Decision Database

II ZR 90/70 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Decision Date: 13.07.1972
File Reference: II ZR 90/70
Decision Type: Urteil
Language: German
Court: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Department: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Wird beim Leichtern eines im Rhein festgefahrenen Schleppkahnes das Leichterfahrzeug beschädigt, so kann der Eigentümer des Leichterfahrzeuges seinen Schaden nicht von demjenigen ersetzt verlangen, der das Festfahren des Kahnes durch ein unzulässiges Überholmanöver verschuldet hat.

2) Nach einer in der Rheinschiffahrt bestehenden ܜbung sind Schäden, die an dem Fahrzeug eines Hilfeleistenden beim Leichtern eines festgefahrenen Schiffes ohne Verschulden der Beteiligten eintreten, von den Interessenten des festgefahrenen Fahrzeugs zu tragen.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 13. Juli 1972

II ZR 90/70

(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim; Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)

Zum Tatbestand:

Zwischen einem zu Tal fahrenden Schleppzug, bestehend aus dem von der Klägerin versicherten MS O und dem Kahn R, sowie dem dem Beklagten gehörenden und von ihm geführten MS „St. Raphael" kam es etwa in Höhe des rechtsrheinisch liegenden Murggrundes zur Backbordbegegnung, wobei MS R zur gleichen Zeit einen linksrheinisch fahrenden Bergschleppzug, bestehend aus 2 Booten und 3 Anhangkähnen, auf dessen Backbordseite überholte. Bei der Überholung des ersten Anhangs blieb das begegnende MS O auf dem Murggrund stehen. Dessen Anhangkahn R stieß darauf mit dem Steuerbordvorschiff gegen das Backbordhinterschiff von MS O, fiel quer und blieb gleichfalls auf dem Grund liegen. In den nächsten 2 Tagen wurden beide Schiffe geleichtert, indem ein Teil ihrer Ladung auf das herbeigerufene MS S übergeschlagen wurde. Dabei fiel Kahn R, als er freikam, quer vor den Steven von MS S, der seinerseits, als er sich vom Kahn zu lösen suchte, gegen die linksrheinischen Kribben geriet.
Die Klägerin verlangt aus abgetretenem und übergegangenem Recht Ersatz der erstatteten Schäden an MS O von ca. 25900,- DM und an MS S von ca. 9 300,- DM, weil MS R dem Talschleppzug für die Vorbeifahrt so wenig Raum gelassen habe, daß dieser auf den Grund habe geraten müssen.
Der Beklagte bestreitet die Behauptungen. Insbesondere lehnt er eine Haftung für die an MS S entstandenen Schäden ab, weil diese sich zeitlich wesentlich später als die Festfahrung ereignet und auf vermeidbaren Fehlern beim Leichtern von R und beim Lösungsversuch von MS S ereignet hätten.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat den Anspruch dem Grunde nach zu t/4, das Rheinschiffahrtsobergericht hat ihn in vollem Umfang für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision des Beklagten ist nur der Klageanspruch wegen des Schadens an MS O für gerechtfertigt erklärt, die Klage wegen der Schäden an MS S jedoch abgewiesen worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 37 Nr. 1 ist das Überholen nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt, somit das Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann, wovon sich der Überholende vor dessen Einleitung zu vergewissern hat (§ 42 Nr. 1 Satz 1). Bei den Überlegungen, die danach der Überholende anzustellen hat, darf er sich nicht auf eine Beurteilung der zu Beginn des Manövers für ihn erkennbaren Verkehrslage beschränken. Vielmehr muß er auch deren mögliche Änderung während der Durchführung des Manövers ins Auge fassen, und zwar insbesondere dann, wenn er wegen der Länge der Überholstrecke oder ihrer nicht vollen Überschaubarkeit mit dem Auftauchen von Gegenfahrern und deren Vorbeifahrt während des Überholmanövers rechnen muß. Kommt er hierbei zu der Auffassung, daß er in einem solchen Falle die Überholung nicht gefahrlos fortführen, aber auch nicht mehr gefahrlos abbrechen kann, oder hätte er dies bei gehöriger Sorgfalt erkennen müssen, so verstößt er schuldhaft gegen § 37 Nr. 1 und § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSch PoIVO 1954, wenn er das Manöver durchführt (vgl. BGH VersR 1960, 594; 1964, 184, 185; 1968, 44, 45).

