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Leitsatz:
Zur Frage einer unzulässigen Hafenausfahrt, wenn andere Fahrzeuge auf das Ausfahrtsignal nicht reagieren und die dadurch entstandene Gefahrenlage zur Auslösung von Fehlreaktionen der anderen Fahrzeuge führt.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 14. November 1977
II ZR 113/75
(Rheinschiffahrtsgericht DuisburgRuhrort, Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Das bei der Klägerin versicherte MS G geriet, nachdem es zwecks Talfahrt aus dem rechtsrheinischen KölnMülheimer Hafen herausgefahren war, auf dem Strom mit seinem Steuerbordvorschiff gegen das Backbordvorschiff des rechtrheinisch zu Berg kommenden, der Beklagten zu 1 gehörenden und vom Beklagten zu 2 als Rudergänger geführten TMS B.
Die Klägerin verlangt Ersatz des erstatteten Schadens an MS G in Höhe von fast 65000,- DM. Der Beklagte zu 2 sei mit dem die blaue Flagge zeigenden TMS B in den nach linksrheinisch gerichteten Kurs von MS G hineingefahren, das dem Bergfahrer steuerbords habe begegnen wollen.
Die Beklagten werfen dem Schiffsführer von MS G vor allem vor, daß er den Hafen in zu kurzer Entfernung von dem Bergfahrer verlassen und sodann dessen Kurs geschnitten habe.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Rheinschiffahrtsobergericht hat ihr nur zu '/3 stattgegeben. Die Revision beider Parteien blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Mit dem Berufungsgericht ist davon auszugehen, daß sowohl den Beklagten zu 2 als auch den Schiffsführer des MS G ein Verschulden an der Kollision trifft. Dem letzteren hat das Berufungsgericht vorgeworfen, eine unzulässige Hafenausfahrt vorgenommen zu haben (Verstoß gegen § 6.16 Nr. 1 RheinSchPolVO), dem Beklagten zu 2 hat es den Vorwurf gemacht, auf das unzulässige Manöver des MS G mit einem fehlerhaften Kursverhalten und ohne Zurückschlagen mit der Maschine reagiert zu haben (Verstoß gegen § 1.04 RheinSchPolVO). In beiden Punkten ist dem Berufungsgericht gegen die Angriffe der Revision und der Anschlußrevision zu folgen.
a) Verschulden der Führung des MS G
Nach § 6.16 Nr. 1 RheinSchPolVO darf ein Fahrzeug aus einem Hafen ausfahren, nachdem es sich vergewissert hat, daß das Manöver ausgeführt werden kann, ohne das eine Gefahr entsteht oder ohne daß andere Fahrzeuge unvermittelt ihren Kurs oder ihre Geschwindigkeit ändern müssen. Der Ausfahrende kann daher von anderen Fahrzeugen verlangen, daß sie sein Manöver durch eine schlichte Änderung von Kurs oder Geschwindigkeit unterstützen; er muß allerdings seine Absicht, den Hafen zu verlassen, in diesen Fällen rechtzeitig durch Ausfahrtssignal ankündigen (§ 6.16 Nr.2 und 3 RheinSchPolVO). Reagieren die anderen Fahrzeuge auf ein solches Signal nicht, so muß die Ausfahrt unterbleiben, es sei denn, sie könnte auch dann noch gefahrlos oder ohne die Notwendigkeit unvermittelter Ruder- oder Maschinenmanöver anderer Fahrzeuge durchgeführt werden.
