Jurisprudentiedatabank
Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 21. Oktober 1976
(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Mainz vom 5. November 1975 - 19 Cs (P) 639/74 -)
Die Berufungskammer hat erwogen:
I.
Die Berufung des Betroffenen gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Mainz vom 5. November 1975 ist form- und fristgerecht eingelegt.
Zwar waren im Zeitpunkt des Eingangs der schriftlichen Berufungsbegründung ( 13.1.1976) mehr als 4 Wochen seit Anmeldung der Berufung (7.11.1975) verstrichen; jedoch erfolgte die Berufungsbegründung noch innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach Urteilszustellung, wobei die Zustellung an den Verteidiger (l8.12.l975) gemäß § 37 Abs. 2 der deutschen Strafprozessordnung als die zeitlich zuletzt bewirkte Zustellung maßgebend ist.
Die Berufungskammer erachtet deshalb die Berufungsbegründung als eine zulässige und gemäß Artikel 37 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte fristgerechte Wiederholung der bereits vor Zustellung eingereichten Berufungsanmeldung, mit der zugleich auch deren schriftliche Rechtfertigung erfolgte.
II.
Die Berufungskammer sieht aufgrund der eigenen Einlassung des Betroffenen, die dieser durch seinen Verteidiger in der Hauptverhandlung des Rheinschifffahrtsgerichts vortragen ließ, sowie durch die Aussagen des als Zeugen gehörten Matrosen Scheer des MS "RJ" sowie des Polizeiobermeisters Schreib der Wasserschutzpolizei, die diese in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung gemacht haben, folgenden Sachverhalt als feststehend an:
Am 16.6.l974 lag das von dem Betroffenen als Schiffsführer verantwortlich geführte Motorschiff "RJ" (Länge 66,98, Breite 8,18 m, Tragfähigkeit 914 tons, 550 PS) bei Rhein-km 523,600 am geographisch rechten Ufer auf der Reede von Geisenheim. Der Betroffene hatte die Absicht, die Talfahrt anzutreten und wollte zu diesem Zweck ein Drehmanöver über Steuerbord einleiten. Zu dieser Zeit kam das Schubboot "W" (dreimal 1800 PS) mit vier vorgekoppelten Leichtern, von denen einer beladen war, zu Tal. In einem Abstand von etwa 1000 bis 1500 m folgte dem Schubverband das MS "E" zu Tal. Der Betroffene ließ den Schubverband passieren und leitete unmittelbar hinter dem Verband ein Wendemanöver über Steuerbord ein. Etwa gleichzeitig, d.h. nachdem das Motorschiff "RJ" schon mit der Drehbewegung begonnen hatte, drehte der Schubverband, der eine Gesamtlänge von ca. 190 m hatte, über Steuerbord zu Berg, um auf der Geisenheimer Reede zwei seiner Schubleichter abzulegen. Vor Beginn des Wendemanövers hielt der Schubverband seinen Kurs in dem linksrheinischen Drittel des Fahrwassers und führte das Wendemanöver mit Bugankerunterstützung aus. Das zu Tal drehende Motorschiff "RJ" befand sich in so dichtem Abstand hinter dem Schubverband, dass ihm ein Ausweichmanöver nicht gelang. Es kam zu einer Kollision zwischen der Steuerbordseite des Motorschiffes "RJ" und dem Backbordachterschiff des quer im Strom liegenden Schubbootes "W", wobei das MS "RJ" beschädigt wurde.
III.
