Decision Database
Leitsätze:
1) Erfordernisse an die Sorgfaltspflicht bei Begegnungen zu Dritt.
2) Es ist keine Bevorzugung der Schubschiffahrt, daß alle Binnenschiffe im Interesse der Verkehrssicherheit das Erfordernis einer besonders breiten Fahrbahn für mehrgliedrige Schubverbände beim Durchfahren von Stromkrümmungen berücksichtigen müssen.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 22. Januar 1976
II ZR 71/74
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Bei der Begegnung mit 2 linksrheinischen Bergschleppzügen fuhr der der Klägerin gehörende M-Schubverband in 2gliedriger Zwillingsformation in einer leichten Rechtskurve zwischen beiden Bergeinheiten hindurch zu Tal, da nur der U-Schleppzug (4 Anhänge), der den nahe den linksrheinischen Kribben fahrenden Schleppzug F (mit beladenem Kahn P) backbords überholte, die blaue Seitenflagge gesetzt hatte. Dabei geriet die Backbordvorderkante des vorderen Backbordleichters (M) gegen das Vorschiff von Kahn P. Beide Schiffe wurden beschädigt.
Die Klägerin verlangt von der Eignerin des SB U (Beklagte zu 1) und seinem Kapitän (Beklagter zu 2) Ersatz der Schäden in Höhe von etwa 58 150,- DM, weil der Seitenabstand des SB U zu dem F-Schleppzug" nur 50-60 m betragen habe und damit nicht genügend Raum für die Zwischendurchfahrt gelassen worden sei. Der Schubverband habe deshalb zurückschlagen müssen. Hierdurch sei dieser wegen der nach linksrheinisch gehenden Hangströmung und wegen des starken Steuerbordwindes in Richtung F-Schleppzug verfallen.
Die Beklagten behaupten, daß der Zwischenraum bis zu 100 m betragen habe. Der Schubverband sei aber schon von oben her zu weit in den Hang gefahren. Schallzeichen wegen des angeblich zu geringen Durchfahrtsraumes seien nicht gegeben worden. Bei dem falsch angelegten Achterausmanöver hätten mindestens die Buganker gesetzt werden müssen, um ein Verfallen zu vermeiden. Das Rheinschiffahrtsgericht hat dem Klageantrag dem Grunde nach voll, das Rheinschiffahrtsobergericht jedoch nur zur Hälfte entsprochen. Die Revision beider Parteien wurde zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
„Nach dem angefochtenen Urteil hat SB U dem Schubverband bei dessen Annäherung Raum in einer Breite von 80 bis 85 m für die Zwischendurchfahrt zur Verfügung gestellt. Diese Feststellung beruht auf einer eingehenden Würdigung des Beweisergebnisses durch das Berufungsgericht. Sie ist aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zu beanstanden... .
Nach Ansicht des Berufungsgerichts erscheint der Zwischenraum der beiden Schleppzüge von 80 bis 85 m für die in einer leichten Stromkrümmung vorzunehmende Zwischendurchfahrt des Schubverbandes „auf den ersten Blick" ausreichend. Jedoch ergebe sich aus den gutachtlichen Darlegungen des Sachverständigen Sch, daß das nicht der Fall gewesen sei. Ihnen sei zu entnehmen, daß der Schubverband eine Fahrbahnbreite von 70 bis 75 m zuzüglich eines Sicherheitsabstandes von weiteren - wenigstens - 20 bis 25 m benötigt habe....
Da nach dem angefochtenen Urteil für eine gefahrlose Begegnung eine Durchfahrtsbreite von mindestens 90 m (70 m + 20 m) erforderlich war, liegt es auf der Hand, daß eine solche von höchstens 85 m dem Schubverband für die Begegnung keinen gefahrlosen und damit keinen geeigneten Weg freiließ. Dem kann nicht entgeg3ngehalten werden, daß der Raum zwischen einzelnen Anhängen des „Uri"-Schleppzuges und dem F-Schleppzug größer als 80 bis 85 m gewesen sei und der Schubverband das Boot U bereits passiert gehabt habe, als er mit SK P kollidiert sei. Denn von einem für die Durchfahrt zwischen zwei Bergschleppzügen geeigneten Weg kann nur dort die Rede sein, wo die Vorbeifahrt an j e d e m Fahrzeug der beiden Schleppzüge gefahrlos erfolgen kann. Auch gereicht es insoweit dem Beklagten zu 2 zum Nachteil, daß der Kurs seines Schleppzuges beim Näherkommen des Schubverbandes unverändert blieb, so daß bis zum Beginn der Zwischendurchfahrt nicht mit einer Verbreiterung des Raumes zwischen den beiden Schleppzügen zu rechnen war. Im übrigen ist zu den weiteren Angriffen der Revision der Beklagten zu diesem Punkte zu bemerken, daß es nichts mit einer Bevorzugung der Schubschiffahrt zu tun hat, wenn alle Fahrzeuge auf einer Schiffahrtsstraße im Interesse einer sicheren Verkehrsabwicklung gehalten sind zu berücksichtigen, daß - insbesondere mehrgliedrige - Schubverbände beim Durchfahren von Stromkrümmungen eine besonders breite Fahrbahn benötigen.