So liegt es hier. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte die - wegen des geringen Geschwindigkeitsunterschieds zwischen MS R und dem aus einem Vorspann, dem Boot und drei Längen bestehenden Bergschleppzug mehrere Kilometer lange - Überholstrecke bei Einleitung der Überholung nur teilweise überschauen können und deshalb mit dem Auftauchen und Herankommen von Talfahrt vor Abschluß des Überholmanövers rechnen müssen. Da er in einem derartigen Falle weder mit der Talfahrt gefahrlos begegnen, noch das Manöver, wie er selbst vorgebracht hat, wegen des niedrigen Wasserstandes gefahrlos abbrechen konnte, verstieß er mit dessen Durchführung, und zwar von Anfang an, gegen die oben genannten Vorschriften.

Das Berufungsgericht erachtet den Beklagten für verpflichtet, auch denjenigen Schaden zu ersetzen, der dem Eigentümer des MS S dadurch entstanden ist, daß SK R beim Freikommen quer vor den Steven des Leichterschiffes fiel und dieses beim Lösen von dem Kahn gegen eine Kribbe geriet. Dem kann nicht gefolgt werden.

MS „Scharnhorst" ist nicht im engen, unmittelbaren Zusammenhang mit dem unzulässigen Überholmanöver des Beklagten beschädigt worden, sondern erst knapp zwei Tage später bei der Hilfsaktion für den auf dem Murggrund festgefahrenen SK R. Es handelt sich demnach um einen Schaden, der bei einem Dritten als Folge eines Schadens des „Erstgeschädigten" (SK R) eingetreten ist. Ein solcher Schaden ist von dem Schädiger grundsätzlich nur dann zu ersetzen, wenn er auch dem Dritten gegenüber eine unerlaubte Handlung begangen hat (Larenz, Schuldrecht 1. Bd. 10. Aufl. S. 326). Ob das hier der Fall war, hängt, wie das Berufungsgericht an sich nicht verkannt hat, insbesondere von der Frage ab, ob der dem Eigentümer des MS S entstandene Schaden (noch) innerhalb des Schutzzwecks der Vorschriften liegt, gegen die der Beklagte bei Durchführung des unzulässigen Überholmanövers verstoßen hat, oder anders ausgedrückt, ob es sich bei der Beschädigung des MS S um Schäden handelt, die in den Bereich der Gefahren fallen, zu deren Abwehr diese Vorschriften erlassen worden sind. Die Frage ist zu verneinen.

§ 37 Nr. 1 und § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPolVO 1954 (jetzt: § 6.03 Nr. 1 und § 6.09 Nr. 1 RheinSchPolVO 1970) sollen den Verkehr vor den Gefahren- schützen, die mit einem Überholmanöver innerhalb eines hierfür nicht hinreichenden Raumes verbunden sind. Diese Gefahren bestehen im wesentlichen darin, daß es zu Kollisionen zwischen den das Revier befahrenden Fahrzeugen kommen kann, ferner zum Anfahren von Stilliegern oder von Anlagen und Einrichtungen im Bereich der Wasserstraße sowie zu Fernschädigungen, wie z. B. das Raken oder das Festfahren eines aus dem Fahrwasser gedrängten Schiffes. Verwirklicht sich daher eine dieser Gefahren im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit einem unzulässigen Überholmanöver, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Überholer für den dabei entstehenden Schaden haftet.

Um die Verwirklichung derartiger Gefahren geht es bei der Beschädigung des MS S nicht. Dieses war zum Leichtern eines Fahrzeuges eingesetzt, das durch das verkehrswidrige Verhalten des Beklagten in eine Schiff und Ladung gefährdende Lage geraten war, aus der es ohne fremde Hilfe nicht befreit werden konnte. Hieraus ergibt sich zwar eine gewisse Verknüpfung zwischen dem unzulässigen Überholmanöver des Beklagten und der Havarie des dem SK R Hilfe leistenden MS S. Dieser Zusammenhang war aber außerordentlich gering. Das wird insbesondere daraus deutlich, daß die Beschädigung des MS S im Verlaufe einer Hilfsaktion eintrat, zu der außer diesem Fahrzeug ein Schleppboot und ein Kranschiff herangezogen worden waren und die planmäßig und ohne besonderen Zeitdruck eingeleitet und durchgeführt werden konnte. Schäden, die unter derartigen Umständen bei einem der hierbei eingesetzten Fahrzeuge entstehen, haben mit dem der Unfallverhütung im fließenden Schiffahrtsverkehr dienenden Überholverbot nach § 37 Nr. 1 und nach § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPolVO 1954 nur noch in so entfernter Weise etwas zu tun, daß sie dem, der diese Verbotsnormen verletzt, nicht mehr zugerechnet werden können.

