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Leitsatz:
Nimmt ein Bergfahrer einen Uferwechsel vor, so behält er auch während des Übergangs das Kursweisungsrecht nach § 38 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO. Das gilt auch dann, wenn er dieses Manöver in harter Schräglage ausführt.
Urteil des Bundesgerichtshof
vom 26. Oktober 1970
(Rheinschifffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschifffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Das beim Kläger versicherte MS „SM" fuhr beladen aus der Ruhr in den Rhein zu Tal. Zwischen ihm und dem der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten, beladenen TMS „Ernst Weber", das den Duisburg-Ruhrorter Hafenkanal zur Bergfahrt verlassen hatte, kam es bei km 780,3 zum Zusammenstoß, indem MS „SM" mit seinem Steven gegen die Backbordseite des TMS „EW" geriet.
Der Kläger verlangt Ersatz des Schadens von MS „SM", weil der Beklagte zu 2 beim Verlassen des Hafenkanals auf TMS „EW" keine Rücksicht auf das schon auf dem Rhein in Schrägkurs zum linken Ufer fahrende MS „SM" genommen und sein Schiff nach der Ausfahrt nicht rechtsrheinisch gehalten, sondern eine Querfahrt zur linken Stromseite ausgeführt habe.
Die Beklagten behaupten, dass TMS „EW" bereits auf dem Rhein mit Steuerbordkurs zu Berg gefahren sei, als MS „SM" die Ruhr verlassen und die blaue Seitenflagge gezeigt habe, um von TMS „EW" eine Steuerbordbegegnung zu erzwingen.
Das Rheinschifffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Rheinschifffahrtsobergericht hat sie zu 1/4 für gerechtfertigt erklärt. Revision des Klägers und Anschlussrevision der Beklagten blieben erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht meint, die Ausfahrt des TMS „EW" aus dem Hafenkanal sei zulässig gewesen. Dem ist zuzustimmen. Das Schiff durfte den Hafenkanal verlassen, weil nach der vom Berufungsgericht festgestellten Lage im Revier kein anderes Fahrzeug durch die Ausfahrt gezwungen war, unvermittelt die Geschwindigkeit zu vermindern oder den Kurs zu ändern (§ 50 Nr. 3 Satz 1 RheinSchPVO [1954]).
Das Berufungsgericht ist weiter der Auffassung, TMS „EW" habe die - zulässige - Ausfahrt nautisch einwandfrei vollzogen. Dieser Auffassung ist ebenfalls beizupflichten. Wie der Senat bereits mehrfach ausgeführt hat, muss ein Fahrzeug, das im Anschluss an die Ausfahrt aus dem Hafenkanal zu Berg fahren will, den Hafenkanal so verlassen, dass es in gestreckter Lage in ausreichender Entfernung von dem Molenkopf auf den Rhein kommt, um rechtzeitig den Überblick nach Oberstrom zu erlangen (BGH VersR 1965, 513, 514; 1146, 1147; vgl. auch BGH VersR 1966, 682, 683). Diese Regel hat TMS „EW" beachtet. Die gegenteiligen Darlegungen der Revision berücksichtigen einmal nicht die Feststellung des Berufungsgerichts, TMS „EW" habe beim Verlassen des Hafenkanals nahezu gestreckt gelegen, das Schiff sei sodann mit leichtem Steuerbordkurs zu Berg gefahren und habe hierbei einen Seitenabstand von etwa 40 bis 50 m zu dem Molenkopf gewonnen. Sie lassen zum anderen außer Betracht, dass ein Überqueren des Stromes, das, wie vorliegend, erst nach Verlassen des Hafenkanals und anschließendem Obergang zur Bergfahrt erfolgt ist, ein neues, selbständig zu beurteilendes Manöver darstellt, das im allgemeinen nichts darüber besagt, ob die vorangegangene Fahrweise nautisch fehlerhaft oder einwandfrei war.
Nach weiteren Ausführungen des Berufungsgerichts verstieß TMS „EW" durch das Überqueren des Stromes nicht gegen §§ 4, 38 und 49 RheinSchPVO (1954). Das Berufungsgericht wirft dem Schiff aber vor, dieses Manöver nicht rechtzeitig durch ein Steuerbordkurszeichen angekündigt zu haben.
