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Leitsätze:
1) Die Berufungskammer der Rheinzentralkommission engt die Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte entgegen einer jahrzehntealten, bisher allerseits anerkannten Rechtsprechung erheblich ein. So wird u. a. die Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte für Schadensersatzansprüche wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht verneint.
2) Die Vereinbarung der Zuständigkeit eines Rheinschiffahrtsgerichts außerhalb der in der Rheinschiffahrtsakte geregelten Fälle ist unzulässig.
Urteil der Berufungskammer der Rheinzentralkommission
vom 16. Dezember 1974
29 Z - 5/74
(Rheinschifffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort)
Zum Tatbestand:
Die beklagte Wasser- und Schiffahrtsverwaltung hatte am 7. 12. 1971 Nachricht von einem Schiffsunfall bei Büderich erhalten und bei km 811,5 das linksrheinisch, mit starkem Wassereinbruch liegende V vorgefunden. Wegen der vom Schiffsführer behaupteten Grundberührung „etwas oberhalb" hatte die Beklagte darauf am 8. und 9. 12. 1971 Maßnahmen zur Auffindung des vermuteten Hindernisses eingeleitet. Dabei wurde am 9. 12. 1971 bei km 810,5 ein Pfluganker gefunden, der „frische" Stellen aufwies. Inzwischen war das MS B der Klägerin am Abend des B. 12. 1971 „in der Gegend von km 811,5" gegen einen unter Wasser liegenden Gegenstand gestoßen und leck geworden. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht vor dem Rheinschiffahrtsgericht auf Ersatz des Schiffsschadens von ca. 15 000,- DM in Anspruch, weil die Beklagte es unterlassen habe, nach der Havarie von MS V für die Kennzeichnung des gefährlichen Reviers und für eine entsprechende Verkehrsregelung zu sorgen. Die Beklagte bestreitet eine Schadensersatzpflicht, zumal der Anker bei km 810,5 gefunden, der Unfall des Schiffes der Klägerin aber bei km 811,5 erfolgt sei. Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage mangels Beweises der Unfallursache abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist von der Berufungskammer der Rheinzentralkommission zurückgewiesen worden. Wegen Nichtzuständigkeit des Rheinschiffahrtsgerichts hat sie den Rechtsstreit an das Rheinschiffahrtsgericht zur Prüfung des Antrages einer weiteren Verweisung an das zuständige Gericht zurückverwiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Nun ist bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages, wie ihn die Revidierte Rheinschiffahrtsakte darstellt, von seinem Wortlaute auszugehen, aber nicht dabei stehen zu bleiben. Ergibt er einen klaren und eindeutigen Sinn und führt er zu vernünftigen Ergebnissen, so wird für eine hinter ihn zurückgreifende oder ihn überschreitende Vertragsauslegung kein Raum sein. Führt eine wörtliche Vertragsanwendung dagegen zu sinnlosen oder gar zu absurden Ergebnissen, so ist sie abzulehnen und der Vertrag so auszulegen, daß diese Ergebnisse vermieden werden. So hat die Berufungskammer in einem Urteil vom 15. 2. 1969 (Veröffentl. in ZfB 1969 S. 168) die Worte während ihrer Fahrt oder beim Anlanden" nicht als eine erschöpfende, sondern als eine beispielhafte Zuständigkeitsaufzählung verstanden und daraus abgeleitet, daß Artikel 34 II c der Revidierten Rheinschiffahrtsakte die Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte für alle Unfälle begründe, die sich bei der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Schiffes ereigneten. Diese Auslegung will vermeiden, daß einzelne Phasen einer Schiffsreise, die vom Wortlaut des genannten Artikels nicht erfaßt werden, wie z. B. das Warten auf Entladung und diese selbst, Aufenthalte im Strom und die mit ihnen zusammenhängenden Unfälle der Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte entzogen würden, während Ereignisse im Verlaufe anderer Phasen der gleichen Reise unter sie fielen. Nun ist der vorliegende Fall anders gelagert. Hier geht es nicht um einen Schaden, den ein Schiffer anderen zugefügt hat, sondern um einen solchen, den ein Schiff durch eine rechtswidrige und schuldhafte Unterlassung einer zur Unterhaltung der Fahrtrinne des Rheins in einem verkehrssicheren Zustande berufenen Behörde erlitten haben soll. Der angebliche Schädiger ist also kein Schiffer. Verneint man die Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte in einem solchen Falle, so führt dies keineswegs zu einem sinnlosen Ergebnis. Nach § 2 Abs. 1 Ziffer d) des deutschen Gesetzes über das gerichtliche Verfahren in Binnenschiffahrts- und Rheinschiffahrtssachen vom 27. 