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Leitsätze:
1) Geht aus einem als „Einspruch" gegen das Urteil eines Rheinschiffahrtsgerichts bezeichneten Schreiben eines Angeklagten eindeutig hervor, daß nicht die Entscheidung eines nationalen, sondern eines außerdeutschen Gerichts gewünscht wird, so ist allein die international besetzte Rheinzentralkommission für die Rheinschiffahrt als Berufungsinstanz in Rheinschiffahrtssachen zuständig, auch wenn in der Eingabe an das Rheinschifffahrtsgericht nicht ausdrücklich das Verlangen gestellt wird, daß die Entscheidung von der Rheinzentralkommission begehrt wird.
2) Ein Angehöriger des jüdischen Glaubens kann sein Nichterscheinen im Hauptverhandlungstermin beim erstinstanzlichen deutschen Rheinschiffahrtsgericht nicht mit Hinweisen auf Gewalttaten gegen seine Angehörigen im Dritten Reich begründen und entschuldigen, wenn er in früherer Zeit, insbesondere während einer Unfallreise, auf welcher der zur Verhandlung anstehende Verstoß gegen schiffahrtpolizeiliche Vorschriften vorgekommen sein soll, keine moralischen Bedenken gehabt hat, sich im deutschen Staatsgebiet aufzuhalten.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 15. September 1975
36 P - 9/75
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar).
Sachverhalt:
Der Angeklagte hatte durch richterliche Strafverfügung vom 10. 9. 1970 eine Geldstrafe von 90,- DM - ersatzweise 6 Tage Freiheitsstrafe - unter der Beschuldigung erhalten, daß er als Schiffsführer eines Schubverbandes infolge fehlerhaften nautischen Verhaltens einen Schiffsunfall verursacht, dadurch das Querliegen des Verbandes im Ehrenthaler Werth herbeigeführt und die übrige Schiffahrt behindert und gefährdet habe. Auf seinen Einspruch wurde der Angeklagte nach mehrfach verschobenen Terminen vom Rheinschiffahrtsgericht St. Goar mit in Basel erfolgter Zustellung vom 3. 9. 1974 zur Hauptverhandlung am 16. 10. 1974 geladen. Der Angeklagte teilte mit Schreiben vom 20. 9. 1974 dem Gericht jedoch mit, daß er zu diesem Termin nicht erscheinen werde, da er durch Heirat dem jüdischen Glauben beigetreten sei und sich und seinen Verwandten in Israel eine Reise nach Deutschland nicht zumuten könne, da Angehörige seiner Familie im Dritten Reich umgebracht worden seien. Da er im Hauptverhandlungstermin nicht anwesend war, hat das Gericht den Einspruch mit der Begründung verworfen, daß der Angeklagte ohne genügende Entschuldigung der Verhandlung ferngeblieben sei und die angeführten Gründe nicht als ausreichend anerkannt werden könnten, da er sich früher auf deutschem Gebiet aufgehalten habe, ohne moralische Bedenken zu haben. Gegen das am 1. 1. 1975 zugestellte Urteil vom 16. 10. 1974 hat der Angeklagte mit Schreiben vom 7. 1. 1975 - eingegangen beim Rheinschiffahrtsgericht in St. Goar am 9. 1. 1975 - „Einspruch" erhoben mit der Begründung, daß er die Entscheidung eines neutralen Gerichts wünsche, weil er sich als Jude von einem deutschen Gericht nicht gerecht behandelt fühle. Dieser Einspruch wurde als Rechtsbeschwerde angesehen und durch Beschluß des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar vom 7. 2. 1975 wegen Versäumung der einwöchigen Rechtsmittelfrist als unzulässig verworfen. Auf ein weiteres Einspruchsschreiben des Angeklagten vom 13. 3. 1975, in welchem er mitteilte, daß er „vor ein internationales Gericht möchte aus Gewissensgründen", wurde die Sache der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt vorgelegt. Diese hat die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts vom 16. 10. 1974 unter Aufhebung des Beschlusses vom 7. 2. 1975 zurückgewiesen und die Strafverfügung vom 10. 9. 1970 bestätigt.
