Decision Database
Leitsätze:
1) Ein Radarbergfahrer, der keine Sprechfunkverständigung mit einem Talfahrer herbeiführen kann, hat - im Gegensatz zur gefährlichen Radartalfahrt - keine Anhaltepflicht, solange sich eine Gefahrenlage nicht konkretisiert hat.
2) Wer ohne Radarschifferzeugnis im Nebel fährt, hat - auch wenn das an Bord befindliche Radargerät eingeschaltet ist - den Anscheinsbeweis für einen schuldhaft falschen Kurs zu entkräften.
3) Kommt die vorgeschriebene Sprechfunkverständigung über den Begegnungskurs nicht zustande, entsteht für den Radartalfahrer eine Gefahrenlage mit der Verpflichtung, die Fahrt sofort einzustellen.
4) Die Nichtbeachtung eines Kursänderungsverbotes gehört zu den schwerwiegendsten Verstößen auf dem Rhein.
Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts in Duisburg-Ruhrort
vom 23. Juni 1978
5 C 6/78 BSch (rechtskräftig)
Zum Tatbestand:
Bei einer Sichtweite von nur etwa 100 m und eingeschaltetem Radar kollidierte das der Klägerin gehörende Schubboot G mit dem vorgespannten leeren Schubleichter E bei Rheinkm 798 auf der Talfahrt mit dem zu Berg kommenden beladenen, dem Beklagten gehörenden MTS R, auf dem gleichfalls das Radargerät in Betrieb war, jedoch niemand an Bord das Radarschifferzeugnis hatte. Schäden entstanden an G und E.
Die Klägerin verlangt aus eigenem und abgetretenem Recht Schadensersatz in Höhe von ca. 62 000,- DM und behauptet, daß ihr Schubverband nur mit halber Kraft gefahren sei.
Schubboot G, das 80 m aus den rechtsrheinischen Kribben gelegen habe, habe sich bei der Emschermündung über Kanal 10 gemeldet, ohne Antwort zu erhalten, als das Echo des Bergfahrers, der sich etwa 70 m aus dem linken Ufer herausgehalten habe, bereits auf eine Entfernung von etwa 1000 m zu sehen gewesen sei. Bei einer Entfernung beider Enheiten von etwa 200 m habe R immer stärker nach Backbord gehalten. Trotz Zurückschlagens und eines Ausweichmanövers sei die Kollision von G nicht zu vermeiden gewesen. Der Bergfahrer sei mit dem Backbordvorschiff gegen die Backbordseite des Leichters E entlanggerutscht und dann noch gegen das Boot „G gekommen.
Der Beklagte bestreitet diese Darstellung. Er habe sich wiederholt über Kanal 10 gemeldet und den Standort durchgegeben, aber keine Antwort erhalten. Da der Talzug näher am linken Ufer gefahren sei als R, habe letztere die Maschinen auf etwa 200 Touren reduziert, bei einer Entfernung von 500 m auf „ganz langsam" und schließlich auf „zurück" gestellt und dabei das Signal „ein langer Ton" gegeben. Erst bei einer Entfernung von etwa 200 bis 300 m sei der Schubverband nach Steuerbord gegangen, als die Kollision nicht mehr zu vermeiden gewesen sei.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat den Klageanspruch dem Grunde nach zu 3/4 für gerechtfertigt erklärt.
Aus den Entscheidungsgründen:
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Nach dem unstreitigen Sachverhalt ist zwischen der Besatzung des MTS R und derjenigen des Schubverbandes G die in § 6.35 Abs. 3 vorgeschriebene Kursverständigung nicht zustandegekommen. Zur Unfallzeit galt die Bekanntmachung vom 15. 2. 1975 über das „Begegnen auf dem Rhein zwischen Duisburg und der deutsch-niederländischen Grenze". Diese Bekanntmachung hat die Radarfahrer von ihrer Pflicht zur Verständigung auch zur „regelrechten" Begegnung Backbord an Backbord nicht entbunden, wie schon daraus hervorgeht, daß § 6.35 RhSchPVO in der Bekanntmachung im Gegensatz zu der Bestimmung des § 6.05 RhSchPVO nicht außer Kraft gesetzt worden ist. Dies ist auch sinnvoll, denn nach Einführung der „geregelten Begegnung" sind Ausnahmen zulässig; deshalb dient es der Verkehrssicherheit, auch bei regelrechter Begegnung vorher eine Verständigung über Funk zu verlangen.
Allerdings ist ein Radarbergfahrer, der keine Sprechfunkverständigung mit einem Talfahrer herbeiführen kann, nicht schon auf Grund dieser Tatsache verpflichtet anzuhalten. Wie das Gericht in seinen Urteilen vom 12. 9. 1975 (5 C 91/74) sowie vom 18. 11. 1977 (5 C 71/77) ausgeführt hat, erscheint die Ansicht der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt (Urteil vom 21. 4. 1975; ZfB 1976, 402), schon die Tatsache, daß eine Sprechfunkverständigung über den Begegnungskurs nicht erfolgt sei, schaffe auch für den Radarbergfahrer eine Gefahrenlage im Sinne des § 6.352 RhSchPVO, die zum Anhalten zwinge, nicht überzeugend. Denn ein Radarbergfahrer kann im Gegensatz zu der gefährlicheren Radartalfahrt, von der ohnehin größere Sorgfalt verlangt wird, früher und auf kürzere Entfernung notfalls noch die Fahrt einstellen.
