Decision Database
Leitsatz:
Zur Pflicht des Berufungsgerichts die vom erstinstanzlichen Gericht - uneidlich - vernommene Partei erneut zu vernehmen, wenn es deren persönliche Glaubwürdigkeit abweichend beurteilen will.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 28. September 1981
II ZR 11/81
(Landgericht Hamburg; Oberlandesgericht Hamburg)
Zum Tatbestand:
Das vom Beklagten auf der Fahrt von Boston (Ostengland) in der Nacht zum 20. 11. 1977 nach Bremen geführte MS „C" war vor der holländischen Küste bei schwerem Sturm und grober See untergegangen. Die klagenden Versicherer verlangen den Wert der verlorenen Ladung von ca. 278000,- DM mit der Begründung, dass der Beklagte die von der Berufsgenossenschaft gemachte Auflage, eine maximale Stauhöhe von 1,50 m über Deck beim Beladen einzuhalten und durch geeignete Maßnahmen ein Übergehen der Ladung zu verhindern, nicht beachtet und trotz der Fahruntüchtigkeit bei einer Windstärke von 4 Beaufort die Reise am 19. 11. 1977 kurz nach Mitternacht angetreten habe.
Der Beklagte hat bestritten, dass die angegebenen Gründe zum Sinken des Schiffes geführt hätten. Vielmehr hätten drei aufeinander folgende extrem hohe Seen die Luken des gut und eben liegenden Schiffes eingeschlagen, worauf das in die Laderäume eindringende Wasser das Sinken des Schiffes verursacht habe.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr stattgegeben; dabei hat es jedoch im Gegensatz zum Landgericht, das den Beklagten als Partei vernommen und seine Darstellung als glaubwürdig angesehen hatte, dessen Glaubwürdigkeit negativ beurteilt, ohne ihn erneut zu vernehmen.
Auf die Revision des Beklagten ist das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Der Beklagte hatte sowohl als Kapitän des MS „C" als auch als Verfrachter der 715 t Futterweizen dafür zu sorgen, dass das Schiff bei Reiseantritt seetüchtig war (§§ 513, 559 Abs. 1 HGB). Verletzte er schuldhaft diese Pflicht, so ist er den Ladungsbeteiligten für den ihnen dadurch entstandenen Schaden ersatzpflichtig (§ 511 Satz 2, § 512 Abs. 1, § 559 Abs. 2 HGB).
2. Die Revision muss die Feststellung des Berufungsgerichts hinnehmen, dass MS „C", als das Schiff Boston verließ, infolge fehlerhafter Beladung seeuntüchtig gewesen ist und den Beklagten daran ein Verschulden trifft. Danach hängt die Entscheidung über den Klageanspruch allein von der Frage ab, ob die Seeuntüchtigkeit des MS „C" den Verlust der von den Klägerinnen versicherten Ladung verursacht hat. Insoweit greift, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, zu Gunsten der Klägerinnen der Anscheinsbeweis ein:
Nach dem angefochtenen Urteil war das überladene MS „C" in hohem Maße instabil; außerdem war seine Getreideschüttladung in keiner Weise gegen ein Übergehen gesichert. Ein solches Schiff ist, wenn es auf der Reise stürmische Winde und grobe See antrifft, außerordentlich gefährdet. Geht es in einer derartigen Lage ohne die Einwirkung eines anderes Fahrzeugs unter und besteht auch kein Anhalt, dass es in diesem Zeitpunkt weitere, seine Sicherheit gefährdende Mängel hatte, so spricht die Lebenserfahrung dafür, dass die fehlende Stabilität und die ungesicherte Ladung den Untergang verursacht haben. Richtig ist, dass nach den Feststellungen des Berufungsgerichts vor dem Sinken des MS „C" die hölzerne Lukenabdeckung aufgeschwommen und danach Wasser in den Laderaum geflossen ist. Das allein ergibt jedoch noch nichts für eine andere Unfallursache. Die gegenteilige Ansicht der Revision berücksichtigt nicht, dass ein solcher Vorgang nach den - vom Berufungsgericht für überzeugend gehaltenen - Ausführungen des Sachverständigen B. typisch ist, wenn ein Schiff wegen Instabilität oder übergegangener Ladung in Schräglage und als Folge davon die Lukenabdeckung teilweise unter Wasser geraten ist. Auch wird der gegen den Beklagten streitende Anscheinsbeweis nicht schon dadurch ausgeräumt, dass er behauptet hat, drei aufeinander folgende extrem hohe Seen hätten die Lukenabdeckung des bis dahin auf ebenem Kiel liegenden MS „C" eingeschlagen, und dass das den Untergang des Schiffes untersuchende Seeamt Hamburg sowie der in dem Untersuchungsverfahren mitwirkende Bundesbeauftragte die Unfalldarstellung des Beklagten für glaubhaft oder für möglich angesehen haben. Vielmehr ist hierzu erforderlich, dass er die ernsthafte Möglichkeit eines derartigen Ursachenverlaufs nachweist.
3. Nach den Ausführungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte diesen Nachweis nicht erbracht. Hiergegen wendet sich die Revision mit Verfahrensrügen. Insoweit hat sie Erfolg:
Das Landgericht hat den Beklagten gemäß § 448 ZPO als Partei vernommen. Nach dem persönlichen Eindruck, den es dabei von dem Beklagten gewonnen hat, ist es zu der Auffassung gelangt, dass dessen Angaben über den Unfallverlauf glaubhaft sind. Hiervon ausgehend hat es festgestellt, dass drei schwere achterliche Seen von ungewöhnlicher Wucht und Höhe den Untergang des zuvor eben im Wasser gelegenen MS „C" verursacht haben und die Instabilität des Schiffes dabei keine Rolle gespielt hat. Demgegenüber hat das Berufungsgericht ohne eine erneute Vernehmung des Beklagten dessen persönliche Glaubwürdigkeit abweichend vom Landgericht beurteilt und seine Angaben über den Unfallhergang für nicht verlässlich angesehen. Insoweit hat das Berufungsgericht gegen §§ 451, 398 Abs. 1 ZPO verstoßen. Zwar steht nach diesen Vorschriften die nochmalige Vernehmung einer Partei im Ermessen des Berufungsgerichts. Dieses übt sein Ermessen aber pflichtwidrig aus, wenn es die persönliche Glaubwürdigkeit einer Partei anders als das erstinstanzliche Gericht beurteilt, ohne sie nochmals zu vernehmen. Denn damit fehlt ihm der unmittelbare Eindruck, um die Wahrheitsliebe der Partei selbst beurteilen zu können (vgl. BGH, Urt. v. 26. September 1963 -II ZR 138/61, LM ZPO § 398 Nr. 2 sowie Urt. v. 24. Oktober 1973 - VIII ZR 111/72, LM aaO Nr. 7). Das trifft unabhängig davon zu, ob die Partei in erster Instanz auf ihre Aussage beeidigt worden ist oder nicht.
Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung ändert an dieser Beurteilung nichts, dass sich nach Ansicht des Berufungsgerichts „für eine Vernehmung des Beklagten als Partei, die die Klägerinnen nicht beantragt haben, keine ausreichenden Gründe (siehe § 448 ZPO) gefunden haben". Dabei kann zu ihren Gunsten davon ausgegangen werden, dass das Berufungsgericht mit diesem Satz nicht lediglich hat ausdrücken wollen, ihm habe der im Berufungsrechtszug vorliegende Tatsachen- und Beweisstoff nicht genügt, um selbst eine Parteivernehmung des Beklagten von Amts wegen anzuordnen, sondern dass es damit hat ausführen wollen, das Landgericht habe den Beklagten unter Verstoß gegen § 448 ZPO vernommen. Das hilft bei der Revisionserwiderung aber aus folgendem Grunde nicht weiter:
Ein Verstoß gegen § 448 ZPO ist kein unheilbarer Mangel im Sinne des § 295 Abs. 2 ZPO (Senatsurt. v. 6. Oktober 1977 - II ZR 141/761), VersR 1977, 1 124, 1125). Ein heilbarer Mangel kann aber nicht mehr gerügt werden, wenn die (betroffene) Partei den Mangel bei der nächsten mündlichen Verhandlung nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen ist und ihr den Mangel bekannt war oder bekannt sein musste (§ 295 Abs. 1, 2. Alternative ZPO). Hier war es nun so, dass zunächst der Einzelrichter und sodann die Kammer für Handelssachen den Beklagten gemäß § 448 ZPO vernommen haben. Das ist von den Klägerinnen nicht gerügt worden, und zwar auch dann nicht, nachdem das Landgericht in seinem Urteil eingehend die Gründe dargelegt hatte, die es bewogen haben, den Beklagten von Amts wegen zu vernehmen, so dass jedenfalls im Berufungsrechtszug für die Klägerinnen klar erkennbar war, ob das Landgericht, das ihm im Rahmen des § 448 ZPO zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat. Stattdessen haben sich die Klägerinnen im Berufungsrechtszug nur gegen die Würdigung der Aussage des Beklagten durch das Landgericht gewandt und hierzu vor allem vorgetragen, dieses habe dessen Angaben ein zu großes Gewicht beigemessen. Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung hat damit für das Berufungsgericht nicht mehr die Möglichkeit bestanden, seinerseits das vom Landgerichtausgeübte Ermessen zu überprüfen. Vielmehr musste es die erstinstanzliche Parteivernehmung des Beklagten als vollwertiges Beweismittel hinnehmen. Wie § 295 Abs. 1 ZPO deutlich macht, steht es grundsätzlich im Belieben der Parteien, ob sie es zulassen wollen, dass das Gericht Beweisstoff verwertet, den dieses verfahrensfehlerhaft beschafft hat.
Danach bedarf die Sache erneuter Prüfung durch das Berufungsgericht. Diese ist nicht, wie die Revisionserwiderung meint, deshalb entbehrlich, weil nach den Ausführungen des Berufungsgerichts MS „C" wegen der fehlerhaften Beladung und der bereits am 19. November 1977 bestehenden Wetterlage Boston überhaupt nicht hätte verlassen dürfen, außerdem der in dem Antritt der Reise liegende Pflichtverstoß des Beklagten als Ursache für den späteren Untergang des Schiffes „gar nicht wegzudenken sei". Der Beklagte hat den Klägerinnen nicht dafür zu haften, dass er mit einem seeuntüchtigen Schiff ausgelaufen ist. Vielmehr liegt ein Haftungstatbestand zu Gunsten der Klägerinnen erst dann vor, wenn der Verlust der von ihnen versicherten Ladung auf der Seeuntüchtigkeit des Schiffes beruht.