Aus den Gründen:
„Die Berufungskammer sieht bereits das Schreiben des Angeklagten vom 7. 1. 1975, mit dem er „Einspruch" gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar vom 16. 10. 1974 einlegte, als Berufung an die Zentralkommission an. Zwar ist in Artikel 37 Absatz 2 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte für die Berufungseinlegung bei der Zentralkommission vorgeschrieben, daß die Berufung mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß die Entscheidung, der Zentralkommission verlangt werde, beim Gericht erster Instanz anzumelden sei. Wenn auch das Schreiben des Angeklagten vom 7. 1. 1975 ein solches ausdrückliches Verlangen nicht enthält, so geht doch aus dem Text des Schreibens mit hinreichender Deutlichkeit hervor, daß er die Entscheidung eines außerdeutschen Gerichts wünscht. Somit gab der Angeklagte klar zu erkennen, daß er von beiden zur Verfügung gestellten Rechtsmittelwegen nicht denjenigen an das nationale Obergericht, also an das deutsche Oberlandesgericht, sondern denjenigen an die international besetzte Zentralkommission für die Rheinschiffahrt beschreiten wollte. Da die Vorschrift des Artikels 37 Absatz 2 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte lediglich den Sinn hat, den vom Angeklagten gewählten Berufungsweg zu klären und dies in dem, vorliegenden Falle eindeutig aus dem Text des Einspruchschreibens hervorging, erscheint die Zulässigkeitsbestimmung des Artikels 37 Absatz 2 erfüllt. Auch die Berufungsfrist von 30 Tagen ist gewahrt, da das Urteil dem Angeklagten am 1.1. 1975 zugestellt wurde und sein Einspruchschreiben am 9.1.1975 beim Rheinschiffahrtsgericht erster Instanz einging. Die von dem Angeklagten vorgebrachten Gründe für sein Nichterscheinen in der Hauptverhandlung vom 16. 10. 1974, zu der er ordnungsgemäß und fristgerecht vorgeladen worden war, können nicht als ausreichende Entschuldigung angesehen werden. Der Angeklagte trug keine moralischen Bedenken, sich in früherer Zeit - insbesondere während der Unfallreise - auf deutschem Staatsgebiet aufzuhalten. Wenn er aber deutsches Staatsgebiet betrat, so unterstellte er sich auch der deutschen Gerichtsbarkeit für alle während dessen Aufenthalts etwa begangenen Zuwiderhandlungen gegen bestehende Rechtsvorschriften. Die Berufungskammer wertet die nunmehr von dem Angeklagten vorgebrachte Weigerung, vor dem erstinstanzlichen Rheinschiffahrtsgericht zu erscheinen, lediglich als Schutzvorbringen, um sich der Verantwortung für eine etwaige Zuwiderhandlung gegen schiffahrtspolizeiliche Vorschriften zu entziehen, zumal der Angeklagte auch keinen Gebrauch von der rechtlichen Möglichkeit gemacht hat, sich durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten zu lassen. Das erstinstanzliche Rheinschiffahrtsgericht hat deshalb zu Recht entsprechend der Bestimmungen der §§ 413 Absatz 4, 412 der deutschen Strafprozeßordnung den Einspruch gegen die richterliche Strafverfügung vom 10. 9. 1970 ohne Beweisaufnahme verworfen. Die vom Angeklagten gegen dieses Urteil eingelegte Berufung war deshalb unter Bestätigung der vom Gericht erster Instanz verhängten Geldbuße zurückzuweisen. Der Beschluß des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar vom 7. 2. 1975, mit dem das als Rechtsbeschwerde aufgefaßte Rechtsmittel des Angeklagten vom 7. 1. 1975 als unzulässig verworfen wurde, war aufzuheben, da nach der von der Berufungskammer vertretenen Auffassung das vom Angeklagten mit Schreiben vom 7. 1. 1975 eingelegte Rechtsmittel - wie oben dargelegt - als Berufung an die Zentralkommission für die Rheinschiffahrt auszulegen war, so daß für den allein nationalen Rechtsweg in Frage kommenden Beschluß des erstinstanzlichen Gerichts vom 7. 2. 1975 kein Raum war.
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