In dem erstinstanzlichen Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Mainz wurde dem Betroffenen zur Last gelegt, dass er bei seinem Wendemanöver zu dem Schubverband keinen ausreichenden Abstand eingehalten habe und außerdem bei seinem Drehmanöver die Länge des Schubverbandes, dessen Drehmöglichkeit und Drehgeschwindigkeit falsch eingeschätzt habe (Zuwiderhandlung gegen §§ 1.04 und 6.13 RhSchPVO). Nach Prüfung des festgestellten Sachverhalts ist die Berufungskammer der Auffassung, dass dieser Schuldvorwurf gegen den Betroffenen nicht aufrecht erhalten werden kann. Der Beginn des Wendemanövers des MS "RJ" unmittelbar nach dem Passieren des Schubverbandes und in knappem Längsabstand zu diesem erscheint so lange nicht vorwerfbar, als der Betroffene der Auffassung sein durfte, der Schubverband werde durchgehend seine Talfahrt fortsetzen. Mit seinem eigenen Wendemanöver hätte der Betroffene zur Schaffung eines größeren Abstandes erst dann zuwarten müssen, wenn ihm das bevorstehende Drehmanöver des Schubverbandes entweder durch dessen Drehsignal oder durch den Beginn des Wendens bekannt gewesen wäre. Für eine solche Annahme, nämlich dass der Betroffene in Kenntnis und ungeachtet der Wendeabsicht des Schubverbandes mit seinem Drehmanöver begonnen hat, bietet der festgestellte Sachverhalt keine Anhaltspunkte. Nach der Einlassung des Betroffenen lag er mit seinem Motorschiff "RJ" schon fast gestreckt zu Tal, als von dem Schubverband Signal für ein Wenden über Steuerbord gegeben wurde. Auch der als Zeuge gehörte Matrose Sch. von MS "RJ" bekundete, dass zunächst das MS "RJ" nach Einholen seines Ankers über Steuerbord wendete und erst danach der vor ihm fahrende Schubverband des Bootes "W" begann, seinerseits über Steuerbord zu drehen. Schallsignale des Schubbootes sind diesem Zeugen nicht in Erinnerung. Die Aussagen des Polizeiobermeisters Schreib, wie auch des vor der Polizei gehörten Schiffsführers Lass von Schubboot "W", geben keinen Aufschluss, welche Lage der Schubverband einnahm, als MS "RJ" mit seinem Wendemanöver begann. Ebenso wenig ist dieser Aussage etwas über den exakten Zeitpunkt des Wendesignals des Schubverbandes zu entnehmen. Schiffsführer L. von Schubboot "W" gab lediglich an, dass er sich mit seinem Verband schon in Schräglage befand, als er erkennen konnte, dass das MS "RJ" ein Wendemanöver über Steuerbord begonnen hatte. Es ist somit dem Betroffenen nicht zu widerlegen, dass er in der Meinung, der Schubverband werde in durchgehender Fahrt weiter zu Tal fahren, unmittelbar nach dessen Passieren mit seinem Wendemanöver begann und erst nach Einleitung der Drehbewegung seines Schiffes von dem Wendemanöver des Schubverbandes, bzw. dessen Ankündigung überrascht wurde. Bei der Länge des Schubverbandes wurde bei dessen Querlage das vor dem MS "RJ" liegende Fahrwasser in einer solchen Breite versperrt, dass ein kollisionsfreies Vorbeifahren an dem im Zuge seiner Drehbewegung immer weiter nach linksrheinisch auswandernden Achterschiff des Schubbootes "W" kaum mehr möglich erschien.
Nach der gegebenen Sachlage bleiben deshalb nach Meinung der Berufungskammer soviel Zweifel an dem Schuldvorwurf gegenüber dem Betroffenen, dass dieser nicht aufrecht erhalten werden kann.
Mit Kostenfolge aus § 46 des deutschen Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten in Verbindung mit § 467 der deutschen Strafprozessordnung wird deshalb für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Betroffenen wird das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Mainz vom 5. November 1975 aufgehoben und der Betroffene freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen, die vom Rheinschiff -fahrtsgericht Mainz gemäß Artikel 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte festzusetzen sind, fallen der Staatskasse zur Last.
Der Gerichtskanzler: Der Vorsitzende:
(gez.) Doerflinger (gez.) L. Specht