Im Ergebnis ist dem Berufungsgericht dahin beizutreten, dass das Überqueren des Stromes durch TMS „EW" zulässig war, die Führung des Schiffes aber insoweit nautisch fehlerhaft gehandelt hat, als sie das Schallzeichen 1 x kurz nicht bereits v o r der Ausfahrt des MS „SM" aus der Ruhr gegeben hat.
a) Nach § 50 Nr. 3 Satz 1 RheinSchPVO (1954) ist die durchgehende Schifffahrt gehalten, die Ausfahrt eines Schiffes aus einem Hafen, einer Fluss- oder Kanalmündung durch zumutbare, d. h. ihre Fahrt nicht wesentlich behindernde Manöver (BGH VersR 1970, 34; Kählitz, Das Recht der Binnenschifffahrt Bd. II Anm. 4 zu § 47 und zu § 50 RheinSchPVO), zu unterstützen. Die Bergfahrt ist außerdem nach § 38 Nr. 1 RheinSchPVO (1954) verpflichtet, dem Ausfahrenden eine Kursweisung zu geben, und ihm einen geeigneten Begegnungsweg freizulassen, sofern nach den Umständen (Kurszeichen nach § 50 Nr. 2 RheinSchPVO [1954], tatsächlicher Kurs oder Geschwindigkeit des Ausfahrenden) damit zu rechnen ist, dass es zwischen dem Ausfahrenden und der Bergfahrt zu einer Begegnung auf dem Strom kommen wird (BGH VersR 1969, 846, 847).
Gegen diese Pflichten hat TMS „EW" nicht verstoßen. Das Schiff war von dem Zeitpunkt an, von welchem es den Hafenkanal verlassen hatte und auf dem Rhein mit leichtem Steuerbordkurs zu Berg fuhr, Bergfahrer. Es hatte die blaue Seitenflagge nicht beigesetzt. Es wies damit der Talfahrt den Weg für eine Backbordbegegnung (§ 38 Nr. 2 RheinSchPVO [1954]). Die Kursweisung galt auch für MS „SM", dessen erhebliche Geschwindigkeit erkennen ließ, dass es die Ruhr vor der Vorbei¬fahrt des TMS „EW" verlassen wollte, und das durch das Schallzeichen 3 x lang, 1 x kurz angekündigt hatte, es werde den Kurs nach der Ausfahrt nach Steuerbord, mithin zu Tal richten (§ 50 Nr. 2 RheinSchPVO [1954]) und nicht, wie es stattdessen geschah, den Strom überqueren. Bei Befolgung der Kursweisung des Bergfahrers konnte nach den rechtsfehlerfreien Erwägungen des Berufungsgerichts MS „SM" ohne Gefahr die Ruhr verlassen und an der Backbordseite des Bergfahrers vorbeifahren.
b) TMS „EW" hat das Kursweisungsrecht nach § 38 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO (1954) nicht
dadurch verloren, dass es den Strom überqueren wollte und dieses Manöver teilweise (bis zum Zusammenstoß) ausgeführt hat.
Sind, wie hier auf dem Rhein, keine bestimmten Begegnungskurse vorgeschrieben, stehen demnach Backbord- und Steuerbordbegegnung gleichberechtigt nebeneinander, so liegt es auf der Hand, daß es leicht zu Missverständnissen über den Begegnungskurs kommen kann, wenn nicht einem der Begegnenden die Befugnis eingeräumt wird, den Begegnungskurs verbindlich festzulegen. Um derartige Missverständnisse zu vermeiden, wurde bei der Neufassung der Rheinschifffahrt-Polizeiverordnung im Jahre 1954 durch die Vorschrift des § 38 Nr. 1 Satz 1 das Kursweisungsrecht des Bergfahrers eingeführt (vgl. auch Wassermeyer, Der Kollosionsprozeß, 3. Aufl. S. 183).
