Jurisprudentiedatabank
Leitsätze:
1) Das Warnsignal nach Art. 6.10 Ziffer 6 RhSchPolVO ist nach ständiger Rechtsprechung ein Verbotssignal, dem Folge zu leisten ist.
2) Die Empfänger des Signals haben nicht das Recht, vor der Beachtung dieses Signals die Begründetheit der Signalgebung zu prüfen.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 7. Dezember 1972
(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 21. Juni 1972 - IE 706-72. -)
In der Strafsache gegen GG.
Sachverhalt:
Am 4. Juni 1971 gegen 9 Uhr begann der patentierte Schiffsführer GG., mit dem leeren MS "V" auf dem Rhein zwischen der Hafeneinfahrt Lauterbourg zwischen km 350 und 352 des linken französischen Ufers oberhalb des deutschen Zollkontrollpostens von Neuburgweier die gekoppelt im Verband stromabwärts fahrenden, beladenen Kähne "S" und "M" zu überholen. Der Steuermann dieses Verbandes, Albert N., hat ausgesagt, dass er fünf kurze Warntöne abgegeben habe, um gemäß Art. 6.10, Ziffer 6 der RhSchPVO auf die Gefahr des Überholens hinzuweisen. Er habe dieses Signal mit einer mündlichen Aufforderung und einer erläuternden Handbewegung bestätigt, was GG. jedoch mit Beschimpfungen übergangen habe. Schiffsführer GG. erklärte, die Signale nicht gehört zu haben und macht geltend, dass letztlich das Überholmanöver reibungslos vonstatten gegangen sei. Nachdem MS "V den gekoppelten Verband "S-M" überholt hatte, überholte es auch MS "JG", welches entweder unmittelbar vor dem Überholen oder während dieses Manövers auf eine Untiefe zwischen dem rechten deutschen Ufer und der Schifffahrtsrinne aufgelaufen war. Der Schiffer von MS "JG" wirft MS "V" vor, ihn durch den beim Überholen bewirkten Sog auf die Untiefe gedruckt zu haben. Mit dieser Beschuldigung stehen sich Eigner und Schiffsführer dieser beiden Schiffe in einem Zivilverfahren vor dem Rheinschifffahrtsgericht Mannheim gegenüber. Ein drittes Schiff, die "C" ist ebenfalls vor diesem Gericht als Partei beteiligt, da es gegen MS "JG" gestoßen und anschließend, etwa bei km 351,9 auf das französische Ufer aufgelaufen war. Auf Grund der Ermittlungen der französischen Gendarmerie hat die Staatsanwaltschaft beim Rheinschifffahrtsgericht Strassburg Anklage gegen GG. erhoben wegen:
- Missachtung der allgemeinen Sorgfaltspflicht gemäß RhSchPVO Art. 1.04 zur Vermeidung von Schaden an anderen Fahrzeugen;
- Nichtbeachtung der Überholregeln, insbesondere der in RhSchPVO Art. 6.10, Ziffer 6 vorgesehenen Schallzeichen, die von einem der vorausfahrenden Fahrzeuge (Kähne "S" und "M") abgegeben worden sind, um auf die mit einem Überholen verbundene Gefahr aufmerksam zu machen.
In der Verhandlung vom 21. Juni 1972 vertrat das Rheinschifffahrtsgericht Strassburg die Auffassung, dass eine Missachtung der in Artikel 1.04 der RhSchPVO vorgeschriebenen Sorgfaltspflicht durch GG. nicht eindeutig erwiesen sei, und das Gericht sprach ihn von diesem Anklagepunkt frei.
Dagegen erachtete das Gericht den Schiffsführer der Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften des Artikels 6.10, Ziffer 6 der RhSchPVO und Art. 32 der Mannheimer Akte schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von 200 französischen Franken.
