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Leitsatz:
Zur Frage des Anscheinsbeweises bei Strangbrüchen.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 28. Juni 1962
II ZR 112/60
Zum Tatbestand:
Die Beklagte ist Ausrüsterin des MS „A", das mit 3 der Beklagten gehörenden, nebeneinander gekoppelten Kähnen im Anhang auf der Donau oberhalb der Maxbrücke in Passau ein Steuerbord-Wendemanöver zu Tal („Rondo") bei lebhafter Strömung und mittlerem Hochwasser ausführte. Die 3 Anhänge waren durch 2 über Kreuz gespannte, 18 bis 20 m lange Trossen mit dem MS „A" in der Weise verbunden, dass das Steuerbordseil des MS „A" am Backbordkahn und das Backbordseil am Steuerbordkahn befestigt war.
Während des Rondos zu Tal riss das Steuerbordseil, wodurch einer der Kähne am linken Donauufer liegende Schleppkähne streifte. 300 m vor der Maxbrücke setzte MS „A" zu einem Steuerbordmotorrondo zu Berg an. Beim Aufdrehen riss auch das Backbordseil. Der Backbordkahn der darauf zu Tal treibenden Kähne prallte gegen einen Brückenpfeiler und beschädigte ihn.
Das Landgericht hat den Anspruch der Klägerin auf Ersatz der an der Brücke entstandenen Schäden dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung der Beklagten war erfolglos, ihre Revision führte jedoch zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Beschädigung des Brückenpfeilers ist auf den Anprall des Anhanges zurückzuführen; der Anprall selbst beruht auf dem Bruch der beiden Trossen. Jede dieser drei Ursachen für die Pfeilerbeschädigung kann auf einem von der Beklagten zu vertretenden Verschulden beruhen. Während beim ersten Trossenbruch nach der Lebenserfahrung anzunehmen ist, dass das Seil infolge eines Verschuldens der Besatzung gerissen ist, kann bei dem zweiten Strangbruch und bei dem Anprall an die Brücke nicht ohne weiteres ein solcher Anscheinsbeweis des Verschuldens Platz greifen; denn durch den ersten Trossenbruch ist unter den hier gegebenen Umständen eine Gefahrenlage geschaffen worden, die Ursachen auslöste, die nach der Lebenserfahrung nicht ohne weiteres auf ein Verschulden der Schiffsbesatzungen schließen lassen. Im Vordergrund steht daher der Anscheinsbeweis für ein Verschulden beim ersten Strangbruch. Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben auf Grund dieses von der Beklagten nicht ausgeräumten Anscheinsbeweises die Beklagte verurteilt. Das angefochtene Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Der Anscheinsbeweis geht nach den Umständen des vorliegenden Falles in zwei Richtungen (vgl. BGH LM ZPO § 286 C Nr. 20): Entweder war das Seil aus von der Beklagten zu vertretenden Gründen nicht in Ordnung (BGH VersR 1957, 286) oder das ordnungsgemäße Seil war durch einen Navigationsfehler überbelastet (vgl. BGH VersR 1957, 312 f). Der Anscheinsbeweis wäre widerlegt, wenn die Beklagte bewiesen hätte, dass die vermuteten Tatsachen (Schadhaftigkeit des Stranges, ruckartiges Anziehen) nicht in Betracht kommen oder dass sie hierfür kein Verschulden trifft; er wäre entkräftet, wenn die Beklagte Tatsachen bewiesen hätte, aus denen sich die Möglichkeit ergäbe, dass der Trossenbruch auf diese Tatsachen zurückzuführen wäre (vgl. BGB-RGRK 11. Aufl. Anm. 49, 50 vor §§ 249 bis 255).
Um mit der letzten Frage zu beginnen, so könnte ein nicht erkennbarer Materialfehler des Seils den Anscheinsbeweis zu Fall bringen. Das Berufungsgericht ist jedoch in eingehender Würdigung der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gekommen, dass der Beweis hierfür nicht nur nicht geführt, sondern dargetan sei, dass das Seil den Anforderungen der Vorschriften für Drahtseile entsprochen habe.
Kann insoweit dem angefochtenen Urteil gefolgt werden, so geben jedoch die Ausführungen des Berufungsgerichts hinsichtlich der Widerlegung der vermuteten Tatsachen zu rechtlichen Bedenken Anlass. Das Berufungsgericht sagt:
„Wenn die Beklagte vorträgt, der Anscheinsbeweis sei schon dadurch in Frage gestellt ..., dass die ... Beweisaufnahme keine navigatorischen Fehler der Schiffsführung und keine sichtbaren Mängel der Trossen ergeben habe, so verkennt sie die ... Grundsätze, die bei der Anwendung des Prima-facie-Be-weises zu beachten sind."
Das Landgericht hat rechtlich bedenkenfrei den der Beklagten obliegenden Beweis dafür, dass keine navigatorischen Fehler der Schiffsführung und keine erkennbaren Mängel der Trossen vorgelegen hatten, als nicht geführt betrachtet. Im Gegensatz dazu hat das Oberlandesgericht mit seinen obigen Ausführungen anscheinend unterstellt, dass dieser Beweis von der Beklagten geführt sei. Die Frage, ob der Beweis geführt ist oder nicht, kann aber nicht dahingestellt bleiben, sondern ist entscheidungserheblich: Ist der Beweis von der Beklagten erbracht, so ist die Klage abzuweisen; ist er nicht erbracht, so ist die Klage dem Grunde nach gerechtfertigt. Der Senat kann die dem Tatrichter obliegende Beweisführung nicht vornehmen und muss daher das Urteil aufheben. Bei seiner Beweiswürdigung wird sich das Berufungsgericht nicht nur mit der Glaubwürdigkeit der vernommenen Besatzungsmitglieder zu befassen, sondern insbesondere auch zu prüfen haben, ob als Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme feststeht, dass das Seil sorgfältig geprüft worden war, und zwar gerade an der späteren Bruchstelle. Nur wenn dies zu bejahen wäre - was einer eingehenden Begründung bedürfte -, käme es darauf an, ob die Beklagte weiter bewiesen hätte, dass keine ruckweise Beanspruchung des Stranges erfolgte. Hierbei wäre die Aussage des Zeugen „B" zu würdigen, wonach der Schleppzug etwas zu nahe an das linke Ufer herangekommen sei und das Zugschiff darauf einen starken Winkel - etwa 70 Grad - eingeschlagen habe, damit der Anhang den Vorwärtsgang zum linken Ufer verliere. Im Zusammenhang damit wäre die Bekundung des Kapitäns zu würdigen, er habe die Backbordmaschine mit voller Kraft laufen lassen, um den Schleppverband in die Stromrichtung zu bekommen; als die Maschinenkraft auf das Seil zu wirken begonnen habe, habe sich dieses aufgedreht und sei gerissen; das (später gerissene) Steuerbordseil sei gespannt gewesen, während das Backbordseil leer gewesen sei.