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Leitsatz:
1) Adäquater Zusammenhang zwischen der Fehleinschätzung der Lage eines beim Aufpacken befindlichen Schleppzuges und dem beim Ausgleich dieses Fehlers durch eigene Manöver verursachten Unfall.
2) Zum Verhalten von Schleppzügen während des Fertigmachens für die Abfahrt bis zum Verlassen des Ankerplatzes.
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 11. März 1974
II ZR 48/72
(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim; Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)
Zum Tatbestand:
Während das der Klägerin gehörende, beladene TMS V auf der Bergfahrt sich der linken Öffnung der Wormser Nibelungenbrücke näherte, packte oberhalb der Brücke das der Beklagten zu 1 gehörende und vom Beklagten zu 2 geführte Schleppboot H das mit Maschinenschaden am linken Ufer liegende, dem Beklagten zu 3 gehörende und von ihm selbst geführte MS He auf, das hierbei in wechselnde Schräglagen geriet. Beim Ausweichen schlug TMS V mit der Backbordseite in Höhe von Raum IV gegen den rechten Pfeiler der linken Brückenöffnung, fiel um diesen herum und wurde beschädigt.
Die Klägerin verlangt Schadenersatz von ca. 85000,- DM, weil MS He mit dem Vorschiff nach Backbord und mit dem Hinterschaff nach Steuerbord verfallen sei, als sich TMS V in der linken Brückenöffnung befunden habe. Infolge der Sperrung der Ausfahrt sei TMS V gegen den Brückenpfeiler geraten. MS He sei verfallen, weil der Schleppzugstrang zu lang gewesen sei und nur die Braut des Beklagten zu 3 am Ruder des unterbemannten MS He bestanden habe, als der Beklagte zu 3 den Schleppdraht übernommen, die Landdrähte gelöst und den Anker aufgeholt habe.
Die Beklagten behaupten, daß MS He höchstens' 35 m vom linken Ufer abgegangen und für den Bergfahrer genügend Platz zur gefahrlosen Durchfahrung der Brückenöffnung vorhanden gewesen sei.
Rheinschiffahrtsgericht und Rheinschiffahrtsobergericht haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin wurde die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur anderweiten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist dem Beklagten zu 2 nicht vorzuwerfen, daß er MS He aufpackte, obwohl dieses Fahrzeug nicht gehörig bemannt gewesen sei. Das habe die Beklagte zu2weder gewußt noch bemerken müssen. Insoweit falle zu seinen Gunsten ins Gewicht, daß die Mindestbemannung des MS He dem Anschein nach vorhanden gewesen sei, da sich neben dem Beklagten zu 3 auch dessen Braut an Bord aufgehalten habe. Außerdem habe der Beklagte zu 3 die Frage des Beklagten zu 2, ob bei ihm an Bord alles klar sei, ausdrücklich bejaht.
Demgegenüber meint die Revision, die Unterbemannung des MS He sei offensichtlich gewesen, weil dessen Schiffer vor den Augen der Führung von SB H alle Arbeiten an Bord selbst ausgeführt habe. Sie beachtet jedoch nicht genügend, daß nach den Angaben der als Zeugin vernommenen Braut des Beklagten zu 3, denen das Berufungsgericht gefolgt ist, diese das Ruder bediente, während der Beklagte zu 3 den Anker lichtete. Es ist bei Partikulierfahrzeugen nichts Außergewöhnliches, daß weibliche Familienmitglieder zur Besatzung gehören und das Ruder führen, während der Schiffer körperlich schwerere Arbeiten verrichtet. Der Beklagte zu 2 brauchte daher nicht schon deshalb eine Unterbemannung des MS He ins Auge fassen, weil der Beklagte zu 3 selbst den Schleppstrang übernahm, die Landdrähte löste und den Anker hievte.
Das Berufungsgericht ist weiter der Ansicht, daß der Beklagte zu 2 nicht gegen § 47 Nr. 1, § 49 Nr. 1 RheinSchPolVO 1954 verstoßen habe.
§ 49 Nr. 1 regelt in Verbindung mit § 47 Nr. 1 S. 1 RheinSchPolVO 1954 die Abfahrt von Einzelfahrern oder Schleppzügen. Hierzu bestimmen sie, daß Einzelfahrer oder Schleppzüge ihren Liege- oder Ankerplatz nur verlassen dürfen, wenn sie das Manöver ausführen können, ohne daß andere Fahrzeuge gezwungen sind, unvermittelt die Geschwindigkeit zu vermindern oder den Kurs zu ändern. Hingegen besagen sie nichts darüber, wie sich (Einzelfahrer oder) Schleppzüge während des Fertigmachens für die Abfahrt bis zum Verlassen des Liege- oder Ankerplatzes zu verhalten haben. Insoweit greift die allgemeine Grundregel für das Verhalten im Schiffsverkehr (§ 4 RheinSchPolVO 1954) ein. Hier lag es nun so, daß das von der Klägerin behauptete und von dem Berufungsgericht festgestellte Abgehen des MS He vom linken Ufer und das nachfolgende Verfallen dieses Fahrzeugs während des Fertigmachens des H-Schleppzuges für die Reise nach Mainz-Gustavsburg erfolgte, nämlich nach dem Lösen der Landdrähte und beim Ankerhieven. Damit scheidet eine Anwendung des § 49 Nr. 1 in Verbindung mit § 47 Nr. 1 S. 1 RheinSchPolVO 1954 aus.
