Jurisprudentiedatabank
Leitsatz:
Zur Frage, mit welcher Geschwindigkeit und mit welchem Abstand ein Binnenschiff an Stilliegern vorbeifahren darf und wie sich Stillieger durch Laufdrähte zum Land sichern müssen.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 27. November 1973
21 Z - 5/73
(Rheinschiffahrtsgericht Kehl)
Zum Tatbestand:
Das der Klägerin gehörende MS A (ca. 450 t Tragfähigkeit) legte sich am Kehler Ufer zur Übernachtung neben das bereits dort liegende MS S (ca. 730 t Tragfähigkeit). Beide Schiffe hatten je einen Buganker gesetzt, das erstere war mit einem 22 mm starken Vorausdraht, das letztere mit einem solchen von 26 mm an einem Poller am Lande, beide auf sogenannter doppelter Bucht, befestigt. Die beiden Schiffe waren - von A ausgehend - durch ein Perlontau vorn, einen 20-mm-Draht mittschiffs und einen 18-mm-Draht hinten miteinander verbunden. In der Nacht wurde festgestellt, daß die Vorausdrähte zum Ufer abgerissen waren und beide Schiffe stromabwärts trieben, wobei MS A auf der deutschen Rheinseite festfuhr und beschädigt wurde. Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche in Höhe von ca. 6100 Sfr. gegen die Beklagten zu 1 und 2 (Eigner des MS W), den Beklagten zu 3 (dessen Schiffsführer) und den Beklagten zu 4 (dessen Lotsen) als Gesamtschuldner geltend, weil das beladene MS W den Liegeplatz zu schnell passiert und dadurch einen zu starken Sog ausgeübt habe. Dadurch seien beide Schiffe ein Stück vorausgelaufen und dann hart zurückgefallen, so daß durch die ruckartige Belastung die Vorausdrähte gerissen seien. Die Beklagten behaupten, an den Stilliegern in seitlichem Abstand von wenigstens 40 m mit einer Geschwindigkeit von höchstens 5 km/st vorbeigefahren zu sein. Die beiden Stillieger seien mit nur je einem Draht ungenügend an Land befestigt gewesen. Es habe je ein nach rückwärts angebrachter Laufdraht gefehlt. Darin liege die eigentliche Unfallursache. Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach zur Hälfte für gerechtfertigt erklärt. Beide Parteien haben Berufung eingelegt. Die Berufungskammer hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Das Gutachten F. zeigt, daß die hier geforderte Sicherung es notwendig machte, von den Stilliegern mindestens je einen nach rückwärts führenden Laufdraht zum Ufer hin zu legen. Solche Drahtseile hätten es verhindert, daß die Stillieger durch die vom Bergfahrer ausgegangenen hydraulischen Einwirkungen (Schwall und Sog) zunächst bergwärts versetzt und nach Beendigung des Soges heftig mit der Strömung zurückgefallen wären. Die zum Ufer hin führenden Vorausdrähte wären somit keiner so großen und so ruckartig auftretenden Belastung ausgesetzt worden, die im vorliegenden Fall den Seilbruch bewirkt hatte. Solche Laufdrähte fehlten, wie unstreitig ist. Diese Schlußfolgerungen F. wurden erfolglos angegriffen. Im einzelnen ist zu diesen Angriffen folgendes zu sagen:
Es wird behauptet, daß es am Oberrhein nicht üblich sei, solche Laufdrähte auszulegen, da die Strömung hier so intensiv sei, daß sie eingefährliches Vorauslaufen von mit Bug zu Berg stilliegenden Schiffen unter dem Einfluß einer Sogwirkung verhindere. Daß dem generell nicht so sein kann, zeigt der vorliegende Unfall, der ja gerade das Ergebnis derartiger hydraulischer Einwirkungen auf ungenügend befestigte stillliegende Schiffe ist. Im übrigen spricht gegen die Richtigkeit des vorgebrachten Argumentes die Erwägung, daß, falls eine intensive Strömung die Schwall- und Sogwirkung vermindert, sie auf der anderen Seite die Heftigkeit des Zurückfallens der betroffenen Schiffe in die Ruhelage steigert, so daß die Belastung der Vorausdrähte beim Zurückfallen der Schiffe ebenfalls die effektive Bruchlast übersteigen kann. Es ist unter diesen Umständen nicht zu erkennen, daß mit Rücksicht auf die Strömungsverhältnisse am Oberrhein Laufdrähte zur Sicherung stilliegender Schiffe überflüssig seien. Sind sie aber notwendig, so ist jede Übung, die auf sie verzichtet, gefährlich und deshalb nicht anzuerkennen. Wer sich ihr anschließt, ist durch sie nicht gerechtfertigt oder entschuldigt und deshalb auch nicht der Verantwortung für die Folgen seines Verhaltens enthoben. Seine Verantwortlichkeit gemäß § 69 RSchPVO bleibt unberührt. Das Gutachten F. wird weiter mit dem Hinweis auf die unstreitige Tatsache angegriffen, daß die Vorausdrähte der beiden stilliegenden Schiffe auf sogenannte doppelte Bucht standen. Diese Befestigungsart ist dadurch gekennzeichnet, daß der Draht vom Schiffspoller zum Landpoller, um diesen in einem Halbkreis herum und anschließend wieder zum Schiffspoller geführt, sowie dort befestigt wird. Sie ist bei den Schiffern deshalb besonders beliebt, weil man sich beim Ablegen des Schiffes zur Lösung des