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Leitsätze:
1) Sorgfaltspflichten bei Aufdrehmanövern im Nebel und bei unsichtigem Wetter. Ein Schiff, das zwar mit eingeschaltetem Radar, aber nach Sicht fährt, muß sich wie ein Nichtradarfahrer behandeln lassen und ist verpflichtet, gemäß § 6.30 Nr. 1 RhSchPolVO die Geschwindigkeit je nach Sichtverhältnissen herabzusetzen und auf dem Vorschiff einen Ausguck aufzustellen.
2) Nebelsignale nach § 6.35 Nr. 3 RhSchPolVO müssen auch von Radarfahrern abgegeben werden.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 16. Oktober 1972
14 Z - 1/72
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort)
Zum Tatbestand:
Das der Klägerin gehörende beladene MTS R befand sich Mitte Oktober 1970 morgens gegen 8 Uhr bei nebligem Wetter und eingeschränkter Sicht mit gesetzter blauer Seitentafel, eingeschaltetem Blinklicht und brennenden Fahrtlichtern unterhalb Orsoy rechtsrheinisch auf Bergfahrt. Auf dem Schiff war das Radargerät in Betrieb, jedoch fuhr man nach Sicht. Im oberen Bereich des Stapper Grundes kamen dem MTS R drei hintereinander fahrende Talfahrer entgegen, und zwar das dem Nebenintervenienten gehörende und von ihm geführte leere MS B, dahinter das dem Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 geführte, beladene MS P und hinter diesem das MS H. Nach Abgabe eines Wendesignals drehte MS B noch oberhalb von MTS R über Backbord auf. MS P nahm Kurs zum rechten Ufer, ebenso MTS R. MS P stieß mit seinem Vorschiff gegen das Steuerbordvorschiff des MTS R. Die Klägerin verlangt Ersatz aller hierdurch eingetretenen Schäden von ca. 238000,- DM abzüglich des von der Versicherung des Beklagten zu 1 gezahlten Betrages von ca. 74 000,- DM. Sie behauptet, MTS R habe über Kanal 13 mit Talfahrern Sprechfunkverkehr gehabt und dabei laufend die Position des eigenen Fahrzeugs und dessen Kurs durchgegeben. Das Radargerät habe man bei einer Sichtweit von etwa 500 bis 600 m lediglich als Hilfsmittel benutzt. Nach dem Aufdrehen von MS B habe plötzlich das nachfolgende MS P Steuerbordkurs direkt auf MTS R genommen. Dieses habe bei weiterer Annäherung die Maschine gestoppt und auf zurück umgesteuert, ohne den Zusammenstoß vermeiden zu können. Der Nebenintervenient, der dem Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin beigetreten ist, hat sich im wesentlichen dem Vortrag der Klägerin angeschlossen und u. a. behauptet, daß die zahlreiche Berg- und Talfahrt bei der Sichtweite von 500 bis 600 m zunächst keine Gelegenheit gehabt habe, aufzudrehen. Dies sei erst bei Orsoy möglich gewesen. MS B und MS P seien nur mit geringer Geschwindigkeit gefahren. Die Abstände zwischen R, B und P hätten bei Beginn des Aufdrehens von B je 300 m betragen. Die Beklagten bestreiten nicht, daß MS P den Unfall mitverursacht habe, behaupten jedoch, daß das erheblich überwiegende Verschulden bei MTS R gelegen habe. Bei dichtem Nebel habe die Sicht nur 200 bis 300 m betragen. Durch das Aufdrehmanöver von MS B sei MS P gezwungen worden, nach Steuerbord auszuweichen, um nicht gegen das Achterschiff von MS B zu geraten, und dadurch in den Kurs des mit voller Kraft zu Berg fahrenden MTS R gekommen, auf dem vorschriftswidrig kein Ausguck aufgestellt gewesen und außerdem keinerlei Schallsignale gegeben worden seien. Das Rheinschiffahrtsgericht