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Es muß davon ausgegangen werden, daß MTS R unter Verstoß gegen das Kursänderungsverbot des § 6.03 Abs. 3 RhSchPVO in den Kurs des Schubverbandes G hineingefahren ist, wie es die Klägerin behauptet. Der Beklagte hat den insoweit gegen ihn streitenden Anscheinsbeweis nicht entkräftet. Der Anscheinsbeweis ist anzuwenden, weil der Beklagte nach dem unstreitigen Sachverhalt im Nebel gefahren ist, obwohl er nicht im Besitz des Radarschifferzeugnisses für den Rhein war (BGH, Urteil vom 20. 9. 1973; ZfB 1974 Sammlung Seite 549). Ohne Erfolg beruft sich der Beklagte in diesem Zusammenhang darauf, ausreichende Kenntnis in der Radarfahrt besessen zu haben. Die Beweisaufnahme hat das Gegenteil ergeben. So hat der Beklagte gemeint, es sei nicht erforderlich gewesen, die Entfernungsringe in das Radarbild einzublenden, obwohl dies eine unerläßliche Maßnahme für die sichere Navigation ist.
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Das Gericht geht also davon aus, daß zwischen den Kursen von R und dem Schubverband G zunächst alles klar war zur Begegnung Backbord an Backbord. Sodann hat Schiffsführer W. die Orientierung verloren und ist in den Kurs des Schubverbandes G hineingefahren. Dies war die entscheidende Unfallursache.
Es liegt ein unfallursächliches Mitverschulden des Schiffsführers H. von G vor. Allerdings läßt sich nicht feststellen, daß G bei der Talfahrt das rechte Ufer nicht hart genug angehalten habe. Wenn der Verband, wie es seine Besatzungsmitglieder unwiderlegt bekundet haben, etwa 70 bis 80 m aus den rechtsrheinischen Kribben herausfuhr, so war dies nicht zu beanstanden. Denn weiter unterhalb lag rechtsrheinisch das MS M, das ordnungsgemäß und in ausreichendem Abstand freigefahren werden mußte.
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Auch die Tatsache, daß „Gertges 1" die vorgeschriebenen Radardreiklangsignale nicht gegeben hat, kann nicht zu Lasten seiner Interessenten verwendet werden; denn derartige Radardreiklangsignale hätten den Geschehensablauf nicht geändert, weil sie Schiffsführer W. keine Gewißheit über den Kurs des zu Tal kommenden Schubverbandes verschafft hätten. Man muß Schiffsführer H. jedoch den Vorwurf machen, nicht angehalten zu haben. Hierzu wäre er nach § 6.35 RhSchPVO verpflichtet gewesen, weil eine Kursverständigung mit dem Bergfahrer nicht zustandegekommen war. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die zunächst eingehaltenen Kurse der Berg- und Talfahrt scheinbar kollisionsfrei waren. Denn schon die Tatsache, daß eine Sprechfunkverständigung über den Begegnungskurs nicht erfolgt war, schuf für den zu Tal kommenden Schubverband die in § 6.352 RhSchPVO vorgeschriebene Gefahrenlage mit der Verpflichtung, die Fahrt sofort einzustellen (Straßburg, Urteil vom 21. 4. 1975; ZfB 1976, 402; Rheinschiffahrtsobergericht Köln, Urteil vom 31. 1. 1975 - 3 U 31/74 - 5 C 171/72 Rheinschiffahrtsgericht DuisburgRuhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln, Urteil vom 28. 4. 1978 - 3 U 198/77 - 5 C 71/77 BSch Rheinschif,ahrtsgericht Duisburg-Ruhrort).
Schiffsführer H. hatte das Echo des MTS „Miva Romantica" auf eine Entfernung von etwa 1000 m gesehen. Eine Verständigung zwischen beiden kam in dieser Zeit nicht mehr zustande. Aus diesem Grunde hätte „Gertges" anhalten müssen, bis die Lage geklärt war. Der Unfall wäre zweifellos dann vermieden worden.
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Die entscheidende Unfallursache hat MTS „Miva Romantica" durch den plötzlichen Kurswechsel gesetzt. Ohne sie wäre es niemals zu dem Zusammenstoß gekommen. Demgegenüber wiegt die auf „Gertges 1" unterlassene Vorsichtsmaßnahme des Anhaltens weitaus geringer, zumal bedacht werden muß, daß aus der Sicht von „Gertges 1" zunächst davon ausgegangen werden konnte, daß der Bergfahrer seinen ursprünglichen Kurs beibehalten werde. Der Verstoß gegen das Kursänderungsverbot des MTS „Miva Romantica"gehört mit zu den schwerwiegendsten Verstößen auf dem Rheinstrom. Unter Berücksichtigung dessen erscheint es gerechtfertigt, das Mitverschulden von „Gertges" lediglich mit 1/4 zu bewerten.
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