Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Für den Fortfall der Haftungsbeschränkung ist bei der Beförderung auf Binnengewässern der ehemaligen DDR nicht das Athener Übereinkommen von 1974, sondern Art. 10 der Anl. zu § 664 HGB maßgebend. Der Vorbehalt der Ani. 1 Kap. 111 Sachgeb. D Abschn. III Nr. 1 b EVtr bezieht sich nur auf Beförderungen auf See. Ob das Athener Übereinkommen von 1974 deswegen auf Beförderung zur See anzuwenden ist, bleibt dahingestellt.
OLG Brandenburg
Urteil
vom 31. 7. 2002
(7 U 228/01)
Zum Tatbestand:
Der Kl. machte Schadensersatzansprüche wegen Verletzungen geltend, die er am 1 7. 2000 auf dem Binnenschiff „X." durch ein herunterklappendes Sonnendach erlitten hatte.
Der Kl. und seine Ehefrau buchten bei der Bekl. zu 1 eine Kreuzfahrt auf dem genannten Schiff von Berlin nach Stralsund. Dem Vertrag lagen die AGB der Bekl. zu 1 zugrunde. Die Bekl. zu 1 übertrug die Durchführung durch Chartervertrag auf die Bekl. zu 2, diese setzte dafür ihr Schiff, das Binnenschiff „X." ein. Der Bekl. zu 3, ein Angestellter der Bekl. zu 2, war zum Zeitpunkt des Unglücks der verantwortliche Schiffsführer. Das Sonnendach war, als es nach hinten abklappte, nur auf der Steuerbordseite abgesichert. Zur Sonnendachkonstruktion gehörten Überkreuzsicherungen durch Spannseile auf der Steuerbordseite und auf der Backbordseite.
Der Kl. machte wegen der durch das Abklappen des Sonnendachs erlittenen Körper- und Gesundheitsverletzungen, hinsichtlich deren im Einzelnen auf den Tatbestand des amtsgerichtlichen Urteils verwiesen wird, einen Schmerzensgeldanspruch geltend. Außerdem begehrte er - vorbehaltlich des Forderungsübergangs auf SVT oder sonstige Dritte - die Feststellung der Ersatzpflicht der Bekl. für sämtliche Schäden aus dem Unfall.
Das AG hat der Feststellungsklage in vollem Umfang und der Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 10 000 DM stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Mit der form- und fristgerecht eingelegten und nach entsprechender Fristverlängerung begründeten Berufung erstrebten die Bekl. die Abweisung der Klage. Mit der unselbstständigen Anschlussberufung verfolgte der Kl. den Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 20 000 DM weiter.
Die Berufungen der Bekl. hatten in der Sache keinen Erfolg. Die - unselbstständige - Anschlussberufung des KI. hatte teilweise Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Der vom KI. geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch ist in Höhe von 7600 Euro nebst Zinsen begründet. Dem Kl. steht gegen die Bekl. zu 1 ein Schadensersatzanspruch aus § 77 Abs. 1 BinnSchG i. V. m. § 664 Abs. 1 S. 1 HGB nebst Art. 2 Abs. 1 der Anl. zu § 664 HGB zu. Die Bekl. zu 2 haftet als ausführender Beförderer für den eingetretenen Schaden (Art. 3 Abs. 1 der Anl. zu § 664 HGB). Denn der Begriff des durch Körperverletzung eingetretenen Schadens i. S. d. Art. 2 Abs. 1 der Anl. zu § 664 HGB umfasst auch den immateriellen Schaden als Gegenstand des Schmerzensgeldes (BGH TranspR 1997, 154; Rabe, Seehandelsrecht 4. Aufl. Anm. 10 zu Art, 2 Anl. § 664 HGB). Die Bekl. zu 1 und die Bekl. zu 2 haften gesamtschuldnerisch für die Hilfspersonen, deren sich die Bekl. zu 2 als ausführender Beförderer bedient hat, nämlich für die Besatzungsmitglieder A. und B. und den Bekl. zu 3 als den verantwortlichen Schiffsführer. Die Bekl. zu 1 haftet mithin nicht nur für die Bekl. zu 2, sondern auch für deren Hilfspersonen. Die Bekl. zu 2 haftet für ihre genannten Hilfspersonen. Den Bekl. zu 3 trifft eine Eigenhaftung aus §§ 823 Abs. 1, 847 BGB.
