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Leitsatz:
Die Überholung ist nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs hinreichenden Raum für - die Vorbeifahrt gewährt und Gewißheit besteht, daß nicht nur bei Beginn, sondern während der ganzen Dauer des Manövers die Überholung ohne Gefahr vollständig ausgeführt werden kann. Selbst bei Auftreten völlig unerwarteter Umstände - z. B. größere Fahrtverlangsamung eines Vordermannes, plötzliches Erscheinen eines Gegenkommers - muß die eigene Fahrt so zu drosseln sein, daß die Wiedereinreihung hinter dem zu überholenden Schiff möglich bleibt.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 2. Juni 1976
45 Z - 11/76
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar)
Zum Tatbestand:
Im rechtsrheinischen Fahrwasser des Ehrenthaler Werths kam es am 20. 1. 1972 zu einer Begegnung mit ihren Steuerbordseiten zwischen dem zu Tal fahrenden, der Beklagten zu 1 gehörenden und vom Beklagten zu 2 geführten MS E und dem der Klägerin gehörenden MTS P. Die Klägerin behauptet, Grundberührung erlitten zu haben, weil MS E trotz des niedrigen Wasserstandes (Kauber Pegel: 0,79 m) mit voller Fahrt das vor ihm fahrende MS J auf dessen Steuerbordseite im Zeitpunkt der Begegnung überholt habe und dadurch an das schon nahe an den rechtsrheinischen Kribben befindliche MTS P bis auf 1 m herangekommen sei. Die Klägerin verlangt Ersatz des Schadens von annähernd 20 000 hfl. Die Beklagten bestreiten, daß das MS P bei der Begegnung Grundberührungsschäden erlitten habe. Dieses Schiff habe in Anbetracht des niedrigen Wasserstandes mit mehr als 1,40 m zu tief gelegen. MS E habe die ursprüngliche Überholungsabsicht aufgegeben und sei mit gedrosselter Maschine hinter MS J geblieben. Um nicht in dessen Achterschiff zu fahren, habe MS E nur den Kopf etwas nach Steuerbord gelegt und sei mit seiner vorderen Hälfte dem MS J zwangsläufig aufgelaufen. MTS P habe dann MS E in geringem Abstand passiert, ohne nach rechtsrheinisch trotz hinreichenden Platzes auszuweichen.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage als gerechtfertigt erklärt. Die Berufungskammer hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Berufungskammer übersieht gewisse, auch von der Vorinstanz festgestellte Widersprüchlichkeiten in den Zeugenerklärungen nicht, kommt aber selbst dann, wenn nur auf die Angaben des Beklagten zu 2 abgestellt wird, zum Ergebnis, daß ein schuld¬haftes nautisches Verhalten vorliegt. MS E wollte als Talfahrer überholen. Die Überholabsicht hat der Beklagte zu 2 bei der polizeilichen Einvernahme bestätigt. Sein Schiff sei auch fast längsseits von MS J gekommen. Schiffsführer B. bestreitet auch nicht ernsthaft, daß er die Überholflagge gesetzt habe, sondern nimmt dies als gegeben an. Nach § 6.03 RhSchPVO ist das Überholen aber nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. Diese allgemeine, dem überholenden Fahrzeug obliegende Sorgfaltspflicht hatte der Beklagte zu 2 verletzt, indem er zwischen die sich begegnenden Schiffe MS J und MTS P hineingefahren ist, was aus der vom Beklagten zu 2 am Unfalltage selber erstellten und der Wasserschutzpolizei übergebenen Skizze deutlich hervorgeht. Daß MS J seine Fahrt verlangsamt hat, entsprich der Schiffahrtsübung und seiner reglementarischen Pflicht nach § 6.09, Ziffer 2 Rheinschiffahrtspolizeiverordnung, und der Beklagte zu 2 mußte mit der Geschwindigkeitsverringerung des Vordermannes rechnen. Er mußte somit mangels restloser Ubersicht auch seine eigene Geschwindigkeit entsprechend einrichten. Daß er dies nicht getan hat, geht aus seiner eigenen Darstellung hervor, wonach er, um nicht auf den Vordermann aufzulaufen, nach Steuerbord ausweichen mußte und seitlich zu MS J zu liegen kam. Als Überholer mußte er