hat im wesentlichen den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt hat die Berufung beider Parteien insoweit zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Berufungskammer stimmt mit dem erstinstanzlichen Richter darin überein, daß aufgrund des Beweisergebnisses eine genaue Feststellung der Sichtweite zur Unfallzeit und für den Bereich der Unfallstelle nicht möglich ist. Wenn auch vermutet werden kann, daß die Schiffsführer der in Fahrt befindlichen Schiffe und deren Besatzungen zu ihrer eigenen Entlastung bestrebt waren, die Sichtweiten möglichst groß erscheinen zu lassen, so reichen doch die Aussagen der Zeugen allein nicht aus, um eine geringere Sichtweite als 500 m festzustellen, zumal erfahrungsgemäß Entfernungsschätzungen im Nebel sehr unsicher und dadurch auch häufig fehlerhaft sind. Bei der demnach zugrunde zu legenden Sichtweite von 500 m erscheint sowohl die Bergfahrt als auch die Talfahrt bei entsprechend vorsichtiger Fahrweise als zulässig. Der Führung des talfahrenden MS P kann somit die Fortsetzung der Fahrt bis zur Unfallstelle nicht vorgeworfen werden, da unbestritten langsam gefahren worden ist. Die Nichtabgabe von Nebelsignalen durch das talfahrende MS P war zwar gemäß § 6.31 RhSchPolVO vorschriftswidrig, jedoch nicht unfallursächlich, da die Führung des bergfahrenden MTS R bereits durch ihr Radarbild Kenntnis von dem Herannahen mehrerer hintereinander fahrender Talfahrer - darunter auch das MS P - hatte. Ein schwerwiegender Fehler seitens der Führung des MS P ist jedoch darin zu erblicken, daß sie bei Beginn der Drehbewegung des vorausfahrenden MS B ihrerseits den Kurs nach Steuerbord richtete, um das Heck des drehenden MS B zu umfahren, wodurch MS P in die Kurslinie des bergfahrenden MTS R geriet und so dessen Kursweisung gemäß § 6.04 RhSchPolVO nicht mehr zu folgen vermochte. Eine solche Bewegung nach Steuerbord aus dem bisherigen Kurs heraus hätte von der Führung des MS P unter allen Umständen vermieden werden müssen, da sie damit rechnen mußte, daß in jenem Bereich rechtsrheinisch Bergfahrt herankommt und eine Begegnung steuerbord über steuerbord verlangen würde; denn der übliche Kurs der Bergfahrt verläuft dort entlang dem rechtsrheinischen Stapper Grund. Durch das drehende leere MS B war nach der Erklärung des Matrosen G. von MS P die Sicht nach unterstrom zeitweilig versperrt, so daß die Führung des MS P zunächst nicht überblicken konnte, welche Verhältnisse unterhalb des drehenden Schiffes bestanden und in welche Verkehrssituation sie ihre Kursänderung nach Steuerbord führen würde. Bei Aufwand der erforderlichen Sorgfalt, wie sie für die Fortsetzung der Fahrt bei unsichtigem Wetter unbedingt geboten war, hätte auf MS P durch Rückwärtsmanöver der Maschine eine Freigabe des bisherigen Kurses durch das drehende MS B abgewartet werden müssen. Bei der geringen Fahrtstufe, die die Talfahrt inne hatte und dem vorhandenen Abstand zwischen beiden Talfahrern von etwa 300 m wäre es auch unschwer möglich gewesen, durch ein oder mehrere kurze Rückwärtsmanöver die Fahrt des MS P so weit zu drosseln, daß man den bisherigen Kurs in der Kiellinie des MS B hätte beibehalten können, ohne mit dem Hinterschiff des drehenden Fahrzeugs in Konflikt zu geraten. In Übereinstimmung mit dem Rheinschiffahrtsgericht hält auch