Das Berufungsgericht hat die Frage offengelassen, ob sich der Beklagte zu 2 durch ein zu starkes Ausfieren des Schleppstranges „außerstande gesetzt habe, den Kopf des Anhangs im Interesse der durchgehenden Schiffahrt möglichst nahe am Ufer beizuhalten und erforderlichenfalls bei einem Abgehen desselben sofort abzuziehen". Es meint, eine insoweit etwa vorliegende Sorgfaltsverletzung wäre - ebenso wie die Unterbemannung und die falsche Ruderbesetzung auf MS He, die beide dem Beklagten zu 3 anzulasten seien nur für das Abgehen und Verfallen des Anhangs adäquat kausal, hingegen nicht für die Havarie des TMS V. Denn diese möglichen oder tatsächlichen Fehler hätten nur deshalb zu der Anfahrung des Brückenpfeilers durch den Bergfahrer geführt, weil sich dieser „unter grober Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt und wider alle Umsicht in ganz ungewöhnlichem Maße nautisch falsch verhalten" habe.
Eine derartige Havarie hätte der Bergfahrer aber ohne weiteres vermeiden können, wenn er den Kurs rechtzeitig vor der Brücke nach Backbord geändert hätte, entweder um den wegen des linksrheinischen Aufpackmanövers für ihn besonders sicheren Weg durch die mittlere Brückenöffnung zu nehmen oder um mit hinreichendem Abstand zu MS He gestreckt die linke Brückenöffnung zu durchfahren; zumindest hätte er, falls er die Lage für unklar gehalten habe, vor der Brücke stoppen müssen. Wenn er stattdessen in blindem Vertrauen darauf, daß MS He schon rechtzeitig die Fahrt aufnehmen werde, unbekümmert mit Kollisionskurs bis auf eine Schiffslänge auf das ohne Vorausgang im Strom liegende MS He zugefahren sei und erst dann ein wegen der Strömungsverhältnisse im Brückenbereich riskantes Ausweichmanöver durchgeführt habe, so stelle ein solches Verhalten „einen derart gravierenden Verstoß gegen das von einem Schiffsführer vernünftigerweise zu erwartende Mindestmaß an Sorgfalt dar, daß auch ein optimaler Beobachter im Augenblick der Unterbemannung des Steuers des MS He und dem Ausfieren des Schleppstranges heim Beginn des Aufpackmanövers auf eine Länge von 40 m normalerweise mit diesem nicht hätte rechnen können". Deshalb liege die Havarie des TMS V außerhalb des Bereichs adäquater Verursachung durch die Beklagten zu 2 und 3.
Dem ist, wie die Revision mit Grund geltend macht, nicht zu folgen. Denn der Umstand, daß ein Fahrzeug einen beim Aufpacken befindlichen Schleppzug infolge einer Fehleinschätzung der Lage zu nahe aufläuft und alsdann beim Ausgleich eines Fehlers des Bootes oder eines Anhangs durch eigene rasche Ruder- oder Maschinenmanöver einen Unfall erleidet, ist nicht so außergewöhnlich, daß der adäquate Zusammenhang zwischen solchen Fehlern und dem Unfall zu verneinen ist.
Danach kann die Abweisung der Klage durch das Berufungsgericht keinen Bestand haben.
Dieses wird nunmehr Gelegenheit haben, die Frage eines schuldhaften Verhaltens des Beklagten zu 2 auch unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob er nicht wegen der eingeschränkten Steuerfähigkeit des MS He und mit Rücksicht auf den Liegeplatz dieses Fahrzeugs kurz oberhalb einer der Bergfahrt zur Benutzung empfohlenen Brückenöffnung (vgl. § 64 Nr. 4 RheinSchPolVO 1954) zu einem besonders vorsichtigen Navigieren verpflichtet war, damit der Anhang bis zur Abfahrt des Schleppzuges in der Nähe des linken Ufers verblieb und die durchgehende Schiffahrt möglichst wenig behinderte. Ferner wird das Berufungsgericht bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung der Sache noch weiter der Frage nachgehen müssen, was das Verfallen des MS He in eine Backbordschräglage tatsächlich bewirkt hat. Denn ohne entsprechende Feststellungen in dieser Richtung läßt sich nicht beurteilen, ob ein etwaiges Verschulden des Beklagten zu 2 beim Aufpacken des MS He oder die zeitweilige Besetzung des Ruders dieses Fahrzeugs mit einer schifffahrtsunkundigen Person für die Havarie des TMS V ursächlich war. Auch erscheint es dem Senat zweifelhaft, ob nach den bisherigen Feststellungen über den Unfallhergang die Ansicht des Berufungsgerichts berechtigt ist, TMS V sei „blindlings" und „unbekümmert" auf MS He zugefahren. Immerhin hat der Bergfahrer die Geschwindigkeit auf 2 km/h herabgesetzt, als er das Aufpackmanöver bemerkte, und zwar zu einem Zeitpunkt, als MS He bereits die Landdrähte gelöst und sich auf etwa 35 m vom linken Ufer entfernt hatte, somit die baldige Abfahrt des Schleppzuges nicht unwahrscheinlich war. Außerdem wird man bei der Beurteilung des Verhaltens des Bergfahrers nicht unbeachtet lassen können, daß er erst dadurch in wesentliche Schwierigkeiten geriet, daß MS He plötzlich in wechselnde Schräglagen verfiel, als er in die linke Brückenöffnung einfuhr.