auch die Vorschrift von § 6.09 RhSchPVO beachten, wonach das Überholen nur gestattet ist, nachdem sich der Überholende vergewissert hat, daß dieses Manöver ohne Gefahr ausgeführt werden kann. Er mußte damit rechnen, daß ein Bergfahrer dem Vordermann begegnen könne. Wenn er den Bergfahrer, der die blaue Begegnungsflagge gezeigt hat, zu Beginn seines Überholmanövers noch nicht gesehen haben sollte, so daß dieser für ihn unerwartet auftauchte, so würde dies zeigen, daß er sich nicht im Sinne von § 6.09 vergewissert hat, daß sein Überholmanöver ohne Gefahr vollständig ausgeführt werden konnte. Die Gewißheit der Gefahrlosigkeit muß sich auf das ganze Überholmanöver von Anfang bis Ende erstrecken, und der Überholende kann sich nicht entschuldigen, er hätte zu Beginn des Manövers noch die erforderliche Gewißheit annehmen dürfen, und nur und erst während des Manövers erkannt, daß das Überholen nicht mehr möglich war. Die Fahrweise des überholenden Talfahrers muß, wenn er schon zu einem Überholmanöver ansetzt, derart sein, daß er auch bei Auftreten selbst unerwarteter Umstände, wie einer größeren Verlangsamung der Fahrt des Vordermannes oder Entgegenkommen eines Bergfahrers seine eigene Fahrt hinreichend drosseln kann, um sich wieder hinter dem Vordermann einzureihen. Wenn er aber, wie der Beklagte zu 2 selber ausführt, nach Steuerbord ausweichen muß, um nicht auf den Vordermann aufzulaufen, so war seine Fahrt nach den örtlichen Umständen zu schnell. Und wenn er zudem sofort wieder nach Backbord einschwenken mußte, um nicht mit einem Bergfahrer frontal zusammenzustoßen, so zeigt dieser Umstand, daß keine ausreichende Gewißheit vorlag, daß das ganze Überholmanöver gefahrlos durchgeführt werden konnte.
Die Berufungskläger wenden ein, MTS P hätte weiter gegen das rechtsrheinische Ufer ausweichen können, womit gesagt werden soll, daß das Überholen von MS E zwischen MS J und MTS P hindurch gefahrlos und ohne Sogeffekt möglich gewesen wäre. Es kann jedoch dahin gestellt bleiben, wie groß die Abstände zwischen den drei Schiffen genau gewesen sind.Der Beklagte zu 2 führte aus, daß sein Abstand zu MS J so gering war, daß er eine Kollision befürchtete. Als er MS J bis zum Vorderschiff aufgelaufen sei und ihm MTS P begegnet sei, seien die seitlichen Abstände sehr gering gewesen. In Metern kann er sie nicht mehr ausdrücken. Nach der eigenen Unfallskizze des Beklagten zu 2 müssen die seitlichen Abstände seines Schiffes gegenüber MS J und MTS P ungefähr die gleichen gewesen sein. Es darf davon ausgegangen werden, daß der seitliche Abstand zwischen MS J und MTS P für die ordnungsgemäße Begegnung ausreichte. Wenn sich nun aber ein Schiff dazwischen schob, und dies war die Fahrweise des MS E mit einer Breite von 9,09 m, so ergaben sich zwangsläufig zu geringe seitliche Abstände nach beiden Seiten. Es ist richtig, daß nach § 6.04, Ziffer 1 RhSchPVO der Bergfahrer beim Begegnen unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs dem Talfahrer einen geeigneten Weg freilassen muß. Der erste begegnende Talfahrer war MS J, und diesem wurde der geeignete Weg freigelassen und das Begegnen auf Steuerbordseite durch die blaue Begegnungsflagge angezeigt. MTS P mußte aber nicht damit rechnen, daß ein Talfahrer, der dafür die Verantwortung trägt und sich ausreichend vergewissern muß, daß keine Gefahr besteht, gleichzeitig in das Begegnungsmanöver hineinfahren und zwischen zwei Schiffen auch noch seinen Überholungsraum beanspruchen will. Der niedrige Wasserstand und der nahe Abstand zu den Kribben erschwerte auch ein weiteres Ausweichen nach dem rechtsrheinischen Ufer. Es kann indessen auch bei dieser Frage dahingestellt bleiben, ob das Fahrwasser objektiv ein weiteres Ausweichen von MTS P nach dem rechtsrheinischen Ufer erlaubte, denn