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Leitsätze:
1) „Schiffahrtsüblichen" Kursen kommt heute in der Regel nur noch an besonderen Gefahrenstellen Bedeutung zu, da die Schiffahrt aufgrund ihrer Ausstattung mit nautischen Hilfsmitteln in der Lage ist, auch schiffahrtunübliche Kurse zu fahren und zu erkennen.
2) Die Vorschrift des § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO ist „Schutzgesetz" im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB.
Urteil
des Oberlandesgerichts (Rheinschiffahrtsobergericht) Karlsruhe
vom 25.01.2002
U 3/01 RhSch
(Vorinstanz: Rheinschiffahrtsgericht Mainz - Urt. vom 19.07.2001 - 76 C 5/00 BSchRh)
Zum Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Haftung für die Folgen einer Schiffskollision am 07.02.2000 auf dem Rhein bei Kilometer 443,500 unterhalb der Nibelungenbrücke in Worms.
Die Klägerin ist Versicherer des M S „H", das der Schiffsgemeinschaft MS „H" gehört. Es wurde am Unfalltag vom Zeugen W. K. als verantwortlichem Schiffsführer geführt. Die Beklagte zu 1 ist Schiffseignerin und der Beklagte zu 2 war am Unfalltag Schiffsführer von MS „L". Die bei der Kollision beider Motorschiffe an MS „H" entstandenen Schäden sind Gegenstand der Klage. MS „H" befand sich leer auf der Bergfahrt von Mainz nach Hohnau, um dort Kies zu laden. Gegen 19:00 Uhr näherte sich das Schiff der Nibelungenbrücke bei Rheinkilometer 443,26 in Worms. Die Nibelungenbrücke besitzt drei Brückenbögen, von denen der linksrheinische der Bergfahrt vorbehalten ist, während der mittlere sowohl für die Bergfahrt als auch für die Talfahrt freigegeben ist. Vor MS „H" fuhr ein weiterer Bergfahrer durch den linksrheinischen Brückenbogen. Der Schiffsführer von MS „H" wollte deshalb durch den mittleren Brückenbogen fahren. Es war bereits dunkel, die Sicht war frei. Zur gleichen Zeit fuhr der Schubverband „HK", bestehend aus einem Motorschiff und einem vorgekoppelten Schubleichter, zu Tal durch den mittleren Brückenbogen. Hinter dem Schubverband fuhr in der gleichen Kiellinie ebenfalls zu Tal MS „L". Nachdem MS „H" und SV „HK" sich unterhalb der Brücke begegnet waren, kam es zu einem Zusammenstoß zwischen MS „H" und MS „L" kurz unterhalb der Brücke, wobei MS „H" mit seinem Backbordkopf gegen das backbordseitige Heck von MS „L" stieß.
Die Klägerin hat im ersten Rechtszug im wesentlichen behauptet: Schiffsführer K. habe schon weit unterhalb der Brücke klar den Kurs in Richtung des mittleren Brückenbogens gerichtet. Nach der Backbord-Backbord-Begegnung mit dem Schubverband habe er weiterhin den Kurs in Richtung des mittleren Brückenbogens gehalten. Mit dem in Kiellinie des Schubverbandes fahrenden MS „L" sei somit eine analoge Backbord-Bac-kbordBegegnung zu erwarten gewesen. Plötzlich sei jedoch MS „L" mit dem Kopf nach Backbord direkt in den Bergkurs von MS „H" geschert. Schiffsführer K. habe MS „L" sofort über Kanal 10 angesprochen. MS „L" habe zwar noch versucht, seinen Fehlkurs wieder nach Steuerbord zu korrigieren. Aufgrund des kurzen Abstandes der Schiffe sei dies indessen nicht mehr erfolgreich gewesen und die Schiffe seien dann in der Weise kollidiert, daß das backbordseitige Heck von MS „L" gegen den Backbordkopf des MS „H" gestoßen sei.
