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Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 15.06.1977
Tatbestand:
Am 2. April 1974 kam es zwischen dem Motorschiff "E 76" und der Peniche "L" zu einem Zusammenstoß auf dem Rhein. Die "E 76" ist ein Motorschiff mit einer Tragfähigkeit von 894.37 T. Der Eigner bzw. Reeder ist die REEDEREI A.G., ihr Schiffsführer "H", ihr Lotse "F". Die "L" ist eine Peniche mit einer Tragfähigkeit von 280 T ihr Eigner bzw. Reeder ist "P", ihr Schiffsführer "D". Am Vormittag des 2. April 1974 fuhr die "E 76" mit einer Kiesladung von 702 T rheinabwärts von der Schleuse Strassburg-Süd in Richtung Dordrecht. Der "E 76" folgte die Offen II, dann zwei Kanalpenichen, zunächst die "O", dann die "L", die beide von der Nordschleuse Strassburg her rheinabwärts in Richtung Karlsruhe fuhren. Auf der Höhe von Leutenheim bei Rhein-km 300 traten plötzlich Nebelfelder auf, die in kurzer Zeit so dicht wurden, dass die Sichtweite nicht einmal mehr 50 m betrug. Die "E 76" hat beschlossen, nach backbord abzudrehen, um dort Bug zu Berg anzuhalten. Bei diesem Drehmanöver rammte die "E 76" mit ihrem Heck eine Buhne am rechten Ufer und beschädigte dadurch ihr Ruder: in diesem Fall ging das Steuerbordruder verloren und das Mittelruder wurde verbogen. Wegen des Nebels drehte die "O" nach backbord ab, um am linken Ufer Bug zu Berg anzuhalten. Im Nebelfeld kam es zu einem Zusammenstoß zwischen dem Heck der "O" und dem Vorschiff der "E 76", bei dem beide Schiffe beschädigt wurden. Nach dem Zusammenstoß mit der "O" hat die "E 76" noch verschiedene Manöver ausgeführt und ist bei Rhein-km 301.200 mitten in der Fahrrinne zum Halten gekommen. Der "MF" von "E 76" hat das Herannahen der "L" gemeldet, die die blaue Begegnungsflagge zeigte und das Signal für eine Begegnung Steuerbord an Steuerbord abgab. Um einen frontalen Zusammenstoß zu vermeiden, hat die "E 76" ein Ausweichmanöver nach Backbord unternommen, indem sie die Maschinen auf volle Geschwindigkeit "vorwärts" einstellte. Trotz dieses Manövers haben sich die beiden Fahrzeuge leicht an Steuerbord gestreift. Die "L" hat keinen Schaden erlitten, aber die "E 76" ist nach ihrem Ausweichmanöver schließlich auf Grund Und die Buhnen am rechten Ufer gelaufen und dadurch stark beschädigt worden. Mit Klageschrift vom 17.4.75 hat die REEDEREI A.G. den Eigner und Schiffsführer der "L" vor dem Rheinschifffahrtsgericht Strassburg verklagt und bei diesem Gericht beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner, hilfsweise in solidum, zur Zahlung eines Betrags in Höhe von 12.838,21 DM, hilfsweise des Gegenwertes in französischen Francs zum Tageskurs, nebst 6 % Zinsen vom Klagezeitpunkt an, zu verurteilen; die jährliche Kapitalisierung der Zinsen anzuordnen; festzustellen, dass der oder die beklagten Reeder den genannten Betrag nur bis zur Höhe des Werts der "L" und ihrer Fracht am Tage des Unfalls zu bezahlen haben; die Beklagten als Gesamtschuldner, hilfsweise in solidum, zu allen Kosten der Beweissicherungsverfahren zu verurteilen; das Urteil gegen Hinterlegung ohne Sicherheitsleistung, erforderlichenfalls gegen Sicherheitsleistung, für vollstreckbar zu erklären. Die Klägerin und Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte in der Zwischenberufung, vertritt die Auffassung, dass der Zusammenstoß ausschließlich durch den schweren nautischen Fehler des Schiffsführers der "L" verursacht worden sei, der nicht rechtzeitig angehalten habe, in das Nebelfeld gefahren sei und seine Fahrt ohne Aufstellung eines Ausgucks und Abgabe von Signalen fortgesetzt habe. Die Beklagten und Berufungsbeklagten, Berufungskläger