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Berufungskammer der Zentralkommission
für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 10. Juni 1999
390 Z – 8/99
(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort vom 24. August 1998 - 5 C 26/97 BSch -)
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Folgen eines Schiffsunfalls, der sich am 22. August 1995 gegen 21.15 Uhr auf dem Rheinstrom bei Km 814,3 – Ortslage Wesel – ereignet hat. Die Klägerin ist der Ladungsversicherer einer Partie von ca. 300 t Extrazit, die im August 1995 mit MS S (376 t groß; 37 m lang; 350 PS stark) von Neuss nach Mortagene gebracht werden sollte. Sie klagt aus übergegangenem und abgetretenen Recht. Der Beklagte ist der Eigner, zumindest Ausrüster des MS E (1.177 groß; 80 m lang; 9,60 m breit; Leertiefgang 1,3 m; 560 PS stark), das er zur Zeit nachbeschriebener Ereignisse selbst verantwortlich geführt hat. Zu der genannten Zeit verließ das leere MS E den Wesel-Datteln-Kanal, um die Talfahrt auf dem Rhein fortzusetzen. MS E folgte dem langsam vorausfahrenden MS S. Der Zeuge Blondeau, der Schiffsführer des MS S beabsichtigte, mit MS S die Nacht an der nur wenig unterhalb befindlichen Kaimauer von Wesel zu verbringen. MS E lief MS S etwas versetzt zur Strommitte hin schnell auf und wollte dieses Schiff überholen. Dabei stieß E mit seinem Steuerbordvorschiff gegen das Heck des MS S. Der Aufprall erfolgte zwischen Mitschiff und Backbordaußenseite von S.
Die Klägerin hat behauptet, Schiffsführer B habe seine Fahrt verlangsamt, um aufzudrehen. Zunächst habe er aber noch das von hinten herankommende MS E überholen lassen wollen. Als sich E auf ca. 100 m genähert habe, habe er festgestellt, daß E nicht nach Backbord gehalten habe, sondern auf Kollisionskurs geblieben sei. Er habe deshalb Achtung-Signal gegeben. E habe darauf seinen Kurs zu Strommitte hin geändert. Er habe noch versucht, die Geschwindigkeit seines Schiffes zu erhöhen, um eine Anfahrung zu vermeiden. E sei auf sein gestreckt im Strom liegendes Schiff aufgefahren. Er habe keine Kursänderung mehr vorgenommen, weder nach Backbord noch nach Steuerbord, weil ein Ausweichen nicht mehr möglich gewesen sei. Der Unfall beruhe darauf, daß E mit einem zu knappen Seitenabstand überholt habe.
Die Klägerin hat den Unfallschaden näher auf 30.795,89 DM beziffert und die Voraussetzungen des Zahlungsverzuges dargetan.
Der Beklagte hat sein Schiff in Kenntnis des Unfalls und seiner Folgen zu weiteren Reisen ausgesandt.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, außer dinglich haftend mit dem MS E im Rahmen des Binnenschiffahrtsgesetzes auch persönlich haftend an die Klägerin 30.795,89 DM nebst 4% Zinsen seit dem 1.9.1996 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat vorgetragen, MS E habe sich ca. 15 m seitwärts der Backbordseite des MS S befunden, als dieses Schiff plötzlich über Steuerbord aufgedreht habe. Hierdurch sei das Heck dieses Schiffes in die Kurslinie des MS E geraten. Er, der Beklagte, habe vergeblich versucht, nach Backbord auszuweichen. Durch dieses unzulässige Aufdrehmanöver habe MS S den Unfall verursacht.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Verklarungsakten 5 II 7/95 Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort und die Bußgeldakten 5 OWi 16 Js 1062/95 (276/95) BSch Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort beigezogen und nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen E durch das am 24. August 1998 verkündete Urteil die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