Die genannte Vorschrift könnte aber ihren Zweck, nämlich Klarheit über den Begegnungskurs zu schaffen, nur unvollständig erreichen, wenn das Kursweisungsrecht des Bergfahrers während eines Uferwechsels deshalb - vorübergehend - entfiele, weil er bei diesem Manöver den Strom ganz oder teilweise überqueren muss, einem Querfahrer das Kursweisungsrecht des Bergfahrers aber nicht zusteht (BGH VersR 1960, 535, 536). Insbesondere würde ein derartiger Wegfall des Kursweisungsrechts des Bergfahrers bei denjenigen Talfahrern zu erheblichen Unsicherheiten über den Begegnungskurs führen, deren Kurse der Bergfahrer während des Übergangs schneidet oder die sich in dem Teil des Stromes befinden, den der Bergfahrer anhält. Im Interesse der Sicherheit des durchgehenden Verkehrs hat deshalb der Senat mehrfach ausgesprochen, dass der Bergfahrer, der in Schrägfahrt einen Uferwechsel vornimmt, das Kursweisungsrecht nach § 38 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO (1954) behält (BGH VersR 1965, 354; 1969, 321, 322).
Dieser Grundsatz ist auch im Streitfall anzuwenden. Daran ändert entgegen den Ausführungen der Revision nichts der Umstand, dass TMS „EW" den Strom nicht in „normaler" Schrägfahrt überquert, sondern den Übergang - nach dem insoweit übereinstimmenden Vorbringen der Parteien im Berufungsrechtszug - im „spitzen Winkel", mithin in harter Schrägfahrt, vollzogen hat. Will man nämlich dem Zweck der Vorschrift des § 38 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO (1954) gerecht werden, so kann es für das Kursweisungsrecht des Bergfahrers keinen Unterschied machen, in welchem Winkel zur Längsachse des Stromes er eine Schrägfahrt ausführt. Bei der bekannten Schwierigkeit, den Winkel zwischen der Längsachse eines im Obergang befindlichen Schiffes und der Längsachse des Stromes einigermaßen genau zu schätzen, würde jede Abhängigkeit des Kursweisungsrechts des Bergfahrers von diesem Winkel zu erheblichen Unklarheiten über den von der Talfahrt einzuschlagenden Kurs führen. Im Interesse klarer Weisungsbefugnisse des Bergfahrers ist deshalb geboten, dem Bergfahrer das Kursweisungsrecht unabhängig davon zu belassen, in welchem Winkel zur Längsachse des Stromes er eine Schrägfahrt ausführt. Das allein entspricht auch den Gepflogenheiten der Praxis (Wassermeyer S. 240, 241).
Der Revision ist zuzugeben, dass es für einen Talfahrer insbesondere in den Fällen, in denen ein Fahrzeug in Bergschräglage vor ihm auftaucht, schwierig sein kann zu erkennen, ob er einen -weisungsberechtigten - Bergfahrer oder einen - nicht weisungsberechtigten - Querfahrer vor sich hat. Diese Schwierigkeit kann jedoch nicht dazu führen, allgemein oder jedenfalls für derartige Fälle von der Regel abzugehen, dass der einen Uferwechsel vornehmende Bergfahrer das Kursweisungsrecht unabhängig davon behält, in welchem Winkel er die Schrägfahrt ausführt. Vielmehr ist es in einer solchen Lage Sache der beteiligten Schiffsführer, durch erhöhte Aufmerksamkeit, durch besonders vorsichtiges Navigieren und, sofern erforderlich, durch Achtung- und Kurszeichen die schwierige Situation zu meistern.
Dass es schließlich für das Bestehen des Kursweisungsrechts eines einen Uferwechsel vornehmenden Bergfahrers ohne Bedeutung ist, ob er während dieses Manövers deutlich, kaum oder, wie im Streitfall, nicht an Höhe gewinnt, zeigt bereits die Erwägung, dass die Lage im Revier einen Bergfahrer nötigen kann, den Übergang ohne gleichzeitiges Vorankommen durchzuführen, oder dass die Strömungsverhältnisse ein Vorankommen während dieses Manövers nicht zulassen. Bei der nunmehr erfolgten Neufassung der Rheinschifffahrt-Polizeiverordnung wurde klargestellt, dass Fahrzeuge, die sich Bug zu Berg mit im Vorwärtsgang laufender Maschine zu Tal bewegen, nicht als treibende Fahrzeuge, sondern als Bergfahrer gelten (§ 6.19 Nr. 3 RheinSchPVO [1970]). Auch dies verdeutlicht, dass bei der Beurteilung der Frage, ob einem Bergfahrer das Kursweisungsrecht zusteht, nicht auf sein Vorankommen im Strom abzustellen ist.
Verblieb aber das Kursweisungsrecht nach § 38 Nr. 1 Satz 1 RheinSchPVO (1954) bei TMS „EW" auch während des Übergangs in die linke Fahrwasserhälfte, so ist dieses Manöver schon deshalb nicht zu beanstanden, weil es im Rahmen der Kursweisung dieses Schiffes lag, überdies hierdurch der Raum für die MS „SM" gewiesene Backbordbegegnung weiter vergrößert wurde.
c) Das Berufungsgericht hat das Überqueren des Stromes durch TMS „EW" anhand der Vorschrift des § 49 Nr. 1 Rhein-SchPVO (1954) geprüft und hierbei auch den Fall im Auge gehabt, daß TMS „EW" den Übergang nicht in einem „spitzen, sondern in einem rechten Winkel" gemacht hat. Dabei bezeichnet das Berufungsgericht mit den Worten „in einem rechten Winkel" ersichtlich eine Lage, bei der der Kopf des Schiffes während des Übergangs - im Gegensatz zur Schrägfahrt - nicht mehr gegen die Strömung gerichtet war. Auf diesen Punkt einzugehen, ist aber nicht erforderlich, weil nach dem übereinstimmenden schriftsätzlichen Vorbringen der Parteien im Berufungsrechtszug der Uferwechsel durch den Bergfahrer in einem „spitzen" (mithin nicht in einem „rechten") Winkel zur Längsachse des Stromes erfolgt ist und sich weder der Niederschrift über die Berufungsverhandlung noch dem angefochtenen Urteil entnehmen läßt, dass eine der Parteien ihr schriftsätzliches Vorbringen in der Berufungsverhandlung geändert hat.
d) Hält ein Talfahrer einen Kurs ein, der der Kursweisung des Bergfahrers zuwiderläuft, so steht zu befürchten, dass die Kursweisung von dem Talfahrer entweder nicht bemerkt oder nicht verstanden worden ist (BGH VersR 1962, 320, 321). In einem solchen Fall ist der Bergfahrer aber nach § 38 Nr. 4 RheinSchPVO (1954) gehalten, zusätzlich bestimmte Schallzeichen zu geben. Gegen diese Pflicht hat TMS „EW" verstoßen.
Die Kursweisung des TMS „EW" nach § 38 Nr. 2 Rhein-SchPVO (1954) galt, wie oben unter a) ausgeführt wurde, auch MS „SM". Dieses Schiff hielt jedoch bei seiner - überdies mit erheblicher Geschwindigkeit erfolgenden - Annäherung an die Mündungslinie der Ruhr einen Kurs ein, der in die linke Hälfte des Fahrwassers gerichtet war und damit der Kursweisung des Bergfahrers widersprach. Das ließ aber befürchten, dass MS „SM" die Kursweisung des Bergfahrers nicht bemerkt oder nicht verstanden hatte. TMS „EW" hätte demnach bereits v o r der Ausfahrt des MS „SM" aus der Ruhr das nach § 38 Nr. 4 RheinSchPVO (1954) zusätzlich vorgesehene Schallzeichen geben und damit den Ausfahrer zu einem Zeitpunkt auf die Kursweisung nach § 38 Nr. 2 RheinSchPVO (1954) aufmerksam machen müssen, als er die Weisung noch ohne weiteres hätte befolgen können. Dass dies unterblieb, ist der Führung des TMS „EW" vorzuwerfen.
MS „SM" hat mit erheblicher Geschwindigkeit die Ruhr verlassen. Das Schiff hat dabei einen Kurs eingehalten, der seiner eigenen Kursankündigung widersprach und die Kursweisung des TMS „EW" missachtete. Trotz des von dem Bergfahrer bereits eingeleiteten Uferwechsels hat MS „SM" versucht, ebenfalls in die linke Fahrwasserhälfte überzuwechseln und dort an der Steuerbordseite des TMS „EW" vorbeizufahren. Spätestens bei der Ausfahrt aus der Ruhr hat MS „SM" die blaue Flagge gesetzt, obwohl es hierzu nach der Kursweisung des Bergfahrers nicht befugt war. Damit hat die Führung des MS „SM", wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, in grober Weise gegen § 39 Nr. 1, § 49 Nr. 1 und § 50 Nr. 3 Satz 1 RheinSchPVO (1954) verstoßen."