Der Bekl. zu 3 und die mit dem Aufbau des Sonnendachs unmittelbar befassten Hilfspersonen der Bekl. zu 2, die Besatzungsmitglieder A. und B., haben durch das unsachgemäße Aufrichten des Sonnendachs, das zu dessen Abklappen nach hinten geführt hat, grob fahrlässig die Körperverletzungen des KI. verursacht, der vom Bekl. zu 3 neben den anderen Passagieren aufgefordert worden war, unter dem Sonnendach Platz zu nehmen.
Der Bekl. zu 3 hat im Senatstermin am 5. 6. 2002 erklärt, er habe nach dem Unterfahren der letzten Brücke die Anweisung gegeben, das Sonnendach aufzustellen. Die Frage des Besatzungsmitglieds A., ob es reiche, das Sonnendach nur auf einer Seite zu sichern, habe er zunächst bejaht. Er habe es sich dann aber anders überlegt und über die Schulter weg gesagt: „Baut komplett auf". Dies hätten die Besatzungsmitglieder A. und B. jedoch fälschlich so verstanden, dass nach der Sicherung nur auf einer Seite auch schon die Stühle unter das Sonnendach zu stellen seien. Auf den Hinweis des Besatzungsmitglieds B. habe er das Hubseil gelöst.
Durch dieses Verhalten hat der Bekl. zu 3 die ihm als verantwortlichen Schiffsführer obliegende Verpflichtung zur sicheren Beförderung der Passagiere grob fahrlässig verletzt. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maß verletzt. Auch wenn der Bekl. zu 3 das Gewicht der Sonnendachkonstruktion nicht genau gekannt haben dürfte, so musste ihm klar sein, dass es sich um eine schwere Anlage handelte, bei deren Abklappen die Verletzung von Passagieren drohte, die sich unter dem Sonnendach aufhielten. Denn das Sonnendach ließ sich nur mit Hilfe von Hydraulik durch das Hubseil aufrichten. Auch wurde der Bekl. zu 3 von der Streithelferin in die Bedienung des Sonnendachs eingewiesen. Es musste ihm daher klar sein, dass zum sicheren Aufrichten des Sonnendachs die Überkreuzsicherung auf beiden Seiten gehörte, das Sonnendach also auf der Steuerbordseite und auf der Backbordseite durch Spannseile gesichert werden musste.
Gleichwohl hat der Bekl. zu 3 das Hubseil mittels des Hydraulikhebels in der Steuerkabine gelöst, ohne sich vergewissert zu haben, ob das Sonnendach auch auf beiden Seiten gesichert war. Dazu bestand hier ganz besondere Veranlassung, da der Bekl. zu 3 zunächst die Frage des Besatzungsmitglieds B., ob die Sicherung des Sonnendachs auf nur einer Seite reiche, bejaht hat, es sich dann aber anders überlegt und „über die Schulter weg" die Anweisung zum kompletten Aufbau gegeben hat; somit konnte er nicht sicher sein, ob seine Anweisung auch korrekt bei B. angekommen war, und musste sich auf jeden Fall besonders darüber vergewissern, dass seine Anweisung auch tatsächlich umgesetzt worden ist.
Von dieser Pflicht war der Bekl. zu 3 auch nicht deshalb entbunden, weil es sich bei B. um ein Besatzungsmitglied handelte, der das Schiffsführerpatent besaß; schon die Fragestellung von B., ob die Sicherung des Sonnendachs nur auf einer Seite reiche, war ausreichende Veranlassung zu der beschriebenen Vergewisserung. Der Bekl. zu 3 hat daher die Sorgfaltspflicht eines verantwortlichen Schiffsführers in ungewöhnlich hohem Maß außer Acht gelassen und somit grob fahrlässig die Körperverletzungen des KI. verursacht, die dieser erlitten hat, nachdem er auf Aufforderung unter dem Sonnendach Platz nahm und dieses nach hinten abklappte. Dem steht nicht entgegen, dass unter normalen Umständen auch die Überkreuzsicherung auf einer Seite das Abklappen des Sonnendachs verhindert hätte, wie der Sachverständige M. in seinem Gutachten aufgrund einer Prüflast der Seile von 100 kN nachvollziehbar ausgeführt hat. Denn angesichts der von der schweren Konstruktion ausgehenden Gefahr war die beidseitige Sicherung vorgesehen und geboten.