Zur näheren Begründung seiner Entscheidung hat das Rheinschiffahrtsgericht ausgeführt, der Beklagte habe den Unfall schuldhaft verursacht. Er habe unter Verstoß gegen § 6.09 Nr. 1 RheinSchPV zum Überholen des MS S angesetzt und hierdurch den Unfall verursacht. Der Beklagte habe das Überholmanöver mit einem zu geringen Seitenabstand zu MS S eingeleitet. Hingegen habe der Beklagte nicht bewiesen, daß der Schiffsführer des MS S den Unfall durch ein unzulässiges Aufdrehmanöver mitverschuldet habe.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und die Entscheidung der Berufungskammer der Zentralkommission erbeten. Mit seiner Berufung bezweckt der Beklagte eine Abweisung der Klage.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte vor, der Unfall sei durch das unklare Verhalten der Schiffsführung des MS S beim Aufdrehen verursacht worden. MS S habe die Absicht gehabt, auf Höhe des Hafens Wesel auszudrehen, um hier zu übernachten. Dieses Manöver habe er nicht rechtzeitig durch Signale oder über Funk angekündigt. So sei es zu der Anfrage über Funk gekommen, was MS S beabsichtige. MS E habe vor dem Erreichen des MS S Backbordkurs genommen. Durch diese scharfe Kursänderung wäre eine Freifahrung des MS S gelungen, wenn dieses Schiff seine Lage unverändert beibehalten hätte. MS S habe jedoch gedreht. Durch dieses Drehmanöver sei sein Heck zur Strommitte hin ausgewandert und der Abstand zu dem Vorschiff von E sei verkürzt worden. Das Manöver des MS S könne nicht als ein solches des letzten Augenblicks entschuldigt werden.
MS E habe kein „normales“ Überholmanöver ausgeführt. E habe das vor ihm treibende MS S nach Backbord freifahren müssen, um es dann zu überholen. Solch ein erzwungenes Manöver könne nicht nach den Maßstäben einer regulären Überholung beurteilt werden, bei dem der Überholer genügend Zeit habe, um sein Schiff auf einen bequemen Überholkurs zu bringen. Wenn aber beim erzwungenen Freifahren der Abstand beider Schiffe nur wenige Meter betrage, lasse sich das nicht nach den Sorgfaltspflichten eines bewußt vorgenommenen Überholmanövers messen. Im Zuge der Vorbeifahrt hätte sich der Seitenabstand wegen des Backbordkurses vergrößert, sodaß keine Behinderung möglich gewesen wäre. Es sei unter den hier gegebenen Umständen nur wenig Zeit und Raum verblieben, um MS S freizufahren. Dieses Manöver wäre gelungen, wenn dieses Schiff seinen Kurs beibehalten hätte.
Im übrigen wendet sich der Beklagte gegen die Beweislastverteilung in dem angefochtenen Urteil.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach seinem erstinstanzlichen Schlußantrag zu erkennen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und tritt den Ausführungen des Beklagten entgegen.
Entscheidungsgründe:
Die in formeller Hinsicht bedenkenfreie Berufung des Beklagten konnte in der Sache keinen Erfolg haben.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat mit Recht ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten an dem Unfall vom 22. August 1995 im Revier bei Wesel festgestellt und eine Ersatzpflicht des Beklagten für den von der Klägerin erstatteten und auf sie übergegangenen Schaden angenommen (§§ 3, 4, 114 BinSchG, 823, 249 BGB, 67 VVG).
Nach § 6.09 Nr. 1 RheinSchPV ist das Überholen nur gestattet, nachdem sich der Überholende vergewissert hat, daß dieses Manöver ohne Gefahr ausgeführt werden kann. Gegen diese Vorschrift hat der Beklagte verstoßen. Für ein Verschulden des Beklagten streitet der Beweis des ersten Anscheins, weil er beim Überholen das vorausfahrende MS S angefahren und den ihm obliegenden Entlastungsbeweis, daß ihn an dieser Anfahrung kein Verschulden trifft, nicht geführt hat. Die Berufungskammer sieht nach dem Ergebnis des Verklarungsverfahrens und dem in ersten Instanz einholten Gutachtens des Sachverständigen Dr. E nicht als erwiesen an, daß MS S in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Überholmanöver des Beklagten ein Wendemanöver unternommen hat.
Ob Schiffsführer B ein Mitschulden an dem Unfall vorgeworfen werden kann, ist in diesem Rechtsstreit unerheblich, da sich die Klägerin ein etwaiges Mitverschulden nicht schadensmindernd anrechnen lassen müsste. Allenfalls würde ihr B auch als Gesamtschuldner mitverpflichtet sein.
