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Leitsätze:
1) Die nach Art. 37 Abs. 3 MA einzureichende „schriftliche Rechtfertigung" (Begründung) einer Appellation (Berufung) muß die Gründe der Appellation im einzelnen bezeichnen sowie neue Tatsachen, Beweismittel und Beweiseinreden anführen; sie muß, auf den zur Entscheidung stehenden Streitfall zugeschnitten, erkennen lassen, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen das angefochtene Urteil unrichtig sein soll.
2) Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Berufung an die Berufungskammer der ZKR gehören weder die Schlüssigkeit noch die Vertretbarkeit der Begründung. Daher kommt es auch nicht darauf an, ob eine Berufungsbegründung in einem Widerspruch zu dem Vorbringen in einem Parallelprozeß steht.
3) Auch ein Überholmanöver, von dem nach § 6.09 Nr. 1 RheinSchPVO hätte Abstand genommen werden müssen, ist nach § 6.09 Nr. 2 RheinSchPVO durch Fahrtverminderung so lange zu unterstützen, als es noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Die nautische Sorgfalt gebietet diese Unterstützung des Überholens, um Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere für Entgegenkommer, auszuschließen, die angesichts der örtlichen Verhältnisse und auf dem Radarschirm auftretender Fehlechos bestehen können.
4) Ein Überholmanöver ist erst abgeschlossen, wenn sich der Überholer vollständig vor den Überholten gesetzt und zu ihm einen ausreichenden Sicherheitsabstand gewonnen hat.
5) Nach § 6.04 Nr. 1 RheinSchPVO müssen Bergfahrer dem Talfahrer bei einer Begegnung, auch wenn diese in der Form einer Zwischendurchfahrt erfolgen soll, unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse einen geeigneten Weg frei lassen. Der Talfahrer darf darauf vertrauen, daß der ihm gewiesene Weg geeignet ist. Er hat deshalb die Kursweisung der Bergfahrt strikt zu befolgen.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 15.06.1994
306 Z - 6/94
(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim)
Zum Tatbestand:
Die Klägerin ist Versicherer des MS M, das am 23.11.1991 gegen 9.50 Uhr bei Nebel auf dem Rhein oberhalb der Eisenbahnbrücke Germersheim zu Tal fuhr. Entgegen kamen das MS W der Beklagten zu 1, geführt vom Beklagten zu 2 und das MS H der Streithelferin der Klägerin. Alle Schiffe fuhren mit Radar.
Das hart rechtsrheinisch fahrende MS H erteilte dem MS M Kursweisung zu einer Begegnung Steuerbord/ Steuerbord; MS W gab die Kursweisung Backbord/Backbord. MS W und MS M kollidierten bei Rhein-km 383,5, wobei beide Fahrzeuge schwer beschädigt wurden.
Die Klägerin hat behauptet, MS W sei schon zur Zeit der Kursabsprache recht „breit" gefahren, habe jedoch zunächst noch den korrekten linksrheinischen Kurs für eine Begegnung mit dem linken Rand des rechtsrheinischen Fahrwassers fahren den MS M eingehalten. Die Lücke für die Talfahrt zwischen den beiden Bergfahrern habe zunächst 30 m betragen. Wenige Sekunden vor der beabsichtigten Begegnung und bei einem Abstand der Schiffe von 40 - 50 m sei MS „Walsum" plötzlich nach Backbord in das rechtsrheinische Fahrwasser ausgebrochen und deshalb mit MS M kollidiert.