Die Beklagten haben im ersten Rechtszug im wesentlichen vorgetragen:
MS „L" sei zunächst in gerader Linie hinter dem Schubverband talwärts gefahren. Der Beklagte zu 2 habe bereits unterhalb des Lampertheimer Altrheins bei Rheinkilometer 442 die Fahrt aus seinem leeren Fahrzeug herausgenommen, weil er den vor ihm fahrenden Koppelverband vor der Brücke nicht mehr habe überholen wollen. Der Abstand zum Koppelverband habe sich bis zur Brücke auf etwa 150 m verkürzt. Schon vor Erreichen der Straßenbrücke habe der Beklagte zu 2 erkannt, daß sich linksrheinisch ein Bergfahrer nähere. Für den Beklagten zu 2 sei erkennbar gewesen, daß der Bergfahrer einen Kurs in Richtung des linksrheinischen Brückenbogens gefahren sei. Er habe sich deshalb darauf eingestellt, daß der Bergfahrer den linksrheinischen Brückenbogen durchfahren würde. Nachdem der Schubverband mit ganzer Länge etwa in der Mitte den mittleren Brückenbogen durchfahren habe und auch MS „L" den Brückenbogen fast in gleicher Kiellinie durchfahren habe, habe der Beklagte zu 2 seinen Kurs etwas nach backbord gerichtet, um nunmehr den Koppelverband zu überholen. In diesem Moment habe er jedoch bemerkt, daß der Bergfahrer plötzlich und ohne jede Ankündigung seinen Kurs zur Strommitte hin ausrichtete und nunmehr offensichtlich beabsichtigte, die Nibelungenbrücke ebenfalls im mittleren Brückenbogen in der Bergfahrt zu durchfahren. Der Zweitbeklagte habe - allerdings vergeblich - noch versucht, nach Steuerbord auszuweichen. Der Schiffsunfall sei also allein darauf zurückzuführen, daß MS „H" seinen zunächst in der Bergfahrt schiffahrtsüblichen Kurs auf den linksrheinischen Landbogen der Nibelungenbrücke plötzlich und ohne jede Vorankündigung zu einem Zeitpunkt nach Backbord hin verändert habe, als MS „L" nach Durchfahren des mittleren Brückenbogens talwärts seinen Kurs zum Zwecke des Überholens des Koppelverbandes bereits seinerseits nach Backbord verändert hatte. Es sei zwar erlaubt, daß die Bergfahrt den mittleren Brückenbogen benutze. Dies sei jedoch schiffahrtsunüblich; vielmehr fahre die Bergfahrt regelmäßig durch den linksrheinischen Bogen. Der Beklagte zu 2 habe deshalb mit einem solchen Verhalten von MS „H" nicht rechnen müssen.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage auf Grund der Beweisaufnahme dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Hiergegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung. Ergänzend zu ihrem erstinstanzlichen Vorbringen tragen sie vor: Die Beweiswürdigung des Rheinschiffahrtsgerichts sei unzutreffend. MS „H" habe zunächst Kurs auf den Brückenpfeiler genommen und dann einen Kurswechsel vorgenommen, um durch den mittleren Bogen zu fahren. Daher sei nicht MS „L" in den Kurs von MS „H" geraten, sondern es sei umgekehrt geschehen. Der Zeuge K. habe mit überhöhter Geschwindigkeit versucht, trotz fehlenden Raumes für ein gefahrloses Überholmanöver im Brückenbereich den vor ihm fahrenden Bergfahrer - der schiffahrtsüblich den linksrheinischen Brückenbogen durchfahren hatte - zu überholen. Darüberhinaus habe er bei seiner Fahrt Radar als Hilfsmittel benutzt, obwohl er unstreitig nicht über ein Radarschiffer-Zeugnis verfüge. Die Klägerin stützt ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Ergänzend trägt sie vor:
MS „H" habe von Anfang an den mittleren Brückenbogen angehalten. Nach der Zeugeneinvernahme habe allein MS „L" einen Hauer nach Backbord gemacht. Der 90 m breite mittlere Brückenbogen stelle keine Fahrwasserenge gemäß § 6.24 RhSchPVO dar. MS „H" sei in erlaubter Bergfahrt durch den mittleren Brückenbogen gefahren. Darauf hätte sich die Schiffsführung des zu Tal fahrenden MS „L" einzurichten gehabt. Der Vorwurf der „Doppelnavigation" gegen die Schiffsführung von MS „H" entbehre jeglicher Grundlage. Es sei dunkel, aber klar gewesen, so daß man kein Radar benötigt habe. Das Mitlaufen des Radars als Hilfsmittel sei schiffahrtsüblich. In der entscheidenden Situation sei der Schiffsführer K. ausschließlich nach Sicht gefahren.
