rechnen konnte, der nur noch etwa 90 m oberhalb befindliche Schleppzug werde noch vor seiner Vorbeifahrt an diesem die Vorausfahrt aufnehmen, begab er sich mit diesem Manöver in eine Lage, in der seine Ausweichmöglichkeiten durch die Brückenpfeiler erheblich eingeschränkt waren und ihm außerdem jede rasche Reaktion auf ein erneutes Verfallen des Schleppzuganhangs wegen des am Unfalltag hohen Wasserstandes sowie wegen der starken Neerströmung im Brückenbereich gefährlich werden konnte. Falsch war es nach den rechtlich zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts sodann weiter, wie er im Brückenbereich auf das erneute Abgehen des MS H zur Strommitte hin reagiert hat. Auch läßt sich diese Reaktion nicht, wie die Revision meint, als eine Maßnahme des letzten Augenblicks entschuldigen.
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Danach geht im wesentlichen zu Lasten des Beklagten zu 2 (und damit auch der Beklagten zu 1 als Eignerin des Schleppbootes), daß er, obwohl er durch den Ort des Aufpackens und die praktisch ausgefallene Steuerfähigkeit des MS H zu besonderer Sorgfalt verpflichtet war, keine wirksamen Maßnahmen gegen das wiederholte Verfallen dieses Fahrzeugs getroffen und dadurch über einen längeren Zeitraum eine unsichere und gefährliche Lage für die durchgehende Schiffahrt geschaffen hat. Demgegenüber ist zu Lasten der Klägerin zu bewerten, daß die Führung des TMS V in diese Lage unter offenbarer Fehleinschätzung der Gegebenheiten des Falles hineingefahren ist und sodann außerdem falsch reagiert hat. Allein deshalb wiegt aber ihr Verschulden an dem Schiffsunfall nicht nennenswert schwerer als das des Schleppzugführers. Es erscheint daher angemessen, den Havarieschaden der Klägerin zwischen dieser einerseits sowie den Beklagten zu 1 und zu 2 andererseits hälftig zu teilen.
...“