Am 30. Juni 1972 haben der Beschuldigte und der Vertreter der Staatsanwaltschaft gemäß Art. 502 der französischen Strafprozessordnung bei der Kanzlei des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg eine Berufungserklärung zuhanden der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts vom 21. Juni 1972, das den Beschuldigten GG. zu einer Busse von FF 200,-- wegen Übertretung der Schifffahrtsregeln verurteilt hat, eingelegt.
Der Kanzlei des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg sowie der Staatsanwaltschaft bei diesem Gericht ist am 11. Juli 1972 durch den Zustellungsbeamten die Berufungsschrift des Angeklagten zugestellt worden. Der Angeklagte hat darin erklärt, bei der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt gegen das erstinstanzliche Urteil, soweit es ihn für schuldig befunden hat, Berufung einzulegen.
Durch Eingabe vom 24. Juli 1972 macht der Verteidiger des Angeklagten geltend, dass mangels Berufung der Staatsanwaltschaft die vom erstinstanzlichen Gericht ausgesprochene Freisprechung im ersten Anklagepunkt rechtskräftig und unanfechtbar geworden sei. Das erstinstanzliche Urteil wird dagegen in Bezug auf die vorgeworfene Übertretung von Art. 6.10 Ziffer 6 der RhSchPVO, wonach die Signale des vorausfahrenden Schiffes, die auf die Gefahr des Überholens aufmerksam machten, nicht berücksichtigt worden seien, angefochten.
Das erstinstanzliche Urteil wird gerügt, es habe den Beweis, dass Signale nach Art. 6.10 Ziffer 6 seitens der Kahne "S" und "M" abgegeben worden seien, zu Unrecht als erbracht gehalten, und es würden auch gegenteilige Zeugenaussagen vorliegen. Der Angeklagte führt ferner aus, dass er keineswegs die Absicht gehabt habe, die gekoppelten Kähne "S-M" zu überholen, sondern durch deren Verhalten, die sich zum Ankoppeln mit abgestelltem Motor zur Seite treiben Hessen, dazu gezwungen worden sei. Schließlich rügt er das erstinstanzliche Urteil, er habe sich in Bezug auf eine Übertretung des Art. 6.10 Ziffer 6 der RhSchPVO nicht vergewissert, dass ein Überholen im vorliegenden Falle effektiv unmöglich war. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Berufung nicht begründet und die Berufungsschrift des Angeklagten nicht beantwortet
Begründung:
I.
Die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Rheinschiff-fahrtsgerichts ist form- und fristgerecht eingereicht worden. Artikel 37 Absatz 2 der Mannheimer Akte verpflichtet den Berufungskläger seine Berufung nicht nur dem Gericht, welches das Urteil erster Instanz erlassen hat, sondern auch der Gegenpartei zuzustellen. Da die Staatsanwaltschaft diese Formvorschrift nicht beachtet hat, wird die von ihr am 30. Juni 1972 eingelegte Berufung gemäß Art. 37 Absatz 4 für nicht angebracht erachtet,Artikel 37 Absatz 3 der Mannheimer Akte schreibt weiter vor, dass der Berufungskläger beim erstinstanzlichen Gericht auch eine Berufungsschrift mit Begründung innerhalb vier Wochen nach erfolgter Anmeldung einreichen muss, die vom Gericht der Gegenpartei unter Ansetzung einer Beantwortungsfrist zugestellt wird. Da eine solche Berufungsschrift beim Gericht nicht eingegangen ist, muss auch deshalb die Berufung der Staatsanwaltschaft gemäß der Bestimmungen des obengenannten Artikels 37 Abs. 4 als nicht erfolgt betrachtet werden. Demnach ist der Freispruch von der Anklage wegen Zuwiderhandlung gegen Art. 1.04 der RhSchPVO rechtskräftig geworden und kann nicht mehr in Frage gestellt werden. Die Berufung des Angeklagten gegen die Verurteilung wegen Zuwiderhandlung gegen Art. 6.10 Ziffer 6 der RhSchPVO zu einer Busse von F. 200,- dagegen zulässig. Der Berufungsbetrag wird nach der Rechtssprechung der Berufungskammer der Zentralkommission (Urteil i. S. Johannes Büren 8 S - 1/71 vom 18.3.71) durch das zulässige Höchststrafmass für die von der Staatsanwaltschaft bezeichnete und begründete Übertretung - im vorliegenden Falle mehr als 50 Goldfranken - bestimmt.