Die Berufung hatte keinen Erfolg.
Der Rechtsstreit ist zur Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der dem Grunde nach zuerkannten Ansprüche an das Rheinschiffahrtsgericht zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die erstbeklagte Eignerin und der zweitbeklagte Schiffsführer von MS „L" haften gemäß §§ 3,92 b BinSchG, § 823 Abs. 1 und 2 BGB i.V.m. § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO als Gesamtschuldner für den Schaden, der der Eignerin von MS „H" infolge der Begegnungskollision am 07.02.2000 bei Rheinkilometer 443,50 entstanden sind. Diese Ansprüche sind kraft Gesetzes bzw. durch fürsorglich ausdrücklich erklärte Abtretung auf den klagenden Versicherer übergegangen. Der Zweitbeklagte hat als verantwortlicher Schiffsführer von MS „L" den Unfall schuldhaft verursacht, indem er eine unzulässige plötzliche Kursänderung unter Verstoß gegen § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO herbeigeführt hat. Diese Vorschrift ist „Schutzgesetz" i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB. Die Voraussetzungen eines ins Gewicht fallenden Mitverschuldens (§ 92 c BinSchG, § 254 BGB) der Schiffsführung von MS „H" sind demgegenüber nicht erwiesen.
Die Begegnungskollision zwischen beiden Schiffen hat sich ereignet, weil MS „L" anstatt den eigenen Kurs hinter dem Schubverband „H.K." zu halten oder - was ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen wäre - weiter nach Steuerbord auszurichten, tatsächlich nach Backbord ausgeschert ist. Der Zweitbeklagte fuhr unter Inanspruchnahme von Radar und konnte ohne weiteres erkennen, daß MS „H" beabsichtigte, nach dem Begegnen mit dem Schubverband auch MS „L" zu passieren, um die mittlere Brückenöffnung zu durchfahren. Da Raum und Zeit nicht mehr ausreichten, eine Kollision zu verhindern, geriet MS „L", nachdem dessen Kurs fehlerhaft nach Backbord ausgerichtet worden war, trotz der Korrektur nach Steuerbord noch mit dem eigenen Heck gegen den Bug des entgegenkommenden MS „H". Das Berufungsgericht sieht diese Einschätzung durch das Ergebnis der Beweisaufnahme als erwiesen an. Es gereicht der Schiffsführung von MS „H" nicht zum (mit-) verschuldensbegründenden Vorwurf, daß sie nicht beabsichtigte, die linksrheinische Brückenöffnung zu durchfahren, sondern vielmehr den Brückenpfeiler anhielt, um die mittlere Durchfahrt zu nutzen. Der Einwand der Beklagten, damit habe die Schiffsführung von MS „H" nicht den schiffahrtsüblichen Kurs gewählt, trifft zwar zu, führt jedoch zu keiner (Mit-) Haftung. „Schiffahrtsüblichen" Kursen kommt heute in der Regel nur noch an besonderen Gefahrenstellen Bedeutung zu, da die Schiffahrt aufgrund ihrer Ausstattung mit nautischen Hilfsmitteln in der Lage ist, auch schiffahrtsunübliche Kurse zu fahren und zu erkennen (vgl. BK ZKR VersR 1999, 649; OLG - SchObG - Karlsruhe, Urt. v. 05.12.2001 U 2/01RhSch -). Wie das Rheinschiffahrtsgericht aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zutreffend ausführt, war der von der Schiffsführung von MS „H" gewählte Kurs, der dahin ging, nicht den linksrheinischen, sondern den mittleren Bogen anzuhalten, nach allen Zeugenaussagen auch für die Talfahrt klar erkennbar. Daß die frei gewählte Durchfahrt durch den mittleren Brückenbogen sowohl für die Talfahrt als auch für die Bergfahrt grundsätzlich freigegeben ist, steht außer Streit.