als sich MS E und MTS P plötzlich frontal begegneten, weil E nicht mehr hinter MS J bleiben konnte, sondern seitlich aufgelaufen ist, hätte ein plötzliches Ausweichen nach Backbord im zeitlichen Ablauf der Ereignisse nicht mehr zur Folge haben können, einen ausreichenden Abstand ohne Sogeffekt zu schaffen. Ein allzu brüsker Kurswechsel von MTS P nach Backbord hätte eine Gefahr für das Auflaufen auf die Kribben bedeutet, ja das Schiff in eine zu große Schräglage bringen und das Hinterschiff nach Steuerbord drücken können, so daß eine physische Kollision mit MS E nicht auszuschließen gewesen wäre. Neben all diesen Erwägungen ist indessen entscheidend, daß MTS P nicht damit rechnen mußte, daß MS E hinter MS J auflief, weil es seine Geschwindigkeit nicht mehr so stark drosseln konnte, um das eingeleitete Überholmanöver hinter dem Vordermann abzubrechen und in dessen Kurs zu bleiben.Die Berufungskläger wenden weiterhin ein, daß eine Grundberührung von MTS P nicht erwiesen sei, weil dies von anderen Schiffen und ihren Besatzungen nicht festgestellt worden sei. Sie bestreiten damit, daß die Fahrweise von MS E den schädigenden Erfolg verursacht habe. Dieser, erst im Prozeß erhobene Einwand kann indessen nicht gehört werden. Schon am Unfalltage meldete Schiffsführer S. von MTS P die erfolgte Grundberührung der Wasserschutzpolizei. Der einvernommene Beklagte zu 2 erklärte lediglich, der Schiffsführer von MTS P habe ihm in keiner Weise angedeutet, daß er durch seine Vorbeifahrt eine Grundberührung erlitten habe. Das gemachte Handzeichen will er dagegen als Beleidigung angesehen haben. Den Aussagen des Schiffsführers des beschädigten Schiffes darf deshalb in diesem Punkte Glauben geschenkt werden. Sie werden auch durch diejenigen des Steuermannes M. bekräftigt, der auch schon am 20. 1. 1972 die Grundberührung festgestellt und bestätigt hat.Den Einwand, MTS P sei am Unfalltag zu tief abgeladen gewesen, halten die Berufungskläger nicht mehr ernsthaft aufrecht. Das Schiff hatte eine Tragfähigkeit von 1330 Tonnen und war mit 430 Tonnen Ladung beladen. Eine größere Ladungsmenge ist nicht behauptet worden. Bei einer Höhe des Schiffes von 2,76 m und einer Beladung von rund 1/3 der Tragfähigkeit darf somit ein Tiefgang von 1,40 m als richtig angenommen werden.MTS P hatte somit ein „Sicherheitspolster" von ca. 50 cm, das für normale Begegnungsvorgänge ausgereicht hätte. Ein Vorwurf zu tiefer Abladung läßt sich somit nicht aufrechterhalten.Die Berufungskläger bestreiten nicht, daß die Schiffe in so nahem Abstand aneinander vorbeigefahren sind, daß die Talfahrer eine Sogwirkung ausstrahlten, die dem Bergfahrer Fahrwasser entzog. Daß sich die Sogwirkung um so stärker bemerkbar macht, je geringer die umgebende Wassermenge ist, ist eine der Berufungskammer bekannte Tatsache, die keines weiteren Beweises bedarf. Daß bei der Begegnung von zwei Talfahrern mit einem Bergfahrer dem letzteren noch mehr Fahrwasser durch den Sog entzogen wird, ist gleichermaßen allgemein in der Schiffahrt bekannt, so daß sich auch aus diesem Grunde keine Beweiserhebungen über das Vorliegen und das Ausmaß der Sogwirkung aufdrängen.Es steht somit fest, daß der Beklagte zu 2 in Verletzung der Vorschriften von § 6.03 Ziffer 1 und § 6.09 Nr. 1 RhSchPVO den Unfall fahrlässig verschuldet hat. Nach Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 2 und Art. 3 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung einzelner Regeln über den Zusammenstoß von Binnenschiffen vom 15. März 1960, das laut Gesetz vom 30. August 1972 (BGBI. II 1005) in der Bundesrepublik Deutschland gilt und den §§ 92 a bis 92 f BSchG, sowie nach § 3 BSchG und § 830 BGB haften somit die Beklagten zu 1 und zu 2 als Gesamtschuldner für den von der Klägerin erlittenen Schaden.