Bei dieser Beurteilung hat der Senat nicht außer acht gelassen, daß die als angemessen anzusehende Abgrenzung des Schutzzwecks jener Vorschriften keineswegs zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Das folgt hier insbesondere aus den Sondervorschriften und -regeln, die in der Rheinschiffahrt für Hilfeleistungen gelten:

Nach § 93 Abs. 2 BinnSchG haben dritte Personen, die ein Schiff oder dessen Ladung aus einer Schiffsgefahr retten, einen Anspruch auf Hilfslohn. Dessen Höhe wird bei Fehlen einer Vereinbarung durch das Gericht nach billigem Ermessen festgesetzt (§ 94 Abs. 1 BinnSchG). Dabei sind auch die Gefahren in Anschlag zu bringen, denen der Hilfeleistende sich selbst, sein Fahrzeug oder sein Gerät ausgesetzt hat, sowie seine tatsächlichen Aufwendungen (§ 94 Abs. 4 BinnSchG). Zu diesen werden auch die Schäden an seinem Fahrzeug gerechnet (Vortisch-Zschucke, Binnenschiffahrts- und Flößereirecht 3. Aufl. Anm. 3 a zu § 94 BSchG; Mittelstein, Das Recht der Binnenschiffahrt S. 391; vgl. auch § 745 Abs. 2 HGB). Im Falle der Rettung erhält daher der Hilfeleistende grundsätzlich einen entsprechenden Ausgleich für Schäden an seinem Fahrzeug von den Interessenten des hilfebedürftigen Schiffes. Diesen steht es sodann frei, die von ihnen hierfür aufzuwendenden Beträge gegen denjenigen als (in der Regel adäquaten) Folgeschaden geltend zu machen, der die Schiffsgefahr verschuldet haben sollte.

Nun gelten die Vorschriften des Binnenschiffahrtsgesetzes über den Anspruch auf Hilfslohn aber nicht, wenn die Hilfeleistung ohne Erfolg geblieben ist (§ 93 Abs. 2 BinnSchG). Insoweit würde der Hilfeleistende das Risiko seiner Tätigkeit selbst tragen und damit auch Schäden, die an seinem Fahrzeug infolge der Hilfeleistung entstehen, von, den Interessenten des hilfebedürftigen Schiffes nicht ersetzt verlangen können. Ob eine solche Regelung der - auch im allgemeinen Interesse liegenden - Bereitschaft zur Hilfeleistung förderlich ist und von Fall zu Fall nicht einer Ergänzung durch die allgemeinen bürgerlichrechtlichen Vorschriften bedarf (vgl. BGH VersR 1972, 456), braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Denn nach einer jedenfalls in der Rheinschiffahrt bestehenden Übung sind Schäden, die an dem helfenden Fahrzeug beim Leichtern eines festgefahrenen Kahnes ohne Verschulden der Beteiligten eintreten, von den Interessenten des Kahnes zu ersetzen (vgl. hierzu Nr. 250 in der 8. Aufl. von 1959 und Nr. 191 in der 9. Aufl. von 1971 der von der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel zu Duisburg zusammengestellten Handelsbräuche in der Rheinschiffahrt). In der Rheinschiffahrt Ist es demnach so, daß Schäden eines Leichterschiffes, die nicht von einem der Beteiligten verschuldet sind, grundsätzlich von dem festgefahrenen Kahn getragen werden, wobei sodann dieser seine Aufwendungen hierfür als Folgeschaden von demjenigen ersetzt verlangen kann, der das Festfahren des Kahnes verschuldet haben sollte. Danach besteht aber auch aus Gründen des wirtschaftlichen Gesamtergebnisses und der Billigkeit keine Notwendigkeit, derartige Schäden in den Schutzbereich des § 37 Nr. 1 oder des § 42 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPolVO 1954 einzubeziehen, falls ein Dritter das Festfahren des Kahnes durch ein unzulässiges Überholmanöver verursacht hat, und damit dem Eigner des Leichterschiffes einen Ersatzanspruch gegen diesen Dritten zu geben.