Zwar gebührt im engen Fahrwasser, wozu im Einzelfall auch Brückenöffnungen zählen können, gemäß § 6.24 i.V.m. § 6.07 RhSchPVO der Talfahrt ein gewisser Vorrang: Gemäß § 6.07 Nr. 1 c RhSchPVO müssen Bergfahrer, wenn sie feststellen, daß ein Talfahrer im Begriff ist, in eine Fahrwasserenge hineinzufahren, unterhalb der Enge anhalten, bis der Talfahrer sie durchfahren hat. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch nicht um eine Engstelle, sondern um eine 90 Meter breite, gut befahrbare Brückenöffnung, bei der das Fahrwasser hinreichend Raum für die gleichzeitige Durchfahrt gewährt, § 6.24 Nr. 1, 2.Altern. RhSchPVO.
Danach erweist sich die Behauptung der Beklagten als unzutreffend, der Schiffsunfall sei allein darauf zurückzuführen, daß MS „H" seinen zunächst in der Bergfahrt schiffahrtsüblichen Kurs auf den linksrheinischen Landbogen der Nibelungenbrücke plötzlich und ohne jede Vorankündigung zu einem Zeitpunkt nach Backbord hin verändert habe, als MS „L" nach Durchfahren des mittleren Brückenbogens talwärts seinen Kurs zum Zwecke des Überholens des Koppelverbandes bereits seinerseits nach Backbord verändert gehabt habe. Diese Tatsachendarstellung steht - wie das Rheinschiffahrtsgericht zutreffend entschieden hat - nicht im Einklang mit dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme. Auch der Umstand, daß Schiffsführer K. über kein Radarschiffer-Zeugnis verfügt, führt zu keiner (Mit-) Haftung. Ein Schiffsführer, der kein Radarschiffer-Zeugnis besitzt, darf die Fahrt nur solange fortsetzen, wie ihm die optische Sicht das erlaubt. Eine hierdurch unzulässige Weiterfahrt begründet im Falle einer Kollision den Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung (Bemm/von Waldstein, RhSchPVO, 3. Auflage, § 4.06 Rdn. 7 m.w.RsprN.). Unstreitig war es zum Unfallzeitpunkt zwar dunkel, es herrschte jedoch klares Wetter und freie Sicht. Im übrigen befand sich an Bord eine Person, die das Radarschiffer-Zeugnis für den Rhein besitzt (§ 4.06 Nr. 1 c RhSchPVO). Während der Fahrt befand sich auf MS „H" neben dem verantwortlichen Schiffsführer K. der Zeuge A. im Steuerhaus, der über ein Rheinschifferpatent verfügt. Den Nachweis ihrer Behauptung, MS „H" sei mit überhöhter, jedenfalls nicht angemessener Geschwindigkeit gefahren, vermochten die Beklagten nicht zu erbringen. Die Schiffsführung von MS „H" hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme Achtungssignal gegeben, als MS „L" ausgeschert ist und die Gefahr einer möglichen Kollision erkannt wurde. Den Nachweis, daß dieses Achtungssignal bereits früher veranlasst gewesen wäre und hätte abgegeben werden können, haben die Beklagten nicht geführt. Nach allem erweist sich die Berufung gegen das Grundurteil als unbegründet.
Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO n.F., § 26 Nr. 7 EGZPO) nicht als gegeben erachtet.
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2002 - Nr.6 (Sammlung Seite 1865 ff.); ZfB 2002, 1865 ff.