in der Zwischenberufung, widersetzen sich diesem Antrag und behaupten, dass der Zusammenstoß ausschließlich durch den schweren Fehler der "E 76" verursacht worden sei, die ihre Fahrt zu Berg fortgesetzt habe, obwohl sie nach dem Verlust eines Ruders fahruntüchtig geworden sei, während es der "L" nicht möglich gewesen sei anzuhalten, da die Ufer bereits von anderen, durch den Nebel aufgehaltenen Schiffen besetzt gewesen seien. Sie beantragen beim Gericht, die Klage der Klägerin für unbegründet zu erklären, sie zurückzuweisen und die Klägerin zu allen Kosten zu verurteilen. Mit Urteil vom 15.6.77 erklärt das Rheinschifffahrtsgericht die Beklagten zu 1/5 für die von "E 76" erlittenen Schäden verantwortlich, verurteilt somit Herrn "P" und Herrn "D" als Gesamtschuldner, der REEDEREI A.G. REEDEREI den Betrag von 2.567,- DM, beziehungsweise den Gegenwert in französischen Francs zum Tageskurs, mit den gesetzlichen Zinsen seit diesem Tage, zu bezahlen; verurteilt Herrn Andre "P" und Herrn "D" zu 1/5 der Verfahrenskosten, wobei die übrigen 4/5 der Kosten der REEDEREI A.G. REEDEREI auferlegt werden, erklärt das Urteil gegen Hinterlegung einer Sicherheitsleistung in Hohe des Vollstreckungsbetrags für vollstreckbar; weist die weitergehende Klage der REEDEREI A.G. REEDEREI zurück.
Die Gründe des erstinstanzlichen Richters können wie folgt zusammengefasst werden:
- Dadurch, dass die "L" trotz des Nebels ihre Fahrt fortgesetzt hat, hat sie die "E 76" unleugbar überrascht und ist somit der Grund für das Ausweichmanöver, dass der Schiffsführer der "E 76" durchführen zu müssen glaubte, um einen frontalen Zusammenstoß mit der "L" zu vermeiden.
- Statt am elsassischen Ufer liegenzubleiben, hat die "E 76" ihre Fahrt ungestüm zu Berg fortgesetzt, hat Bug zu Berg angehalten, wobei sie ordnungswidrig mitten im Fahrwasser und somit in einer unnormalen Lage geankert hat; ihre Lage steht im Widerspruch zur allgemeinen Pflicht, das Fahrwasser frei zu machen, wenn ein Schiff manövrierunfähig geworden ist (§ 1.18) oder wenn unsichtiges Wetter herrscht (§ 6.30)
In Anbetracht der Schwere der auf beiden Seiten im Zusammenhang mit der Grundberührung der "E 76" begangenen nautischen Fehler wird die Schuld an dem Zusammenstoß im Verhältnis 1/5 zu Lasten der Beklagten und 4/5 zu Lasten der Klägerin aufgeteilt. Die Klägerin und Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte in der Zwischenberufung hat mit Schriftsatz vom 6.9.77 gegen dieses Urteil Berufung vor der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt eingelegt und diese Berufung mit der Berufungserweiterungsschrift vom 12.10.77 begründet. Sie beantragt, die Zentralkommission möge das mit Berufung belegte Urteil abändern, den erstinstanzlichen Anträgen und allen zusätzlich in der Berufung gestellten Anträgen der Antragstellerin stattgeben und die Beklagten und Berufungsbeklagten, Berufungsklägerin der Zwischenberufung, zu allen Gerichtskosten Verurteilen. Im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der Berufung behauptet sie, dass die Berufung nicht verspätet eingelegt worden sei, weil die Zustellung des Urteils nicht in der in Frankreich vorgesehenen Form (Art. 37 Abs. 2 Mannheimer Akte) erfolgt sei. Zur Sache wiederholt sie ihre vor dem Vorderrichter angeführten Argumente. In ihrer Berufungserwiderung beantragen die Beklagten und Berufungsbeklagten, Berufungskläger in der Zwischenberufung, dieZentralkommission möge das Urteil dahingehend abändern, dass die Klage der REEDEREI A.G. REEDEREI schlicht und einfach zurückgewiesen wird. Sie wiederholen ihre vor dem Vorderrichter angeführten Argumente.