9. 1952 sind Binnenschiffahrtssachen u. a. bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, die mit der Benutzung von Binnengewässern durch Schiffahrt zusammenhängen und zum Gegenstand haben Schadensersatzansprüche wegen Verletzung einer Amtspflicht zur Sicherung des Verkehrs. Nach § 14 des gleichen Gesetzes gelten seine Bestimmungen in Binnenschiffahrtssachen, die Rheinschiffahrtssachen sind, nur, soweit sich aus den Bestimmungen der Revidierten Rheinschiffahrtsakte nichts anderes ergibt. Das bedeutet: Wird die Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten wie des vorliegenden verneint, so sind nach deutschem Recht die Binnenschiffahrtsgerichte zuständig. Der Berufungskammer ist bekannt, daß die deutschen Rheinschiffahrtsgerichte und Rheinschiffahrtsobergerichte seit Jahrzehnten in ständiger Rechtssprechung ihre Zuständigkeit zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten wie des vorliegenden bejahen. Dieser Standpunkt, den auch der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 21. 12. 1972 - Aktenz.: II ZR 10/72 - übernommen hat, wird wie folgt begründet: Die Rechtsprechung habe sich nicht mit einer wörtlichen Auslegung von Art. 34 II c) der Revidierten Rheinschiffahrtsakte begnügt. Hierzu habe sie einmal der Gedanke bewogen, widersprechende Entscheidungen über den gleichen Schiffsunfall zu vermeiden, die möglich seien, wenn die Verschuldensfrage bei Anfahrungen, Kollisionen oder Fernschädigungen im Rahmen der Rheinschiffahrt nicht der einheitlichen Beurteilung durch ein Rheinschiffahrtsgericht überlassen würde. Zum anderen habe in diesem Zusammenhange die Überlegung eine nicht unwesentliche Rolle gespielt, daß Artikel 34 llc) der Revidierten Rheinschiffahrtsakte, dessen Fassung auf das Jahr 1831 zurückgehe, einer sinnvollen Anpassung an die seit damals eingetretenen technischen Änderung bedürfe, wenn er weiter die Aufgabe erfüllen solle, für eine rasche, sachkundige und einheitliche Rechtsprechung im Bereich der Rheinschiffahrt zu sorgen.
Aus solchen Erwägungen werde es für zulässig erachtet, vor den Rheinschiffahrtsgerichten nicht nur gegen Schiffer zu klagen, sondern auch Schadensersatzänspüche gegen sonstige Besatzungsmitglieder, Lotsen sowie Schiffseigner und Ausrüster zu verfolgen, wobei auch vertragliche Ansprüche geltend gemacht werden könnten. Ebenfalls werde die Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte für Ausgleichsansprüche zwischen mehreren schuldigen Schiffen oder zwischen dem Schiffseigner und dem Lotsen bejaht. Schließlich hätten auch die deutschen Rheinschiffahrtsgerichte und Obergerichte in ständiger Rechtsprechung ihre Zuständigkeit für Klagen bejaht, die Schadensersatzansprüche wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht zum Gegenstande hätten. Das gleiche gelte für den Bundesgerichtshof. Diese ständige Rechtsprechung habe der Rheinzentralkommission nicht unbekannt sein können. Wenn trotzdem bei der Revision der Mannheimer Akte im Jahre 1963 an dem Artikel 34 nichts geändert worden sei, ob schon sich die Revisionsverhandlungen auch auf die Zuständigkeitsregeln der Akte erstreckt hätten, so zeige dies, daß die dargelegte Rechtsprechung nicht als im Widerspruch zur Akte stehend angesehen worden sei.
Den Kern dieser Darlegungen bilden zwei völkerrechtliche Argumente:
a) Es wird einmal die Notwendigkeit betont, einen alten völkerrechtlichen Vertrag, die in ihrer Urfassung auf das Jahr 1831 zurückgehende Revidierte Rheinschiffahrtsakte, den seit damals wesentlich veränderten schiffahrtstechnischen Verhält nissen anzupassen, um zu verhindern, daß sie steril und damit unanwendbar werde. Diese Anpassung soll dem Ziele dienen, für eine rasche, sachkundige und einheitliche Rechtsprechung auf dem Gebiete der Rheinschiffahrt zu sorgen.
b) Zum anderen wird dargelegt, daß die in der Rheinzentralkommission vertretenen vertragschließenden Staaten die Auslegung der Revidierten Rheinschiffahrtsakte durch die deutschen Rheinschiffahrtsgerichte erkannt und stillschweigend gebilligt hätten.