1. Der Beklagte hat bei seiner Vernehmung im Verklarungsverfahren als Zeuge angegeben, daß er mit einem Seitenabstand von ca 15 Meter zum Überholen des mit minimaler Geschwindigkeit vor ihm zu Tal fahrenden MS S auf dessen Backbordseite angesetzt habe. Plötzlich habe MS S über Steuerbord gedreht und dessen Heck sei in seinen Kurs geschwenkt. Diesen Angaben steht die Aussage des Schiffsführers B im Verklarungsverfahren entgegen, wonach MS S in gestreckter Lage zu Tal getrieben und MS E seinem Schiff mit deutlich höherer Geschwindigkeit aufgelaufen ist, ohne zwecks Überholung zur Strommitte hin auszuweichen. Er habe ein Warnsignal gegeben und versucht, die Geschwindigkeit seines Schiffes zu erhöhen, um den Unfall zu vermeiden. Er habe jedoch weder Manöver nach Backbord noch nach Steuerbord hin gemacht.
Die Zeugin B hat die Angaben ihres Ehemannes bestätigt.
Diese einander widersprechenden Aussagen lassen für sich gesehen nicht die Feststellung zu, daß MS S überhaupt bei Annäherung des MS E versucht hat, über Steuerbord aufzudrehen. Aus der Sicht von Schiffsführer B war ein Wendemanöver in der gegebenen Situation auch zunächst untunlich, weil er das mit höherer Geschwindigkeit leer zu Tal hinter seinem Schiff herankommende MS E gesehen hatte. Er hat unstreitig auch noch ein Schallsignal gegeben, um E zu warnen. Dieses Schallsignal hat er gegeben, weil E zwar nicht direkt in Kiellinie, sondern ein wenig zur Steuerbordseite hin versetzt gefahren ist, wie er weiter im Verklarungsverfahren ausgesagt hat. Erst nachdem er zwei Warntöne gegeben habe, so hat er weiter angegeben, sei das hinter ihm fahrende Schiff nach Backbord gewechselt.
2. Aus den Bekundungen des im Verklarungsverfahren vernommenen Zeugen W von MS M vermag die Berufungskammer keine zweifelsfreie und eindeutige Bestätigung der Angaben des Beklagten zu entnehmen.
Die Angaben des Zeugen W geben keine sicheren Aufschlüsse darüber, ob MS S unmittelbar vor MS E über Steuerbord zu wenden versucht hat. Denn der Zeuge W hat den Zusammenprall der unfallbeteiligten Schiffe als solchen nicht gesehen. Daß MS S durch den Zusammenprall sich um 180 Grad gedreht hat, wie Wattjes gesehen hat, besagt nichts über die Lage der Schiffe im Strom vor ihrem Zusammenprall. Ebensowenig kann aus der Frage des Beklagten über Funk kurz vor dem Zusammenprall : „Was machst Du da ?“ eindeutig geschlossen werden, daß Schiffsführer B ein in der gegebenen Situation gefährliches Wendemanöver begonnen hatte.
3. Die Berufungskammer vermochte auch keine wesentlich anderen Feststellungen als das Rheinschiffahrtsgericht aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen E zu treffen.
Wenn der Sachverständige aus den beiderseitigen Unfallschäden auf eine Schräglage des MS S im Zeitpunkt der Anfahrung von 10 bis 30 Grad geschlossen hat, konnte zu Gunsten des Beklagten nicht von einer Schräglage dieses Schiffes von mehr als 10 Grad für die weitere Beurteilung ausgegangen werden; denn der Beklagte trägt die Beweislast für seine im Streit stehende Behauptung, daß der MS S im Zusammenhang mit einem Überholmanöver des MS E ein Wendemanöver – hier zudem ohne vorherige Ankündigung – eingeleitet hat. Das ergibt sich aus den Grundsätzen des Anscheinsbeweises. Der Beklagte hat ein ihm vorauffahrendes Schiff angefahren, was nach der Lebenserfahrung auf seinem Verschulden beruhen muß, wenn er keine Umstände aufzeigt und beweist, die für einen anderen Lebenssachverhalt sprechen.
