Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Zu der Verpflichtung von Bergfahrern, dem aus einem Hafen ausfahrenden Schiff schon vor Verlassen der Hafenausfahrt eine Kursanweisung nach § 38 RheinSchPVO 1954 zu geben, wenn vorauszusehen ist, daß es mit dem Ausfahrenden zu einer Begegnung auf dem Strom kommen wird, und dies zur Klarheit über den Begegnungskurs erforderlich ist.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 9. Dezember 1971
II ZR 12/70
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Das bei der Klägerin versicherte, mit Leichtbenzin beladene TMS L kollidierte Ende Oktober gegen 7 Uhr morgens auf der Bergfahrt unterhalb des linksrheinischen Hafens Köln-Niehl 1 in Strommitte mit dem dem Beklagten gehörenden und von ihm geführten MS G, das gerade beladen aus dem Hafen zur Talfahrt gekommen war, in der Weise, daß letzteres mit der Backbordseite des Stevens gegen das Steuerbordvorschiff des Tankers unmittelbar hinter dessen Steven, bei Schräglage beider Schiffe zum rechten Ufer, stieß.
Die Klägerin verlangt u. a. Ersatz des an L entstandenen und erstatteten Schadens von etwa 16000,- hfl., weil MS G kein Ausfahrtzeichen gegeben und die Ausfahrt in zu kurzem Abstand vor dem mit etwa 15 km/ Std. herankommenden TMS L vorgenommen habe. Dessen Versuch, nach Backbord auszuweichen, habe den Zusammenstoß nicht mehr verhindern können.
Der Beklagte bestreitet das Vorbringen der Klägerin und behauptet, der Unfall sei nur dadurch entstanden, daß TMS L plötzlich und ohne Grund den Kurs nach Backbord geändert habe.
Die Klägerin unterlag in allen 3 Instanzen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach der zur Unfallzeit geltenden Fassung der Rheinschiffahrtpolizeiverordnung war die Ausfahrt aus einem Hafen, die, wie hier, nicht durch eine Signaleinrichtung geregelt war, nur gestattet, wenn das Manöver ausgeführt werden konnte, ohne daß andere Fahrzeuge gezwungen waren, unvermittelt ihre Geschwindigkeit zu vermindern oder Ihren Kurs zu ändern; erforderlichenfalls war das beabsichtigte Manöver durch bestimmte Schallzeichen anzukündigen, sofern keine abweichenden örtlichen Vorschriften bestanden (§ 50 Nr.3 RheinSchPVO 1954). Diese Bestimmung räumte mithin, wie nunmehr auch § 6.16 Nr. 1 RheinSchPVO 1970, der durchgehenden Schiffahrt in gewissem Umfange die Vorfahrt gegenüber den von der Uferseite her kommenden Fahrzeugen ein (BGH VersR 1969, 846, 847). Die durchgehende Schiffahrt war jedoch gehalten. die Ausfahrt durch Fahrtverminderung oder Kursänderung zu unterstützen, sofern sie diese Manöver rechtzeitig durchführen konnte und die eigene Fahrt hierdurch nicht wesentlich beeinträchtigt wurde (BGH, VersR 1970, 34). Auf die Beachtung dieser Pflicht durfte sich der Ausfahrende jedenfalls solange verlassen, als aus dem Verhalten der durchgehenden Schiffahrt nicht anderes erkennbar war. Das folgt aus dem für das gesamte Verkehrsrecht geltenden Satz, daß jeder Verkehrsteilnehmer zunächst darauf vertrauen darf, auch der andere werde die Verkehrsvorschriften beachten.