Drahtes nicht an Land begeben muß, sondern ihn vom Schiff aus einziehen kann. Das würde nicht gelingen, wenn er mehrmals um den Landpoller gelegt worden wäre. Bei jeder Schiffsbefestigung an einem Landpoller treten im Drahtseil im Bereiche des Pollers außer den normalen Zugspannungen noch zusätzliche Querspannungen auf, die lokale Quetschungen bewirken können. Dadurch wird an dieser Stelle die zulässige Belastbarkeit des Drahtes früher erreicht als an einem anderen Punkt eines auf doppelte Bucht stehenden Drahtes. Durch etwaige Reibung auf dem Landpoller können sich hier die Seilspannungen nochmals erhöhen. Ein etwaiger Seilbruch tritt aber stets an der schwächsten Stelle der gesamten Verbindung ein. Der auf doppelte Bucht stehende Draht hatte nicht schlechthin eine eine Verdoppelung seiner Belastbarkeit zur Folge. Es ist unstreitig, daß das MS W in der Unfallnacht an den Stilliegern vorbei zu Berg gefahren ist. Es kann auch davon ausgegangen werden, daß im Anschluß an diese Vorbeifahrt die Vorausdrähte der stilliegenden Schiffe zum Land hin gerissen sind. Nicht fest steht aber, daß die Vorbeifahrt unter Umständen erfolgt ist, die einen Verstoß gegen § 54 Abs. 1 Ziffer 3 RSchPVO bedeuten. Nach dieser Bestimmung müssen Fahrzeuge in der Nähe von anderen, die am Ufer festgemacht sind, ihre Geschwindigkeit rechtzeitig soweit vermindern, wie es erforderlich ist, um schädlichen Wellenschlag oder schädliche Sogwirkung zu vermeiden, jedoch nicht unter dem Maß, das zu ihrer sicheren Steuerung notwendig ist. Bei der Anwendung dieser Regel auf den vorliegenden Fall ist folgendes zu beachten. Die Vorbeifahrt erfolgte in der Dunkelheit. Vom vorbeifahrenden Schiff aus war die Befestigung der Stillieger an Land nicht zu erkennen. Dort wußte man also nicht, daß keine Laufdrähte ausgelegt worden waren. Die Führung des vorbeifahrenden Schiffes durfte deshalb davon ausgehen, daß die Befestigung der Stillieger an Land ordnungsgemäß war, das heißt, daß zu ihr auch Laufdrähte gehörten. Zwar hat der Zeuge L., der Schiffsführer des TMS V, das in der Unfallnacht am deutschen Rheinufer unterhalb des KD-Steigers stillag, erklärt, an seinem Schiff sei ein anderes „wie eine Wildsau" vorbeigefahren. Seine Geschwindigkeit habe bei mehr als 6 km/h gelegen. Der Seitenabstand zu seinem Schiff habe etwa 70 m betragen. Der Sog des schnell fahrenden Schiffes sei so stark gewesen, daß er seinem Fahrzeug etwa 20-30 cm Wasser weggezogen und es zur Schräglage gebracht habe. Der Zeuge hat weiter erklärt, daß das vorbeifahrende Schiff, dessen Namen er nicht erkannt hat, beladen, aber nicht tief abgeladen gewesen sei. Geht man von der Richtigkeit dieser Aussage aus, so kann das erwähnte Schiff nur W gewesen sein, denn es war, woran niemand zweifelt, daß einzige beladene Schiff, das in der Unfallnacht die Unfallstelle passiert hat. Das TMS V des Zeugen L. lag aber nicht in unmittelbarer Nähe von S und A. Man kann deshalb nicht ohne weiteres davon ausgehen, „Willem Pieter" sei an diesen genau so vorbeigefahren wie an jenem. Selbst wenn man dies aber annehmen würde, wäre daraus nicht zu schließen, die Vorbeifahrt habe zum Bruch der Vorausdrähte beider Schiffe auch dann führen müssen, wenn diese ordnungsgemäß, also auch durch Laufdrähte, befestigt gewesen wären, denn beim ebenso befestigten TMS V ist kein Draht gebrochen. Vor allem spricht aber das Gutachten F. für die Führung von MSW. Aus ihm geht hervor, daß ordnungsgemäß befestigte Stillieger selbst bei einem seitlichen Abstand von bloß 20 m, wesentlich höhere Geschwindigkeiten der Bergfahrt von 80 m langen Motorschiffen schadlos ertragen können, als dies beim Unfallgeschehen der Fall war. Die Interessenten der stilliegenden Schiffe greifen das Gutachten mit den Argumenten an, es enthalte „graue Theorie" und beruhe nicht nautischer Erfahrung. Dabei wird übersehen, daß bei der Vorbeifahrt von Schiffen an anderen, welche stilliegen, physikalische Gesetze wirksam werden, die bestimmbar sind. Die Grundlage dieser Bestimmung sind sog. Modellversuche, deren Wesen in der soweit wie möglich maßstabgerechten Übertragung natürlicher Verhältnisse auf die Versuchsbauten und dem Versuchsverlauf beruht. Wenn auch diese Übertragung nicht in vollem Umfange möglich ist, so kann sie doch bei genügender Sorgfalt, von der bei F. auszugehen ist, in einem solchen Umfange erreicht werden, daß der Ablauf der Versuche hinreichende Hinweise auf nautische Fehler gibt, welche die wirklichen Ereignisse bestimmt haben müssen. Angebliche nautische Erfahrung ist nicht geeignet, solche Erkenntnisse zu widerlegen. Aus den dargelegten Gründen vermag die Berufungskammer einen Verstoß der Führung von W gegen § 54 RSchPVO nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen.