Jurisprudentiedatabank
Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 10. Februar 2003
I. Tatbestand und erstinstanzliches Verfahren
Am 19. September 2001 fuhr H mit dem TMS "A" von B in Richtung Straßburg, um dort Gasöl zu laden. Er traf um 15 Uhr 45 bei der Schleuse Ottmarsheim ein. Nur die kleine Kammer dieser Schleuse war in Betrieb. Das MS "X" wurde gerade durchgeschleust und hinter ihm wartete TMS "B" auf seine Durchschleusung. "A" reihte sich hinter dieses Tankmotorschiff ein. Um 16 Uhr 00 näherte sich das Containerschiff "C" der Schleuse. Es zeigte die rote Flamme als Zeichen dafür, dass es ein Vorschleusungsrecht besitzt. Der Schleusenbedienstete, S unterrichtete H, dass "C" vor ihm durchgeschleust würde. H weigerte sich, ihm seinen Platz zu überlassen und fuhr in die kleine Schleusekammer ein. "C" konnte erst um 17 Uhr 10 durchgeschleust werden, als die große Schleusenkammer wieder in Betrieb genommen wurde. H, der um 17 Uhr 45 von der Wasserschutzpolizei verhört wurde, erklärte, er habe so gehandelt, weil er das Vorschleusungsrecht, das gewissen Schiffen in Verletzung der Rheinschifffahrtsakte eingeräumt werde, für rechtswidrig halte.
Er wurde vor das Rheinschifffahrtsgericht Straßburg vorgeladen wegen Verstoßes gegen:
- die Regeln für die allgemeine Sorgfaltspflicht eines Schiffsführers (§ 1.04 RheinSchPV);
- die Regeln für das Durchfahren der Schleusen, insbesondere gegen die Regeln betreffend das Vorschleusungsrecht (§§ 6.28 – 6.29 RheinSchPV); dies stelle einen Verstoß dar, der nach Art. 32 MA geahndet wird.
Mit Urteil vom 27. Mai 2002 wies das Gericht Herrn Hs Einrede der Rechtswidrigkeit zurück, sprach ihn von dem Vorwurf der Nichteinhaltung der allgemeinen Sorgfaltspflicht eines Schiffsführers frei, erklärte ihn aber der Nichtbeachtung des Vorschleusungsrechts für schuldig und verurteilte ihn, zu einer Geldstrafe von 200 Euro.
Als Begründung für die Zurückweisung der Einrede der Rechtswidrigkeit und die Schuldigerklärung hat der erstinstanzliche Richter ausgeführt, dass das Vorschleusungsrecht, das von den zuständigen Behörden gemäß § 6.29 der Polizeiverordnung Schiffen eingeräumt wird, die Personen oder Waren bestimmter Art befördern, gerechtfertigt sei, weil es zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit beitrage.
II. Zulässigkeit der Berufungen
Durch Erklärung vom 4. Juni 2002 beim Gerichtskanzler des Schifffahrtsgerichts hat H über seinen Rechtsanwalt Berufung gegen dieses Urteil eingelegt und beantragt, dass die Berufung bei der ZKR angebracht wird.
Am 5. Juni 2002 hat die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung eingelegt.
Diese Berufungen sind formgerecht eingelegt worden.
Am 3. Juli 2002 hat der Rechtsanwalt von H seine Berufungsbegründung beim Schifffahrtsgericht eingereicht. Seine Berufung ist infolgedessen zulässig.
Gemäß Artikel 37 Abs. 3 MA hätte das Gericht diese Berufungsbegründung der Staatsanwaltschaft übermitteln müssen, mit der Aufforderung zu einer Berufungserwiderung innerhalb einer bestimmten Frist. Diese Formalität ist nicht erfüllt worden.
Der Rechtsausschluss kann infolgedessen nicht geltend gemacht werden und die Anschlussberufung ist zulässig, obgleich die Anträge der Staatsanwaltschaft erst am 6. September 2002 übermittelt worden sind.
III. Position der Parteien
Der Beklagte beantragt, in den Genuss des französischen Amnestiegesetzes vom 6. August 2002 zu kommen. Er erinnert daran, dass gemäß Art. 40bis MA jeder Vertragsstaat für die Ahndung der in Artikel 32 genannten Zuwiderhandlungen sorgt.
Daraus ergibt sich seiner Auffassung, dass der Tatbestand zwar nach einer internationalen Vorschrift vorgesehen ist und unter Strafe gestellt wird, die Ahndung jedoch durch die Staaten erfolgt. Der französische Staat kann somit durchaus beschließen, gewisse Handlungen zu amnestieren, und die Berufungskammer hat dieser Entscheidung Rechnung zu tragen.
Anders zu entscheiden würde übrigens zu einer Ungleichbehandlung derselben Zuwiderhandlung führen, denn bei Anrufung des Schifffahrtsgerichts Straßburg oder des Berufungsgerichtshofs Colmar würden sie sicherlich unter das Amnestiegesetz fallen.
Zur Einrede der Rechtswidrigkeit führt H aus, dass MS "C" aufgrund von § 6.29b) der Polizeiverordnung ein Vorschleusungsrecht eingeräumt worden ist.
Laut schriftlicher Erklärung des Schifffahrtsamtes Straßburg vom 20. Oktober 1999 kann das Vorschleusungsrecht nur Containerschiffen und Fahrgastschiffen, die nach einem festen Fahrplan verkehren, zuerkannt werden. Derartige Kriterien sind kommerzieller Art. Nun garantiert Artikel 1 der Mannheimer Akte aber allen Staaten freie Schifffahrt, unter Beachtung der in dem Vertrag festgesetzten Bestimmungen und der zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit erforderlichen Vorschriften.
Gewiss § 6.29a), der den Fahrzeugen der zuständigen Behörden, der Feuerwehr, der Polizei oder des Zolls ein Vorschleusungsrecht einräumt, genügt den Anforderungen der Akte, nicht jedoch die Vorschleusungen, die nach Absatz b aus rein kommerziellen Erwägungen zuerkannt werden. Deren Rechtswidrigkeit ist vom Richter gemäß Paragraph 111.5 der Strafordnung festzustellen, was die Nichtigkeit der Strafverfolgung und damit den Freispruch zur Folge haben wird.
Die Generalstaatsanwaltschaft stellt fest, dass H wegen Handlungen verfolgt wird, die den Tatbestand der Zuwiderhandlung erfüllen, vor dem 17. Mai 2002 begangen wurden und die nur durch eine Geldbuße geahndet werden, so dass sie infolgedessen unter das Amnestiegesetz vom 6. August 2002 fallen.
Sie beantragt bei der Berufungskammer, den Beklagten freizusprechen.
IV. Anwendung des Amnestiegesetzes
Nach der Wahl des Präsidenten der Republik hat das französische Parlament am 6. August 2002 ein Amnestiegesetz beschlossen.
Nach Artikel 1 dieses Gesetzes werden Ordnungswidrigkeiten und sogar Vergehen, wenn nur eine Geldstrafe verhängt wurde, amnestiert, sofern sie vor dem 17. Mai 2002 begangen worden sind. Dies trifft im vorliegenden Fall zu.
Infolgedessen ist, wie auch vom Beklagten und der Staatsanwaltschaft beantragt, ein Freispruch zu erlassen, der konform mit der bisherigen Rechtsprechung der Berufungskammer ist (s. die drei Urteile vom 20. November 1995 – 342 P – 344 P – 345 P).
V. Einrede der Rechtswidrigkeit
Es ist festzustellen, dass die Rheinschifffahrt gemäß Art. 1 MA frei ist, unter der Voraussetzung, dass die in dem Vertrag festgesetzten Bestimmungen und die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit erforderlichen Vorschriften eingehalten werden. Abgesehen davon darf der freien Schifffahrt kein Hindernis entgegengestellt werden.