Nach den weiteren Ausführungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte zu 2 den (objektiven) Verstoß gegen § 38 Nr. 1 Satz 2 RheinSchPolVO 1954 auch verschuldet. Insoweit entlaste ihn nicht, daß die für die Begegnung notwendige Breite „erst im vorliegenden Rechtsstreit im Wege einer wissenschaftlichen Expertise habe ermittelt werden müssen". Denn jeder Schiffsführer, der auf dem Rhein einer zugelassenen Schiffsformation begegne und keine sichere Kenntnis über die von dieser tatsächlich benötigte Fahrbahnbreite habe, sei verpflichtet, ein Überholmanöver zurückzustellen, wenn er dem Gegenkommer nicht soviel Raum freilassen könne, daß auch der letzte Zeifel für eine gefahrlose Begegnung entfalle. Zudem stehe fest, daß der Beklagte zu 2 mit dem von ihm geführten Schleppzug ohne weiteres nach Backbord hätte Raum geben können....
Da das Berufungsgericht davon ausgeht, daß der Beklagte zu 2 bereits durch ein Beigehen mit dem „Uri"-Schleppzug zum rechten Ufer hin Platz für eine gefahrlose Zwischendurchfahrt des Schubverbandes hätte schaffen können, somit an sich für ein gleichzeitiges Begegnen und Überholen hinreichend Raum vorhanden war, läßt sich allein aus der Durchführung des zweiten Manövers nichts für einen schuldhaften Verstoß des Beklagten zu 2 gegen § 38 Nr. 1 Satz 2 RheinSchPolVO 1954 herleiten.
Hingegen hat das Berufungsgericht zu Recht einen solchen Verstoß des Beklagten zu 2 darin erblickt, daß er mit seinem Schleppzug den eingeschlagenen, für eine gefahrlose Zwischendurchfahrt des Schubverbandes nicht ausreichenden Kurs beibehalten hat, anstatt diesen weiter nach rechtsrheinisch zu verlegen. Die gegenteilige Ansicht der Revision der Beklagten verkennt, daß von jedem Bergfahrer im Interesse eines sicheren Schiffsverkehrs zu verlangen ist, dem Gegenkommer so weit wie möglich Platz zu machen, sofern ihm auf Grund allgemeiner oder eigener Erfahrung nicht oder nicht genügend bekannt ist, welchen Raum dieser bei den vorhandenen Gegebenheiten zur Begegnung benötigt, oder auch nur Zweifel in dieser Richtung bestehen. Das gebietet nicht nur die besondere, sich aus § 38 Nr. 1 Satz 2 RheinSchPolVO 1954 (jetzt: § 6.04 Nr. 1 RheinSchPolVO 1970) ergebende Verantwortung des Bergfahrers für die Begegnung mit der Talfahrt. Vielmehr folgt das auch aus der allgemeinen Sorgfaltspflicht der Schiffsführer, wonach sie vor allem gehalten sind, gegenseitige Beschädigungen der Fahrzeuge zu vermeiden (vgl. § 4 RheinSchPolVO 1954; § 1.04 RheinSch,PolVO 1970). Auch besteht die Pflicht des Bergfahrers zu dem dargelegter, Verhalten unabhängig davon, ob ihn der Talfahrer durch ?eichen oder auf andere Weise darauf aufmerksam zu machen versucht hat, daß der eingeräumte Raum für eine gefahrlose Begegnung nicht ausreicht, oder ob er solches unterlassen hat. Dessen Handeln oder Unterlassen mag für die Mitverschuldensfrage von Bedeutung sein. Es entbindet jedoch den Bergfahrer nicht von der in eigener Verantwortung vorzunehmenden Prüfung, welchen Raum der Gegenkommer für die Begegnung braucht, und wenn er das nicht mit Sicherheit feststellen kann, pflichtgemäß so weit wie möglich Platz zu machen....
Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat die Führung des Schubverbandes die Kollision mit SK P mitverschuldet. Zunächst sei ihr vorzuwerfen, daß sie kein Achtungszeichen gegeben habe, obwohl sie bereits auf eine Entfernung von 700 bis 800 m erkannt gehabt habe, daß der Seitenabstand der beiden Schleppzüge für eine Zwischendurchfahrt nicht ausreiche, sich an diesem Abstand auch während der weiteren Annäherung nichts geändert habe. Ferner gereiche ihr zum Vorwurf, daß sie beim Näherkommen das Boot U nicht hart angehalten habe, um dessen Führung wenigstens auf diese Weise anzuzeigen, daß der zur Verfügung gestellte Durchfahrtsraum unzureichend sei. In jedem Falle hätte sie aber den Schubverband rechtzeitig anhalten müssen, was auf einer Strecke von 150 bis 180 m möglich gewesen wäre.
Der Revision der Klägerin kann nicht gefolgt werden, soweit sie meint, der Vorwurf des Berufungsgerichts, die Abgabe eines Achtungszeichens unterlassen zu haben, sei nicht als ein selbständiger Schuldvorwurf zu verstehen. ... Hingegen geht aus den Ausführungen des Berufungsgerichts nicht hinreichend hervor, daß der U-Schleppzug in jedem Falle auf ein Achtungszeichen des Schubverbandes reagiert und mehr Raum für die Zwischendurchfahrt gegeben hätte. Deshalb kann von einem kausalen Mitverschulden der Führung des Schubverbandes nicht ausgegangen werden. Nicht ernsthaft vermag jedoch auch die Revision der Klägerin zu bezweifeln, daß die weiter vom Berufungsgericht bejahten Fehler der Führung des Schubverbandes die Kollosion mitverursacht haben. . . .
Gegen die Quote wenden sich beide Revisionen ohne Erfolg. Allerdings kann die Führung des Schubverbandes nicht damit belastet werden, daß sie kein Achtungszeichen gegeben hat, weil es, wie dargelegt, nicht unzweifelhaft ist, ob dieser Fehler für die Kollosion ursächlich war. Hingegen beschwert es sie, nicht rechtzeitig gestoppt zu haben...."