A. Zur Hauptberufung:
1. Die Berufung ist formgerecht eingelegt worden.
Das Urteil ist der REEDEREI A.G. am 22.7.77 zugestellt worden, die Zustellungsakte enthielt jedoch keinerlei Angaben darüber, in welcher Frist und nach welchen Modalitäten der Empfänger Berufung vor der Zentralkommission gemäß der Mannheimer Akte (Art. 37. Absatz 2), wonach die Zustellung in Gemäßheit der Landesgesetze zu erfolgen hat, einzulegen haben.
In Artikel 680 der neuen ZPO heißt es:
"Die Akte, mit der einer Partei ein Urteil zugestellt wird, muss genaue Angaben über die Einspruchs-, Berufungs- oder Revisionsfrist, sofern eines dieser Rechtsmittel, besteht, sowie über die Art und Weise, in der das Rechtsmittel ausgeübt werden kann, enthalten. "Artikel 693 ZPO sieht vor, dass die Berufung nichtig ist, wenn "diese Formalität nicht eingehalten wird."
In der Zustellungsakte heißt es nun aber:
"Sie können Berufung gegen dieses Urteil einlegen. Sie haben die Möglichkeit:
Berufung gegen dieses Urteil einzulegen, wenn Sie dessen Änderung oder Aufhebung entweder vor dem Appellationshof Colmar oder vor der Rheinschifffahrtskommission in Strassburg bewirken wollen.
DIE BERUFUNG MUSS IN EINER FRIST VON 3 MONATEN VOM OBENGENANNTEN
ZEITPUNKT AN EINGELEGT WERDEN."
Da in der Zustellungsakte die nach Art. 37 Abs. 2 Mannheimer Akte vorgesehene Frist von einem Monat nicht erwähnt wird, ist die Zustellung vom 22.7.77 nichtig und hat die Berufungsfrist nicht zum Laufen gebracht, so dass die mit Berufungsschrift vom 6.9.77
angemeldete Berufung fristgerecht eingelegt worden ist.
2. Die Beklagte und Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte in der Zwischenberufung, macht der "L" den Vorwurf, ohne Aufstellung eines Ausgucks und ohne Abgabe von Signalen gefahren zu sein, diese Fehler sind nicht durch unparteiische Zeugenaussagen bestätigt worden, so dass der Vorderrichter der "L" diesen Fehler zu Recht nicht angelastet hat.
Anderseits ist nicht bestritten, dass die "L" ihre Fahrt im Nebel fortgesetzt hat, doch aus mehreren unparteiischen und übereinstimmenden Zeugenaussagen geht hervor, dass am rechten Ufer zum einen ein Schiff und zum anderen vier Bergfahrer angelegt hatten, während an dieser Stelle Sandbänke vorhanden waren, auf die die Schiffe leicht auflaufen konnten. Aufgrund dieser Umstände war ein Stillegungsmanöver unmöglich und gefährlich. Auch die "E 76" war in das Nebelfeld gefahren, wo es, durch den Verlust des Steuerbordruders und der Verbiegung des Mittelruders behindert und nach dem ersten Zusammenstoß mit der "O", mitten im Fahrwasser allem Anschein nach ordnungswidrig verankert stillag und sich dadurch in einer Stellung befand, die im Widerspruch zur Pflicht steht, die Fahrrinne frei zu machen, wenn ein Schiff bei unsichtigem Wetter manövrierunfähig wird und stellt in jedem Fall eine Gefahr für die Schifffahrt dar. Unter diesen Umständen kann die Tatsache, dass die "L", wie die "E 76" vor ihr, ihre Fahrt im Nebel fortgesetzt hat, nicht als Fehler angesehen werden, der für die von "E 76" erlittenen Schäden ursächlich war.
Die Berufung ist somit nicht begründet.
B. Zur Zwischenberufung:
Aus denselben Gründen ist die Zwischenberufung begründet.
Es wird für Recht erkannt:
Die Berufungskammer erklärt die Hauptberufung für zulässig, aber unbegründet, und die Zwischenberufung für zulässig und begründet.
Sie ändert das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 15.6.1977 und erklärt, dass die mit Klageschrift vom 17.4.1975 von der Klägerin und Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte in der Zwischenberufung, eingelegte Klage zulässig, aber unbegründet ist und weist sie zurück.
Sie auferlegt der Klägerin und Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte in der Zwischenberufung, die Kosten der Berufungsinstanz, die unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Artikels 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte durch das Rheinschifffahrtsgericht Strassburg festzusetzen sind.