Zu dieser Argumentation ist zu sagen:
Zu a)
Selbst wenn man die Möglichkeit einer ergänzenden, weiterdenkenden oder gar berichtigenden Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages grundsätzlich anerkennt (Zum Problem Hinweis auf Georg Dahm „Völkerrecht" Bd. III Seite 49 und die do zitierten Autoren aus verschiedenen Ländern), so kann sie nu vorgenommen werden, wenn sie notwendig ist. Unter Ziffer 1 wurde aber bereits dargelegt, daß eine solche Notwendigkeit zumindest in Fällen wie dem vorliegenden nicht besteht, weil die Verneinung der Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte dazu führt, daß die mit ihnen identischen Schiffahrtsgerichte nach deutschem Recht zuständig sind.
Zu b)
Hier wird mit dem völkerrechtlichen Begriff der authentische Interpretation eines völkerrechtlichen Vertrages durch seine Urheber argumentiert (Zum Problem Hinweis auf Georg Dahm „Völkerrecht" Bd. III Seite 45/46). Eine solche ist möglich und kann entweder durch einen besonderen Vertrag oder auch stil schweigend erfolgen, etwa durch die Hinnahme einer den Vertrag in einem bestimmten Sinne über seinen Wortlaut hinaus anwendenden Rechtsprechung. Eine solche stillschweigende Auslegung der Revidierten Rheinschiffahrtsakte durch ihre Urheber ist aber nicht erfolgt. Sie hätte zur Voraussetzung, daß die vetragsschließenden Staaten die erwähnte Rechtsprechung in ihr Bedeutung erkannt und gebilligt hätten. Das ist jedoch nicht geschehen. Insbesondere nicht bei Gelegenheit der Revision der Rheinschiffahrtsakte im Jahre 1963. Das erörterte Argument erweist sich also als eine Fiktion, die auf einer Überlegung der Publizität gerichtlicher Entscheidung - auch wenn sie eine lange, einheitliche Linie darstellen - im Inlande und vor allem im Auslande beruht, denn eine authentische, stillschweigende Interpretation eines völkerrechtlichen Vertrages müßte von allen daran beteiligten Staaten vorgenommen werden.
Die Berufungskammer hat auch erwogen, ob durch die erörterte Rechtsprechung des deutschen Rheinschiffahrtsgericht und Obergericht sowie des Bundesgerichtshofes nicht völkerrechtliches Gewohnheitsrecht entstanden ist, das hingenommen werden müßte. Dessen Bildung scheitert aber schon daran, daß es sich um die Rechtsprechung innerhalb eines Staates handelt, während die Entstehung völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts eine Übung voraussetzt, die auch die nötige räumliche Verbreitung aufweist, d. h. bei mehr oder weniger allen Nationen oder, bezogen auf den vorliegenden Fall, bei allen vertragschließenden Staaten besteht. Es steht aber fest, daß die erörterte Rechtsprechung der deutschen Rheinschiffahrtsgerichte in den anderen Unterzeichnerstaaten der Revidierten Rheinschiffahrtsakte keine Parallele hat. Innerhalb nur eines Staates kann sich aber völkerrechtliches Gewohnheitsrecht nicht bilden.
Die Tatsache, daß die Parteien des Rechtsstreites sich ohne Rüge auf die Verhandlung vor dem Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort eingelassen haben, begründet keine Zuständigkeit der Rheinschiffahrtsgerichte. Eine - stillschweigende - Vereinbarung der Zuständigkeit dieser Gerichte für Fälle, in denen sie nach der Revidierten Rheinschiffahrtsakte nicht besteht, ist nach Artikel 35 der Akte nicht möglich. Er gestattet nur die Vereinbarung der Zusändigkeit eines anderen Rheinschiffahrtsgerichtes als dem nach der Akte zuständigen oder die Vereinbarung der Zuständigkeit eines anderen Gerichtes als eines Rheinschiffahrtsgerichts oder derjenigen eines Schiedsgerichts. Damit ist die Vereinbarung der Zuständigkeit eines Rheinschiffahrtsgerichtes außerhalb der in der Rheinschiffahrtsakte geregelten Fälle unzulässig.