Technische Mängel der Sonnendachkonstruktion liegen nach der Überzeugung des Senats nicht vor und kommen deshalb als alternative Ursachen nicht in Betracht. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M. und nach dessen erstinstanzlicher Aussage sowie nach seiner Aussage im Verklarungsverfahren vor dem AG B. war die Sonnendachkonstruktion einschließlich der zu ihrer Aufrichtung und Sicherung benutzten Vorrichtungen technisch einwandfrei. Überdies tragen die Bekl. zu 2 und der Bekl. zu 3 selbst vor, der Steuermann habe das Dach „unzählige Male" auf- und wieder abgebaut; dies setzt in Widerspruch zum Vortrag der Bekl. zu 2 und des Bekl. zu 3 im Übrigen - voraus, dass das Sonnendach technisch einwandfrei war.
Neben dem Bekl. zu 3 haben die Besatzungsmitglieder A. und B. durch Fahrlässigkeit die Körperverletzungen des KI. verursacht. Denn sie haben auf der Steuerbordseite das Spannseil, das das Sonnendach gegen das Abklappen nach hinten sichern sollte, nicht sachgemäß angebracht. Da das Sonnendach unstreitig nur auf der Steuerbordseite abgesichert war, die Sicherung jedoch angesichts der Belastbarkeit der Spannseile nach der Feststellung des Sachverständigen Dr. M. ausgereicht hätte, um das Abklappen des Sonnendachs zu verhindern, kann sich das Sicherungsseil, das das Abklappen nach hinten verhindern sollte, nur dadurch gelöst haben, dass es unsachgemäß angebracht war. Hierbei kann es dahingestellt bleiben, ob das Sicherungsseil sich deswegen gelöst hat, weil einer der Schäkelbolzen nicht ordnungsmäßig eingeschraubt war, oder deswegen, weil Spannhülsen nicht weit genug in die Spannschrauben gedreht und die Kontermuttern nicht fest genug angezogen waren. Denn beides gehört zur sachgemäßen Anbringung des Sicherungsseils, mit der die Besatzungsmitglieder A. und B. befasst waren. Allerdings erschöpft sich die Fahrlässigkeit dieser Besatzungsmitglieder in der unsachgemäßen Ausführung einzelner Handgriffe und überschreitet deshalb nicht die Grenze zur groben Fahrlässigkeit.
Hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldanspruchs führt die Anschlussberufung des KI. zur Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils. Das AG hat zwar fast alle gesundheitlichen Nachteile, die bei dem KI. als Folge des Unfalls eingetreten sind, berücksichtigt. Nicht in die Erwägungen des AG eingegangen sind jedoch die Atembeschwerden, die seit dem Unfall festgestellt wurden. Zwar zeigen sich diese erst bei Belastung des KI., wie dieser im Senatstermin - unwidersprochen - erklärt hat. Gleichwohl stellen sie eine Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens dar und sind daher bei der Ermittlung des immateriellen Interesses des KI. zu berücksichtigen. Beim Schmerzensgeld geht es - neben der Genugtuung - um den Ausgleich für alle in der körperlichen Verfassung eingetretenen Nachteile. Da das Schmerzensgeld auch der Genugtuung dient, ist außerdem zu berücksichtigen, dass der Bekl. zu 3 grob fahrlässig gehandelt hat. Hiervon ausgehend hält der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 7600 Euro für angemessen und ausreichend.
II. Die Feststellungsklage ist an angesichts möglicherweise eintretender weiterer Folgen der Verletzungen, die der KI. durch das herabstürzende Dach erlitten hat, zulässig (§ 256 ZPO) und auch begründet.