II.
Die Berufungskammer hält mit der Vorinstanz als erwiesen, dass der gekoppelte Verband Verbotsignale für das Überholen abgegeben hat. Es steht im Gegensatz zu den Behauptungen des Angeklagten fest, dass dieses Beweisergebnis nicht nur auf den polizeilichen Aussagendes Schiffsführers N. des Kahnes "S" beruht, sondern auch im Ermittlungsverfahren vor dem Rheinschifffahrtsgericht Mannheim vom Matrosen Gö. des Kahnes "M" sowie vor allem vom Schiffer Böck von MS "JG" bestätigt worden ist. Letzterer hat ausdrücklich betont, dass er durch fünf kurze Signaltöne der Kähne auf die Schifffahrtsverhältnisse aufmerksam gemacht worden sei. Bei der Beurteilung der Sachlage hält die Kammer die gegenteiligen Zeugenaussagen für weniger glaubhaft. Jene Zeugen haben ihre Behauptungen durch weitere Umstände abgeschwächt. So erklärte die Besatzung von MS "C" nichts gehört zu haben, fugt aber gleichseitig hinzu, dem Schiffsverkehr erst Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, "als MS "JG" strandete" (Zeuge St.), oder, "nachdem ich am Steuer Posten bezogen hatte, d.h. unmittelbar nachdem MS "V" die gekoppelten Schiffe Überholt hatte" (Zeuge P.). Matrose F. des MS "SP" gibt ebenfalls an, nichts gehört zu haben, erläutert aber, dass "die Entfernung zu groß und das Steuerhaus, in dem ich mich befand, geschlossen war". Die Berufungskammer ist zudem der Ansicht, dass im vorliegenden Falle das Überholverbot nicht nur wegen der entsprechenden Warnsignale geboten war, sondern sich auch aus der allgemeinen Pflicht des überholenden nach Art. 6.09 Ziffer 1 der RhSchPVO ergab, sich zu vergewissern, ob sein Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden könne. Nach seinen eigenen Aussagen war sich der Angeklagte bewusst, dass der Schiffsverkehr im betreffenden Abschnitt sehr dicht und die Strecke "sehr schlecht" war und dass "inmitten der Fahrrinne eine Untiefe bestand". Er hat im Übrigen selber zugegeben, nach Lauterbourg die Absicht erklärt zu haben, nicht mehr zu überholen. Diese Umstände genügen, um das Überholverbot zu begründen. Der völlig unbeteiligte Zeuge F., der auf eine langjährige Schifffahrtserfahrung zurückblicken kann, sagte mit den Worten aus: "Wir fuhren in der Reihe hintereinander; ich hatte in diesem Abschnitt nicht versucht, zu überholen". Aus diesen Erwägungen ist die Kammer der Ansicht, dass nicht nur in Missachtung der Bestimmungen des Art. 6.10 Ziffer 6, sondern auch des Art. 6.09 Ziffer 1 der RhSchPVO überholt worden ist. Die Schlussfolgerungen des Angeklagten, wonach das erstinstanzliche Gericht zu Unrecht einen Verstoß gegen Art. 6.10 der RhSchPVO angenommen habe, weil es den Nachweis nicht erhoben habe dass die Warnsignale zu Recht abgegeben worden sind, d. h. das Überholen wirklicht unmöglich war, werden von der Berufungskammer zurückgewiesen. Das Signal nach Art, 6.10 Ziffer 6 der RhSchPVO ist nach ständiger Rechtsprechung ein Verbotsignal, dem unter allen Umständen Folge zu leisten ist. Die Empfänger des Signals sind nicht berechtigt, eine vorausgehende Prüfung der Begründetheit der Signalgebung vorzunehmen.
III.