Nach einer überlieferten Auslegung setzt die Schifffahrtsfreiheit voraus, dass sie von allen unter gleichen Bedingung ausgeübt werden kann, es sei denn, dass objektive Elemente im Zusammenhang mit der Akte oder das öffentliche Interesse Unterschiede rechtfertigen.
Was die Durchfahrt durch die Schleusen betrifft, so bestimmt § 6.28 Nr. 3 der Polizeiverordnung (RheinSchPV), dass sie in der Reihenfolge des Eintreffens in den Schleusenvorhäfen erfolgt.
§ 6.29a) räumt Fahrzeugen der zuständigen Behörde, der Feuerwehr, der Polizei oder des Zolls der Uferstaaten, die in Ausübung dringender dienstlicher Aufgaben unterwegs sind, ein Schleusungsvorrecht ein.
Darüber hinaus kann die zuständige Behörde nach § 6.29b) Schleusungsvorrechte zuerkennen. Die zuständige Behörde in Frankreich ist das Schifffahrtsamt Straßburg.
Doch diese Behörde kann von dieser Möglichkeit nur innerhalb der Grenzen des Artikels 1 MA Gebrauch machen. Dieser Artikel gewährleistet die freie Schifffahrt und die Konsequenz daraus, die Gleichbehandlung, d.h. die Einräumung jedes Schleusungsvorrechts ist mit der Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit oder zumindest mit dem öffentlichen Interesse zu begründen; wie es in § 6.28 Nr. 11, der zum Zeitpunkt der Geschehnisse in Kraft war, vorgesehen ist.
Das Schleusungsvorrecht ist dem MS "C" eingeräumt worden, das ein Containerschiff ist.
Ein Antrag des Herrn H gehörenden TMS "A" auf Schleusungsvorrecht vom 20. Oktober 1999 ist vom Schifffahrtsamt Straßburg mit der Begründung abgelehnt worden, dass ein solches Vorrecht nur fahrplanmäßig verkehrenden Container- und Fahrgastschiffen eingeräumt werden könne.
Das Schifffahrtsamt Straßburg hat zu keiner Zeit als Grund für die Bewilligung oder Ablehnung des Schleusungsvorrechts die allgemeine Sicherheit angeführt. Es hat auch nicht die Abweichung von der Regel der Durchschleusung in der Reihenfolge des Eintreffens in den Schleusenvorhäfen mit § 6.28 Nr. 11 gerechtfertigt, wonach die zuständigen Behörden zur Beschleunigung der Durchfahrt durch die Schleusen oder zur vollen Ausnutzung der Schleusen Anordnungen erteilen können, die diesen Paragraphen ergänzen oder von ihm abweichen. Diese Anordnungen werden aus Gründen des öffentlichen Interesses, wie es die nicht diskriminierende Erleichterung der Durchfahrt der Fahrgastschiffe darstellen könnte, erteilt und sind von den Fahrzeugen einzuhalten.
Der alleinige Umstand, dass Containerschiffe Lieferfristen einhalten müssen, kann die Einräumung eines Vorschleusungsrechts nicht rechtfertigen.
Die Behinderung gewisser Schiffe in ihrer freien Weiterfahrt zugunsten anderer Schiffe, für die eine Vorschleusung nicht gerechtfertigt erscheint, verletzt damit die Bestimmungen der Mannheimer Akte, insbesondere die Bestimmungen des Artikels 1, so dass für eine Verurteilung von H, selbst ohne Amnestiegesetz, keine ausreichende Rechtsgrundlage vorhanden ist.
Aus diesen Gründen erklärt die Berufungskammer die Berufungen formgerecht, stellt fest, dass die H. H zur Last gelegte Zuwiderhandlung amnestiert wird, und spricht ihn somit frei, ohne eine Strafe zu verhängen oder ihn zu den Gerichtskosten zu verurteilen.