Die Haftung der Bekl. für möglicherweise eintretende weitere Schäden ist nicht beschränkt, da ihnen eine Haftungsbeschränkung nicht zur Seite steht. Die Bekl. zu 1 kann sich auf die Beschränkung der Haftung für Personenschäden nach dem Athener Übereinkommen von 1974 (vgl. hierzu Rabe, Seehandelsrecht 4. Aufl. Rdnr. 3 und 16 vor § 664 HGB) schon deshalb nicht berufen, weil nach Nr. 11.5 S. 2 ihrer AGB die Haftung bei Schiffsreisen sich nach den Bestimmungen des HGB und des BinnSchG regeln sollte. Diese Klausel entspricht den Muster-AGB des Deutschen Reisebüroverbands (s. dort Nr. 11.6). Nach Art. 10 der Anl. zu § 664 HGB entfällt aber die Haftungsbeschränkung des Art. 5 wegen der groben Fahrlässigkeit des Beki. zu 3, für die als Beförderer auch die Bekl. zu 1 einstehen muss.
Die Bekl. zu 2 kann sich auf das Athener Übereinkommen ebenfalls nicht berufen. Dies liegt allerdings nicht daran, dass der Bekl. zu 3 grob fahrlässig den Unfall verursacht hat und die Bekl. zu 2 für die grobe Fahrlässigkeit des Bekl. zu 3 einstehen muss. Denn nach Art. 13 des Athener Übereinkommens entfällt die dort vorgesehene Haftungsbeschränkung - außer bei Vorsatz - nur dann, wenn jemand „recklessly and with knowledge that such damage would probably result" (mutwillig und mit dem Wissen, dass ein Schaden wahrscheinlich eintreten wird) gehandelt hat. Ein solches mutwilliges Handeln geht über die grobe Fahrlässigkeit hinaus und' kann dem Bekl. zu 3 nicht angelastet werden.
Für den Fortfall der Haftungsbegrenzung ist aber bei Beförderung auf Binnengewässern nicht das Athener Übereinkommen, sondern Art. 10 der Ani. zu § 664 HGB maßgebend. Nach dieser Vorschrift entfällt die Möglichkeit, sich auf eine Haftungsbeschränkung nach Art. 5 der Anl. zu § 664 HGB zu berufen, bei grober Fahrlässigkeit. Zwar ist gem. Anl. 1 Kap. III Sachgeb. D Abschn. III Nr. 1 b EVtr § 664 HGB einschließlich der Anlage zu dieser Vorschrift nicht anzuwenden, soweit die Anwendung mit einer von der DDR übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtung nicht zu vereinbaren ist; insoweit sind die für die DDR bisher geltenden Rechtsvorschriften weiter heranzuziehen. Der Vorbehalt der Nichtanwendung des § 664 HGB nebst Anlage bezieht sich jedoch nur auf Beförderungen auf See; nur von ihnen handelt § 664 HGB. Nach Nr. 4 Abschn. III Sachgeb. D Anl. 1 Kap. 111 EVtr ist demgegenüber das BinnSchG ohne Vorbehalt auf das Gebiet der früheren DDR erstreckt worden. Auf die Beförderung, bei der der KI. geschädigt wurde, ist aber § 664 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 HGB erst aufgrund von § 77 Abs. 1 BinnSchG anwendbar, also aufgrund einer Bestimmung, die nach dem EVtr ohne Vorbehalt auch im Gebiet der früheren DDR gilt.
Ob bei Beförderung auf See das Athener Übereinkommen aufgrund des zu § 664 HGB im EVtr erklärten Vorbehalts zu beachten ist, kann dahingestellt bleiben. Der Bekl. zu 3 haftet aus - grob fahrlässiger - unerlaubter Handlung und kann sich schon deshalb nicht auf eine Haftungsbeschränkung berufen.
Anmerkung der Redaktion: Zu diesem Urteil erscheint in VersR Heft 31 vom 1. 11. 2002 ein Besprechungsaufsatz von Kraft und Hagge, nach denen das Athener Übereinkommen weder auf den Binnenschifffahrts- noch auf den Seetransport anzuwenden ist.
Urteilsbesprechung aus VersR 2002, S. 1308