die Berufungskammer ein Mitverschulden der Führung des bergfahrenden MTS R für gegeben. Nach der eigenen Erklärung seines Schiffsführers ist auf MTS R nach Sicht gefahren worden. Damit muß sich die Führung dieses Fahrzeugs wie ein Nichtradarfahrer behandeln lassen. Daß die Radaranlage eingeschaltet war, steht dem nicht entgegen. Dementsprechend sind die jeweils geltenden Vorschriften anzuwenden. Da die Führung des MTS R sich entschlossen hatte, nach Sicht und nicht nach Radar zu fahren, mußte sie in vollem Umfange die Verpflichtungen gemäß § 6.30 Nr. 1 RhSchPolVO erfüllen, d. h. ihre Geschwindigkeit der verminderten Sicht entsprechend herabsetzen und auf dem Vorschiff einen Ausguck aufstellen. Auf die Ausnahmevorschriften des § 6.33 Nr. 3 und 5 RhSchPolVO konnte sie sich nicht berufen, da MTS R nicht im Sinne dieser Vorschrift als Radarfahrzeug anzusehen war. Die von dem Bergfahrer nach der Erklärung seines Schiffsführers eingehaltene Fahrtgeschwindigkeit von 101/2 km/h erscheint der Berufungskammer im Hinblick auf die höchstens 500 m betragende Sichtweite als zu hoch. Bei dieser Fahrtgeschwindigkeit war der Bergfahrer nicht mehr in der Lage, rechtzeitig auf aus dem Nebel auftauchende Talfahrzeuge und deren Kurs reagieren zu können. Zu einer Drosselung seiner Fahrtstufe hätte der Schiffsführer des MTS R aber insbesondere durch das Drehmanöver des MS B veranlaßt sein müssen, da infolge des Querliegens dieses Schiffes eine unklare und wegen der Unübersichtlichkeit des dahinter liegenden Raumes nicht ungefährliche Situation entstanden war, zumal nach der eigenen Erklärung des Schiffsführers von MTS R das Hinterschiff des MS B im Zuge seiner Drehbewegung bis in die Kurslinie des MTS R hineinkam. Eine Herabsetzung der Fahrtstufe des MTS R hätte dem talfahrenden MS P die Möglichkeit gegeben, in seiner Ausweichbewegung noch vor MTS R soweit nach rech rheinisch zu kommen, daß es den Bergfahrer zwar vorschrift widrig und gegen dessen Kursweisung backbord über backbord hätte passieren können. Zumindest wäre durch eine reduzierte Fahrtgeschwindigkeit des MTS R die Wucht des Zusammenstoßes und damit das Ausmaß des entstandenen Sch dens geringer gewesen. Das Fehlen eines nach § 6.30 Nr. 1 RhSchPolVO auf dem Vorschiff von MTS R aufzustellenden Ausgangspostens erscheint der Berufungskammer im Gegensatz zu der Meinung des erstinstanzlichen Gerichts nicht als unfallursächlich in der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden konnte, daß Vorhandensein eines Ausguckpostens etwas an der Fahrweise des Bergfahrers geändert und dadurch den Unfall verhindert haben würde. In diesem Zusammenhang muß davon ausgegangen werden, daß auch einem auf dem Vorschiff aufgestellten Ausguckposten des Bergfahrers zunächst die Sicht stromaufwärts durch das querliegende in der Drehbewegung befindliche MS B versperrt gewesen wäre und er deshalb die Steuerbordkursänderung des talfahrenden MS P in ihrer Anfangsphase nicht hätte wahrnehmen können. Es muß davon ausgegangen werden, daß sich MTS R und MS P bei gegenseitiger Sichtmöglichkeit bereits so nahegekommen waren, daß es zweifelhaft erscheint, ob bei der Fahrtstufe des Bergfahrers irgendwelche nunmehr getroffene Gegenmaßnahmen seiner Führung sich noch unfallvermindernd hätte auswirken können. Zumindest bleiben so viele Zweifel