Aus einer Schräglage des MS S von 10 Grad im Zeitpunkt der Anfahrung kann, wie das Rheinschiffahrtsgericht mit Recht angenommen hat, nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit auf ein bereits begonnenes Wendemanöver dieses Schiffes geschlossen werden; denn diese Schräglage kann darauf zurückzuführen sein, daß MS S ohne nennenswerten Vorausgang der Maschine im Strom trieb. Ein treibendes Schiff wie MS S konnte im Revier bei Wesel schon deshalb eine leichte Schräglage nach Steuerbord einnehmen, weil der Rhein in diesem Teil des Reviers eine Linkskrümmung beschreibt, wodurch ein treibendes Schiff beeinflußt und eine Schräglage nach Steuerbord hin einnehmen kann.
Daß Schiffsführer B im Verklarungsverfahren bei seiner Aussage die Lage seines Schiffes im Strom als gestreckt bezeichnet hat, steht der Annahme einer Schräglage von 10 Grad und den daran anzuknüpfenden Folgerungen nicht entgegen, da eine Abweichung des Kurses von 10 Grad von der Stromachse unerheblich ist und bei einem treibenden Schiff von dem verantwortlichen Schiffsführer nicht als ungewöhnlich erachtet wird.
Soweit das Rheinschiffahrtsgericht ein Rudermanöver von Schiffsführer B im letzten Teil der Geschehnisse erörtert hat und der Frage nachgegangen ist, ob darin ein Manöver des letzten Augenblicks liegt, kann diese Frage auf sich beruhen, da Schiffsführer Blondeau selbst sich auf kein derartiges Manöver berufen hat. Er hat vielmehr seinen Angaben im Verklarungsverfahren zufolge, keinerlei Rudermanöver vorgenommen und nur versucht, durch Einsatz seiner Maschinenkraft den Unfall zu vermeiden.
Bei dieser Sachlage muß angenommen werden, daß der Beklagte mit seinem leeren Schiff mit nicht unbeträchtlicher Geschwindigkeit zu Tal fahrend dem ebenfalls zu Tal fahrenden MS S aufgelaufen und bei der Annäherung nicht den für eine Überholung erforderlichen Seitenabstand eingehalten hat. Er hätte bereits geraume Zeit vor dem Auflaufen mehr zur Strommitte halten können, da sich kein anderes Schiff im Revier befand, das ihn daran hätte hindern können. Es war verfehlt, erst in kurzem Abstand zu dem MS S Backbordkurs zu nehmen, um dieses Schiff freizufahren. Zur Einhaltung eines wesentlich größeren Abstandes, als es hier geschehen ist, hätte bei sorgfältiger Einschätzung aller Umstände im Zusammenhang mit der beabsichtigten Überholung auch um deswillen besondere Veranlassung bestanden, weil es sich bei MS S um ein kleines und beladenes Schiff handelte, daß bei der Überholung durch ein schnelles und großes Schiff erheblichen Sog- und Druckeinwirkungen ausgesetzt wurde. Zudem bestand die Gefahr, die sich hier realisiert hat, daß der gewählte Kurs zu einer gefahrlosen Überholung nicht ausreichte und zu einer Anfahrung führen konnte. Darin liegt ein schuldhafter Verstoß des Beklagten gegen § 6.09 Nr. 1 RheinSchPV, der unfallursächlich gewesen ist.
4. Es ist nicht einzusehen, daß das Rheinschiffahrtsgericht die allgemeinen prozessualen Beweisregeln oder die gegenseitigen Pflichten beim Überholen verkannt hat. Da kein Wendemanöver des Klägers anzunehmen ist, brauchte auch die Pflichten bei einem solchen Manöver gegen die bei einer Überholung nicht abgewogen zu werden.
Nach alledem mußte es bei der Entscheidung in dem angefochtenen Urteil sein Bewenden haben.
5. Die Kosten des Berufungsverfahrens waren dem Beklagten gemäß § 97 Abs. 1 ZPO aufzuerlegen.
6. Aus den dargelegten Gründen wird für Recht erkannt :
Die Berufung des Beklagten gegen das am 24. August 1998 verkündete Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort – 5 C 30/97 BSch – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.
Die Festsetzung dieser Kosten gemäß Artikel 39 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte erfolgt durch das Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort.