Jurisprudentiedatabank
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 16. August 1993
291 Z - 14/93
(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar vom 10. Juli 1992 - 4 C 1/92 BSchRh -)
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Folgen eines Schiffsunfalls, der sich am 16.3.1990 gegen 8.30 Uhr bei Nebel auf dem Rheinstrom bei km 562,6 - Ortslage Hierzenach - ereignet hat.
Die Klägerin ist Versicherer des MS "I" (110 m lang, 11,4 m breit, 3343 t groß, 1751 PS bei 1800 UpM stark), das zur Unfallzeit von Schiffsführer H geführt worden ist.
Der Beklagte zu 1 war der Schiffsführer des Koppelverbandes "J", bestehend aus dem MTS "J I" (99,7 m lang, 9,48 m breit; 1761,341 t groß; 1500 PS stark) und TSL "J II" (79,4 m lang; 9,1 m breit und 1487,185 t groß).
Die Beklagte zu 2 ist die Eignerin des Koppelverbandes "J".
Am Morgen des 16.3.1990 befand sich der Koppelverband "J" bei dichtem Nebel im Revier bei Hirzenach mit Radarhilfe auf der Bergfahrt. Zur gleichen Zeit kam MS "I" zu Tal. Bei km 562,6 kam es linksrheinisch zum Zusammenstoss der Fahrzeuge, wobei "I" zunächst mit dem Steven gegen das Backbordvorschiff des Tankschubleichters "J II" geriet, an dessen Backbordseite entlang glitt und nachdem dieser Leichter abgerissen und zum Ufer hin verfallen war, gegen den Kopf von MTS "J I" stieß. Bei diesem Unfall entstanden an allen Fahrzeugen erhebliche Schäden.
Aus Anlass des Unfalls ist das Verklarungsverfahren F - 4 II 1/90 BSch Schiffahrtsgericht St. Goar - durchgeführt worden. Das gegen den Zeugen H eingeleitete Strafverfahren (101 Js 11117/90 - 4 Cs BSch Schiffahrtsgericht St. Goar) ist noch nicht abgeschlossen worden.
Die Beklagte zu 2 hat in Kenntnis des Unfalls und seiner Folgen ihren Koppelverband "J" zu neuen Reisen ausgesandt.
Die Klägerin hat behauptet, Schiffsführer H habe bei km 561,5 in der Mitte des Fahrwassers fahrend auf dem Bild seines Vorschiffsradars ein Echo bei km 563 hart rechtsrheinisch erkannt. Wie sich später herausgestellt habe, habe es sich um den Koppelverband "J" gehandelt. Mehrfach habe er über Funk versucht, den Bergfahrer anzusprechen, sei aber ohne Antwort geblieben. Dies habe man als unproblematisch angesehen, weil die beiderseitigen Kurse für die im dortigen Revier übliche Begegnung Steuerbord/Steuerbord ideal gewesen seien. Im weiteren Verlauf der Annäherung sei der Koppelverband jedoch nicht rechtsrheinisch geblieben und entlang dem Gaulsgrund gefahren, vielmehr in der dort befindlichen Stromkrümmung weitergefahren und so schnell auf die linke Rheinseite übergewechselt. Hierdurch sei MS "I" der Weg versperrt worden. Auch durch weitere Manöver habe man den Zusammenstoss nicht vermeiden können.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin 315.012,-- hfl. bzw. den entsprechenden Gegenwert in Deutscher Mark nebst 4% Zinsen seit dem 1.1.1992, und zwar die Beklagte zu 2 im Rahmen des Binnenschiffahrtsgesetzes sowohl persönlich haftend als auch bei Vermeidung der Zwangsvollstreckung in MTS "J I" und TSL "J II".
2. Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin weiterhin DM 9.569,47 nebst 4% Zinsen seit dem 29.1.1992 sowie weitere Gerichtskosten des Verklarungsverfahrens auf Antrag des Schiffsführers F von SB "J I"/"J II" bei dem Schiffahrtsgericht St. Goar, AZ : 4 II 1/90 BSch zu zahlen, soweit diese nicht als Kosten des vorliegenden Rechtsstreits erstattungsfähig sind.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten haben vorgetragen, der Beklagte zu 1 der den Koppelverband geführt habe, habe sein Radargerät dezentriert, sodass seine Sicht voraus 1.500 m betragen habe. Bei km 567 habe er den Übergang nach linksrheinisch gemacht, nachdem er zuvor rechtsrheinisch zu Berg gefahren sei. Laufend habe er die Talfahrt über Kanal 10 gewahrschaut. In Höhe der Ortslage Kestert sei er jeweils nach vorangegangener Kursabsprache mit MS "Ju" und kurze Zeit später dem MS "LP"begegnet. Den Schiffsführer des MS "LP" habe er nach weiterer Talfahrt befragt und zur Antwort erhalten, dass ein beladenes Frachtschiff folge, dessen Abstand unbekannt sei. Der Beklagte zu 1 habe sich daraufhin, obwohl dieser Talfahrer noch nicht auf dem Radarbild zu sehen gewesen sei, unter Angabe der eigenen Position gemeldet und eine Begegnung Backbord/Backbord verlangt. Diese Meldung habe er mehrfach wiederholt, ohne Antwort zu erhalten. "LP" habe ihm schließlich den Namen dieses Talfahrers genannt, der nunmehr auf dem Radarbild zu sehen gewesen sei. "I" sei ziemlich linksrheinisch im Hang gefahren. Mehrfach habe der Beklagte zu 1 danach von "I" über Funk ausdrücklich eine Begegnung Backbord/Backbord verlangt. Schon bei Hirzenach habe er die Maschinenleistung seines Koppelverbandes reduziert und sei mit langsamer Geschwindigkeit weitergefahren. Als "I" weiter linksrheinisch geblieben sei, habe der Beklagte zu 1 den Koppelverband noch weiter zum linksrheinischen Ufer gelenkt, um eher eine Grundberührung als eine Kopf-auf-Kopf-Kollision zu riskieren. Gleichwohl sei es zur Kollision gekommen.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat nach Beiziehung der genannten Verklarungs- und Strafakten durch das am 10.7.1992 verkündete Grund- und Teilurteil die Klage dem Grunde nach zu 1/4 für gerechtfertigt erklärt und wegen des weitergehenden Klageanspruchs die Klage abgewiesen. Die Kostenentscheidung hat das Rheinschiffahrtsgericht dem Schlussurteil vorbehalten.
Zur näheren Begründung seiner Entscheidung hat das Rheinschiffahrtsgericht ausgeführt, die Schiffsführung des Koppelverbandes treffe ein Verschulden an dem Unfall. Schiffsführer F sei vorzuwerfen, dass er seine Weisung zu einer Backbord/Backbord-Begegnung nicht durch Schallzeichen angezeigt habe, nachdem MS "I" auf seine Meldungen über Funk geschwiegen habe, weil Schiffe in diesem Teil des Reviers üblicherweise Steurbord/Steuerbord begegneten und er damit habe rechnen müssen, dass es bei fehlerhafter Auswertung des Radarbildes zu Unklarheiten habe kommen können. Es sei davon auszugehen, dass Schallzeichen in ausreichender Entfernung hätten gegeben werden können und verstanden worden wären, so dass "I" den Kollisionskurs verlassen hätte.
Die Beklagten müssten sich ein überwiegendes Verschulden der Schiffsführung von MS "I" anrechnen lassen. Diese hätte auf dem Radarschirm erkennen müssen, dass der Koppelverband sich auf linksrheinischem Kurs befunden habe und ihr die rechte Seite des Fahrwassers zur Passage freiließ. Auch wenn keine Funkverbindung zustande gekommen sei, hätte MS "I" zumindest annehmen müssen, der Koppelverband werde nicht zu dem rechtsrheinisch gelegenen Gaulsgrund fahren, vielmehr im Hang bleiben. Hätten Unklarheiten bestanden, hätte Schiffsführer H die Fahrt soweit aus seinem Schiff herausnehmen müssen, dass eine Kollision hätte vermieden werden können. Da Zweifel bestanden hätten, ob seine Deutung der Verkehrslage zutreffend gewesen sei, hätte er den Koppelverband durch Schallzeichen auf sich aufmerksam machen müssen.
Bei Abwägung des Verschuldens der beteiligten Fahrzeuge sei anzunehmen, dass das Verschulden der Schiffsführung des MS "I" dreimal so hoch einzuschätzen sei, wie das der Schiffsführung des Koppelverbandes, weil sie das Radarbild falsch ausgelegt und die Fahrt erst im letzten Moment verlangsamt habe. Hingegen könne der Schiffsführung des Koppelverbandes nur vorgeworfen werden, nicht durch Schallzeichen die eigene Kursweisung bekräftigt zu haben.
Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt.
Die Klägerin wendet sich gegen die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil. Sie meint, der Koppelverband sei rechtsrheinisch um das Eck von Kestert gekommen und habe dort die Fahrwasserseite gewechselt, ohne "I" eine Kursweisung erteilt zu haben.
Die Klägerin beantrage,
unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils der Klage in vollem Umfange stattzugeben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beklagten beantragen,
unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage in vollem Umfange abzuweisen und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagten treten den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil bei und denen der Klägerin entgegen. Sie meinen, die unterbliebenen Schallzeichen seien für die Kollision nicht ursächlich gewesen, weil die beteiligten Schiffsführer ihren jeweiligen Gegenfahrer auf dem Radarschirm gesehen hätten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufungen beider Parteien sind in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden. Nur die Berufung der Beklagten ist begründet.
Die Berufungskammer tritt der Feststellung des Rheinschiffahrtsgerichts bei, dass der Koppelverband "J" bereits mehrere Kilometer vor dem Erreichen des Unfallreviers den Übergang von rechts- nach linksrheinisch vorgenommen hat und sich bereits geraume Zeit linksrheinisch befunden hat, ehe die beteiligten Schiffsführer einander auf dem Radarschirm sehen konnten. Das ergibt sich zur Überzeugung der Berufungskammer aus den Bekundungen des Beklagten zu 1 und der Zeugen V, vdB, Bo, vG, G und Br, die sämtlich im Verklarungsverfahren ausgesagt haben, der Koppelverband sei bei der Annäherung an das Unfallrevier linksrheinisch gefahren. Die unbeteiligten Zeugen haben von Bord ihrer Schiffe, sei es, als sie selbst von dem Koppelverband überholt wurden (vG), sei es bei einer Vorbeifahrt des Koppelverbandes an ihrem stilliegenden Schiff (G), bei eigenem Überholmanöver (Br), bei der Begegnung mit ihren Schiffen (Bo, V und vdB) und bei einem vorangegangenen Überholmanöver (Br) jeweils den Koppelverband "J" linksrheinisch gesehen. Bis auf den Zeugen Br haben die genannten Zeugen auch wiederholte Durchsagen des Beklagten zu 1, im letzten Teil der Geschehnisse unter namentlichem Anruf des MS "I" über die von dem Koppelverband gewünschte Begegnung mit "I" Backbord/Backbord gehört, auf die sich nach ihren weiteren Angaben "I" nicht gemeldet habe. In diesem Sinne hat sich auch der Zeuge SC geäußert.
Zwar haben Schiffsführer H und dessen Ehefrau, die Zeugin H, im Verklarungsverfahren bekundet, der Koppelverband habe sich rechtsrheinisch befunden und habe dann vor "I" den Übergang nach linksrheinisch gemacht. Ihren Angaben vermochte die Berufungskammer aber ebenso wenig wie denen des Zeugen R, der den Koppelverband im Revier bei Kestert rechtsrheinisch gesehen haben will, zu folgen. Denn die Eheleute H sind am Ausgang dieses Rechtsstreits unmittelbar interessiert und ihre Angaben werden nur von denen des Zeugen R bestätigt. Dessen Angaben über einen rechtsrheinisch verlaufenden Kurs des Koppelverbandes bei der Annäherung an die spätere Unfallstelle hält die Berufungskammer jedoch nicht für zweifelsfrei. Denn dieser Zeuge hat weder auf dem Radarschirm den Unfallhergang gesehen, noch den Funkverkehr vor dem Unfall gehört, was darauf schließen lässt, dass sein Schiff sich bereits so weit oberhalb befand, dass er weder die Unfallbeteiligten auf dem Schirm hatte, noch überhaupt den Funksprechverkehr des Koppelverbandes wahrnehmen konnte. Dass sein Schiff, das MS "AV", sich bereits nach dem Überholen des Koppelverbandes weiter zu Berg entfernt hatte, zeigt auch der in den Strafakten enthaltene Ermittlungsvermerk der Wasserschutzpolizei vom 20.3.1990, wonach MS "C" um 9.12 Uhr und MS "AV" um 9.15 Uhr am Bankeck zu Berg fuhren. Berücksichtigt man diese Tatsache und den Umstand, dass MS "C" nach Angaben von Schiffsführer Br den Koppelverband "J" bei Boppard überholt hat und erst danach dem MS "AV" auflief und dieses Schiff dann bei Wellmich (km 559) überholte, kann es nicht zutreffen, dass MS "AV" den Koppelverband erst unterhalb des Ecks von Kestert überholt hat, wie das der Zeuge R wissen wollte.
Ist aber festzustellen, dass der Koppelverband schon bei der Annäherung an das Unfallrevier linksrheinisch fuhr und laufend über Funk seinen Standort, seinen Namen und die Weisung, Backbord/Backbord zu begegnen, mitgeteilt hatte, kann dem Beklagten zu 1 nicht der Vorwurf schadensursächlichen Verschuldens gemacht werden. Denn er hat keine Zeichen gegeben und damit nach § 6.04 Nr. 1 RheinSchPV von dem Talfahrer eine Begegnung Backbord/Backbord verlangt. Weiter hat er entsprechend seinen Pflichten aus § 6.32 Nr. 5 RheinSchPV die gebotenen Durchsagen über Kanal 10 gemacht und damit seiner Kursweisungspflicht als Bergfahrer entsprochen. Auch war seine Kursweisung sachlich nicht zu beanstanden, weil er selbst linksrheinisch fuhr und dem Talfahrer rechtsrheinisch hinreichender Raum für die Begegnung blieb. Allerdings hätte er noch das nach § 6.32 Nr. 5 RheinSchPV vorgeschriebene Schallzeichen "einen langen Ton" geben und wiederholen müssen, da er wegen des linksrheinisch verlaufenden Kurses des MS "I" annehmen musste, dass dieses Schiff eine Gefahrenlage verursachen konnte. Von der Pflicht zur Abgabe dieses Schallzeichens war er nicht etwa deshalb befreit, wenn es in der Schifffahrt unüblich geworden sein sollte, Schallzeichen zu geben. Nach Ansicht der Berufungskammer rechtfertigt aber das unterbliebene Schallsignal nicht den Vorwurf eines schadensursächlichen Fehlverhaltens; denn die Berufungskammer vermochte nicht mit Sicherheit festzustellen, dass der Schiffsführer des MS "I" einem solchen Schallzeichen überhaupt Beachtung geschenkt und seinen Kurs zur Herbeiführung einer gefahrlosen Begegnung nach rechtsrheinisch hin verlegt hätte. Diese Ansicht stützt die Berufungskammer insbesondere auf die Erwägung, dass er aus seiner Sicht keinen Anlass zu haben brauchte, auf ein Schallzeichen hin seinen Kurs nach rechtsrheinisch zu richten, weil er den Koppelverband mehr rechtsrheinisch sah und erst auf einen Abstand von 150 - 200 m wahrgenommen haben will, dass der Koppelverband einen Übergang nach linksrheinisch vornahm, der Verband quer im Strom lag und ihm den Weg verlegte. Hinzu kommt die Nichtbeachtung der Durchsagen des Bergfahrers über Kanal 10, die unterbliebenen Dreitonzeichen des Talfahrers und die ausgebliebene Kursänderung nach Steuerbord. Im Übrigen hat der Zeuge H nach seinen Bekundungen im Verklarungsverfahren akustische Signale überhaupt nicht in Betracht gezogen, "weil das heute keiner mehr mache". Bei dieser Sachlage kann nicht mit Sicherheit angenommen werden, dass der Zeuge H im Falle eines Schallzeichens rechtzeitig zu einer zutreffenden Auswertung des Radarbildes gekommen wäre und noch einen der Kursweisung des Bergfahrers entsprechenden Kurs genommen hätte.
Hiernach stehen der Klägerin die mit der Klage verfolgten Ansprüche gegen die Beklagten nicht zu.
Nach alledem ist die Berufung der Klägerin unbegründet. Auf die Berufung der Beklagten musste die Klage unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils in vollem Umfange abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 97 Absatz 1 ZPO. Aus den dargelegten Gründen wird für Recht erkannt:
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Grund- und Teilurteil des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar vom 10.07.1992 wird zurückgewiesen.
2. Auf die Berufung der Beklagten wird das genannte Grund- und Teilurteil dahin teilweise abgeändert, dass die Klage in vollem Umfange abgewiesen wird.
3. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4. Deren Festsetzung gemäß Artikel 39 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte erfolgt durch das Rheinschiffahrtsgericht St. Goar.