Es ist unbestritten, dass die Schiffe wegen der Nähe des Zollpostens in Reihe hintereinander und mit einer geringfügig höheren Geschwindigkeit als die der Strömung fuhren. Dies war auch bei den Kähnen "S" und "M" der Fall. Aus den Zeugenaussagen ergibt sich, dass so wie die Kähne gekoppelt waren keine genügend große Verminderung der Fahrgeschwindigkeit vorlag um, wie der Angeklagte behauptet, zur Vermeidung einer drohenden Gefahr für nachfolgende Fahrzeuge von der Verordnung abweichende Maßnahmen nach Art. 1.05 der RhSchPVO zu rechtfertigen. Selbst wenn dieses Manöver das nachfolgende MS "V" gefährdet hatte, wäre zu beweisen gewesen, und der Angeklagte hat dies in keinem Zeitpunkt zu beweisen versucht, dass die auftretende Gefahr so schwerwiegend und so überraschend war, dass ihr nur noch durch ein Verletzung der Vorschriften der Rheinschifffahrtspolizeiverordnung hätte begegnet werden können. MS "V" hätte wie die anderen Fahrzeuge mit der nach den örtlichen Verhältnissen gebotenen Sorgfalt und Geschwindigkeit fahren und dabei durch ein geeignetes Manöver seine Position beibehalten können. Aus der Prüfung des Sachverhalts hat sich aber ergeben, dass der Angeklagte sich anders verhalten hat. In seiner Einvernahme hat er zugegeben, "einige Fahrzeuge bis zum km 350", d. h. bis nahe der Stelle, an der er sich anschickte, den gekoppelten Verband zu überholen, bereits überholt zu haben. Matrose Ma. von MS "V" erklärte ebenfalls, dass das Fahrzeug "praktisch alle Schiffe überholt hatte". Zeuge Götz bestätigte dasselbe mit den Worten: "Ab km 344 fuhren wir in Reihe hintereinander und MS "V" war das einzige Schiff, das. uns von dieser Stelle an überholte". Die Geschwindigkeit des Schiffs des Angeklagten war somit weitaus größer als die der in Reihe fahrenden Schiffe und in Anbetracht der örtlichen Verhältnisse und der Bewegungen der andern Schiffe bestimmt übersetzt. Dies wird durch die Zeugenaussagen N. ("MS "V" sei ziemlich schnell gefahren") und Gö. ("MS "V" fuhr mit normaler Geschwindigkeit, im Unterschied zu den Fahrzeugen in der Reihe, die sich in verlangsamter Fahrt vorwärtsbewegten") bekräftigt. Selbst wenn man eine kritische Situation annähme, die MS "V" gezwungen hätte, eine Maßnahme des letzten Augenblicks in der Form eines in diesem Falle objektiv fehlerhaften Überholmanövers zu ergreifen, so wäre diese gefährliche Situation durch die eigene Unvorsichtigkeit des Angeklagten geschaffen worden und könnte somit nicht zu seiner Entlastung angerufen werden».
Aus diesen Gründen gelangt die Berufungskammer zur Überzeugung, dass im vorliegenden Falle MS "V" den gekoppelten Verband wie unter Ziffer II hiervon dargelegt in Verletzung der Bestimmungen des Art. 6 der RhSchPVO überholt hat. Die Berufungskammer erachtet infolgedessen auch die erstinstanzliche Verurteilung des Angeklagten zu einer Busse von F. 200,- als angemessen.
Demgemäß
hat die Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt:
in formeller Hinsicht,
- die Berufung der Staatsanwaltschaft als unzulässig, und
- die Berufung des Angeklagten GG. GG. als zulässig erklärt, und
in materieller Hinsicht,
- die Berufung abgewiesen,
- das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts vom 21. Juni 1972, durch das der Angeklagte zu einer Busse von F. 200,-- verurteilt worden ist, bestätigt, und
- den Angeklagten zu den Gerichtskosten der Berufungsinstanz verurteilt, die durch das Rheinschifffahrtsgericht Strassburg nach Art. 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 festzusetzen sind.