Hier war es nun so, daß MS G im Verlaufe der Annäherung an die Mündungslinie Ausfahrtsignal gegeben, der Bergfahrer hierauf jedoch bis zum Erreichen der Linie durch MS G nicht reagiert hatte. Dann hätte dieses Schiff die Mündungslinie aber nur passieren dürfen, wenn dadurch keine Gefahrenlage entstehen konnte oder der Bergfahrer zu keiner unvermittelten Kurs- oder Geschwindigkeitsänderung gezwungen wurde. Selbst wenn man das letztere mit der Revision annimmt, so rief die Ausfahrt des MS G jedenfalls eine Gefahrenlage hervor. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts befand sich im linksrheinischen Revier ein Talfahrer, und zwar im Zeitpunkt der Ausfahrt des MS G auf Höhe dieses Fahrzeugs. Deshalb war es zumindest unklar, ob die Weisung des Bergfahrers, an seiner Steuerbordseite vorbeizufahren, MS G gegolten hat. Bezog dieses Fahrzeug die Weisung trotzdem auf sich und verließ es nunmehr den Hafen auf einem den Weg des Bergfahrers kreuzenden Kurs, so schuf es damit eine Gefahrenlage, zumal seine Ausfahrtgeschwindigkeit nur gering und wegen der vorhandenen Wind- und Strömungsverhältnisse damit zu rechnen war, daß es den eingeschlagenen Kurs nicht halten konnte. Das alles war geeignet, bei dem Bergfahrer Fehlreaktionen auszulösen und hätte daher die Führung des MS „Gertrud" veranlassen müssen, den Hafen erst nach der Vorbeifahrt des TMS B zu verlassen. Es kann deshalb nicht zweifelhaft sein, daß ihr Verhalten gegen § 6.16 Nr. 1 RheinSchPolVO verstoßen hat (vgl. auch BGH, Urt. v. 20. 2. 75 - II ZR 152/73, LM Nr. 3 zu RheinschiffahrtpolizeiVO 1970 = VersR 1975, 515).
b) Verschulden des Beklagten zu 2 („Brunsbüttel")
Nach Ansicht der Anschlußrevision wirft das Berufungsgericht dem Beklagten zu 2 zu Unrecht vor, daß er auf die unzulässige Ausfahrt des MS G nur mit einem Achtungssignal reagiert habe, anstatt sofort entsprechend der eigenen Kursweisung nach Backbord zu halten und die Maschine auf „zurück" zu stellen, um notfalls hinter MS G in den Hafen einbiegen zu können. Die Anschlußrevision vermag jedoch nicht aufzuzeigen, daß diese Vorwürfe unbegründte sind. Daß der Beklagte zu 2 mit der Maschine nicht zurückgeschlagen hat, als er das unzulässige Manöver des MS G erkannte, ergibt sich eindeutig sowohl aus seiner eigenen Aussage im Verklarungsverfahren als auch aus der seines Schiffsführers H. Es ist deshalb nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die entsprechende Feststellung des Berufungsgerichts verfahrensrechtlich fehlerhaft sein soll. Ebenso klar ist den Bekundungen des Beklagten zu 2 im Verklarungsverfahren zu entnehmen, daß er anhand des Kurses von MS G und auf Grund der von diesem Schiff gezeigten blauen Seitenflagge bemerkt hatte, daß das Fahrzeug an der Steuerbordseite des Bergfahrers vorbeizufahren beabsichtigte. Wieso danach ein sofortiger Backbordkurs des TMS B die Kollisionsgefahr hätte erhöhen müssen, ist nicht recht verständlich. Auch alle weiteren Rügen der Anschlußrevision gegen den Schuldvorwurf des Berufungsgerichts gehen an den Angaben des Beklagten zu 2 im Verklarungsverfahren vorbei.
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Die Abwägung der Schwere des auf beiden Seiten obwaltenden Verschuldens (§ 92 c Abs. 1 BinnSchG) durch das Berufungsgericht, die im wesentlichen dem Gebiete tatsächlicher Würdigung zuzurechnen ist, läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht das Verschulden des MS G, das durch sein unzulässiges Manöver die zur Kollision führende Gefahrenlage geschaffen hat, doppelt so schwer bewertet hat, als die fehlerhafte Reaktion des TMS B in dieser Lage.
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