an der Ursächlichkeit des Fehlens des Ausguckpostens, daß diese Vorschriftswidrigkeit nicht in den Kreis, der eine Haftung der Führung des MTS R begründenden Unfallursachen einbezogen werden kann. Dagegen erscheint der Berufungskammer eine beachtliche schuldhafte Unterlassung der Führung des MTS R darin zu liegen, daß von diesem Schiff in Mißachtung der Vorschrift des § 6.31 RhSchPolVO keine akustischen Nebelzeichen (lange Töne) in Abständen von längstens einer Minute oder Kurzsignale für Backbordkurs gemäß § 6.04 Nr. 4 RhSchPolVO, d die Nebelsignale hätten ersetzen können, abgegeben wurden. Nach § 6.35 Nr. 3 RhSchPolVO müssen diese Nebelsignale vor einem Bergfahrer auch dann abgegeben werden, wenn er unter Zuhilfenahme seines Radargerätes fährt. Es ist somit nicht entscheidend, ob nach Sicht oder Radar gefahren wurde, da Nebelsignale in jedem Falle abzugeben waren. Die Verpflichtung zur Abgabe solcher Nebelsignale bestand auch bei einer Sichtweite von 500 m, wie sie nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme äußerstenfalls vorhanden war; denn diese Signalregelung hat nur dann einen Sinn, wenn den sich begegnenden Fahrzeugen noch die Zeit bleibt, um sich auf den Gegenfahrer einzustellen. Das Unterlassen durch den Bergfahrer erscheint der Berufungskammer auch ursächlich für den Zusammenstoß gewesen zu sein, da bei Abgabe dieser Signale, die von dem auf dem Vorschiff des MS„ P aufgestellten Ausguckposten hätten aufgenommen werden können, die Führung des Talfahrers auf das Herankommen eines Bergfahrers im rechten Fahrwasserbereich aufmerksam gemacht worden wäre und sie dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die unfallursächliche Ausweichbewegung nach steuerbord unterlassen hätte. Die Führung des MTS R durfte sich auch nicht darauf verlassen, daß ihre Positionsdurchsage über Sprechfunk (Kanal 13) von' der Talfahrt aufgenommen wurde. Wenn auch auf MS P Kanal 13 eingeschaltet war, so kann der Führung des Talfahrers doch nicht widerlegt werden, daß sie diese Durchsage nicht wahrgenommen hat; denn die Positionsdurchsage des Bergfahrers erfolgte nach der eigenen Angabe seines Schiffsführers letztmals auf Höhe von Rhein-km 796, als er den Bergschleppzug überholte, also mindestens einen Kilometer unterhalb der späteren Unfallstelle. Im übrigen kann eine einmalige Positionsdurchsage keinesfalls die im Minutenabstand zu gebenden Nebelsignale ersetzen. Ein Mitverschulden der Führung des MS B erscheint der Berufungskammer ebenso wie dem erstinstanzlichen Gericht nicht gegeben, da das Drehmanöver von MS B nicht so unvermittelt erfolgte, daß der Führung des nachfolgenden MS P keine andere Wahl als eine Ausweichbewegung nach steuerbord blieb. Bei den vorhandenen Sichtverhältnissen mußte die Führung des nachfolgenden MS P jederzeit mit einer Aufdrehbewegung des vorausfahrenden Schiffes rechnen. Bezüglich der Schuld- und Haftungsquote stimmt die Berufungskammer mit dem erstinstanzlichen Gericht darin überein, daß das Verschulden des Talfahrers, der trotz der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse im rechten Fahrwasserbereich und ungeachtet der auf diese Seite herankommenden Bergfahrt nach steuerbord hielt, doppelt so schwer wiegt als das Unterlassen eines Nebelsignals durch den Bergfahrer und dessen etwas überhöhte Fahrtstufe.