Nach der Rechtsprechung des Senats hat der Bergfahrer dem Ausfahrenden auch schon vor dem Verlassen der Hafenausfahrt eine Kursweisung nach § 38 RheinSchPVO 1954 (jetzt: § 6 04 RheinSchPVO 1970) zu geben, wenn vorauszusehen ist, daß es mit dem Ausfahrenden zu einer Begegnung auf dem Strom kommen wird, und dies zur Klarheit über den Begegnungskurs erforderlich ist; der Ausfahrende hat diese Weisung zu befolgen, Kurszeichen gegebenenfalls zu erwidern (§ 39 Nr. 2 RheinSchPVO 1954; § 6.04 Nr.5 RheinSchPVO 1970) und seinen Kurs, sofern erforderlich, schon vor der Ausfahrt entsprechend der Weisung zu richten (BGH VersR 1969, 846, 847). Diese Rechtsprechung ist auf Bedenken gestoßen (Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 4. Aufi. S. 242). Diese gehen im wesentlichen dahin, daß der Ausfahrende kein Talfahrer sei und damit die Vorschriften über das Verhalten und die Zeichengebung der Talfahrer (§ 39 RheinSchPVO 1954; § 6.04 Nr. 5 RheinSchPVO 1970) auf ihn nicht angewendet werden könnten. Die Bedenken tragen jedoch nicht hinreichend dem Umstand Rechnung, daß die Verkehrsverhältnisse auf den Binnenwasserstraßen, insbesondere auf dem Rhein, neben einer sicheren auch eine zügige Verkehrabwicklung erfordern.
Aus diesem Grunde ist es nicht nur geboten, für ein Schiff, das einen Hafen zu einer Talfahrt verläßt, möglichst frühzeitig Klarheit zu schaffen, an welcher Seite eines Bergfahrers es im Anschluß an die Ausfahrt vorbeifahren soll, sondern diesem Schiff auch die Pflicht aufzuerlegen, sich schon vor der Ausfahrt in der Wahl des Kurses und der Zeichengebung wie ein Talfahrer zu verhalten.
Die Revision geht bei den Berechnungen, mit denen sie die Unzulässigkeit der Ausfahrt des MS G darzulegen versucht, zunächst von der Behauptung der Klägerin aus, das Schiff habe vor Fahrtaufnahme nur noch wenige Meter vom Strom entfernt gelegen. Dabei übersieht sie die Feststellung des Berufungsgerichts, MS G sei mit guter Geschwindigkeit gefahren, um beim Übergang von dem ruhigen Wasser der Hafenausfahrt in den Strom, der auf die Steuerbordseite des Schiffes drückenden Strömung begegnen zu können. Die Revision berücksichtigt außerdem bei ihren Berechnungen nicht, daß TMS L gehalten war, die Geschwindigkeit herabzusetzen, wenn es sich so schnell, wie die Revision ausführt, MS G näherte. Dabei liegt es auf der Hand, daß TMS L, das vollan mit Ladung gegen den Strom fuhr, seine Geschwindigkeit innerhalb kurzer Zeit und ohne eigene Gefährdung vermindern konnte. Schließlich vernachlässigen die Berechnungen der Revision, und das ist von besonderer Bedeutung, daß sich der Bug des MS G, beim Passieren der Mündungslinie, mithin zu einem Zeitpunkt, In welchem TMS L noch 300 m unterhalb war, zumindest bereits auf der Höhe des Bergfahrers befand, der zur Kursänderung nach Backbord lediglich etwa 75 m aus denn linken Ufer fuhr. Das zeigt ein Blick auf die Stromkarte.
Danach verbreitert sich der Strom oberhalb des Scheitelpunkts der Rechtskrümmung durch eine Begradigung des linken Ufers bis in die Hafenausfahrt hinein, so daß der obere Molenkopf der Haferausfahrt, den MS G hoch angehalten hat, vom linken Ufer mindestens ebensoweit entfernt ist, wie der Abstand des TMS L von diesem Ufer vor der Backbordkursänderung war. MS G brauchte daher von der Mündungslinie aus nach Backbord eindrehend allenfalls eine Schiffslänge zum Strom hin gewinnen, um das 300 m unterhalb herankommende TMS L gefahrlos passieren zu können, sofern dieses Schiff, wie es nach § 50 Nr. 3 RheinSchPVO 1954 geboten und außerdem von ihm durch das Nichtreigen der blauen Seitenflagge verdeutlich worden war, den bisherigen Kurs beibehielt und gegebenenfalls die Geschwindigkeit herabsetzte. Dabei ist es ohne Belang, ob diese ca. 12 oder 15 km/Std. betrug. Denn auch im letzteren Falle wäre MS G bei einem verkehrsgerechten Verhalten des TMS L genügend Zeit verblieben, um denjenigen Seitenabstand zu dem Bergfahrer zu gewinnen, der für eine gefahrlose Backbordbegegnung erforderlich gewesen wäre."