Die Beklagten haben bestritten, daß MS M bereits zur Zeit der Kursabspraehe recht „breit" gefahren und plötzlich nach Backbord in das rechtsrheinische Fahrwasser ausgebrochen sei. Der Unfall sei darauf zurückzuführen, daß MS H ohne Ankündigung über Funk oder durch Schallsignale zum Überholen des MS W angesetzt habe, obwohl ein Bergfahrer zwischen der Germersheimer Straßenbrücke und der Germersheimer Eisenbahnbrücke einen oberhalb der Eisenbahnbrücke befindlichen Talfahrer wegen diverser Fehlechos der Brücken auf dem Radarschirm nicht oder nur schlecht habe sehen können. Das Fahrwasser sei im Unfallbereich zu schmal, um dort im Nebel zu überholen. Durch das Überholmanövers sei MS M der erforderliche Sicherheitsabstand bei der Begegnung genommen worden. Den Beklagten zu 2 treffe kein Verschulden an dem Unfall. Er habe mit seinem auf 2,70 m abgeladenen Schiff im Nebel eine schwierige Brückendurchfahrt vornehmen und danach den linksrheinisch verlaufenden Germersheimer Grund um- schiffen müssen. Dafür habe er aus Sicherheitsgründen Raum gebraucht.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Schadensersatzklage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
„I.
Die Berufung der Beklagten ist in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden.
Nach Artikel 37 Absatz 3 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte hat der Appellart innerhalb von 30 Tagen nach erfolgter Anmeldung die schriftliche Rechtfertigung der Appellation dem Gericht zu übergeben. Nähere Vorschriften über die Rechtfertigung der Appellation (Berufung) enthält weder die Revidierte Rheinschiffahrtsakte noch die Verfahrensordnung der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt vom 23.10.1969. Es kommt daher darauf an, was unter dem Begriff „schriftliche Rechtfertigung" zu verstehen ist. Nach der Überzeugung der Berufungskammer muß die schriftliche Rechtfertigung die Gründe der Appellation im einzelnen bezeichnen, sowie neue Tatsachen, Beweismittel und Beweiseinreden anführen. Es ist zu verlangen, daß die Rechtfertigung auf den zur Entscheidung stehenden Streitfall zugeschnitten ist und erkennen läßt, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen das angefochtene Urteil unrichtig sein soll.
Diesen Anforderungen an die schriftliche Rechtfertigung der Appellation entspricht die Berufungsbegründung der Beklagten vom 22.4.1993. Die Berufungsbegründung der Beklagten macht deutlich, daß sie sich gegen die Verantwortlichkeit des Beklagten zu 2 für die Kollision des von ihm geführten MS W mit MS M wendet und die Ursachen für die Kollision einerseits in dem Überholmanöver durch MS H und andererseits in einem fehlerhaften Kurs des zu Tal fahrenden MS M sieht. Auch meinen die Beklagten, daß MS M nicht den ihm gewiesenen geeigneten Weg genommen habe und für die mangelnde Eignung des Talweges beweispflichtig sei.
Ob die Ausführungen in einer Berufungsbegründung neben der Sache liegen, brauchte die Berufungskammer im Rahmen der Zulässigkeit einer Berufung grundsätzlich nicht zu prüfen, da weder die Schlüssigkeit noch die Vertretbarkeit der Begründung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen gehören. Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob die Berufungsbegründung, wie die Klägerin und ihr Streithelfer meinen, in einem Widerspruch zu dem Vorbringen der Beklagten im Parallelprozeß steht, auf das sich die Beklagten durch die Bezugnahme auf ihre dort vorgelegte Berufungsbegründung vom 22.04.1993 berufen haben. Angesichts der eindeutigen Schuldzuweisung der Beklagten in diesem Rechtsstreit spielt es keine Rolle, daß sie im Parallelprozeß eine abweichende Rechtsansicht geäußert und sich im vorliegenden Rechtsstreit ergänzend darauf berufen haben.
II.
Die Berufung der Beklagten ist in der Sache unbegründet.
1. Im Ergebnis zutreffend hat das Rheinschiffahrtsgericht die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt; denn die Beklagten sind der Klägerin nach den §§ 3, 4, 92 92b, 114 BinnSchG; 6.09 Nr. 2 RheinSchPV; 823 Absätze 1 und 2, 249 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Der Beklagte zu 2 hat durch mangelnde Unterstützung des Überholmanövers des MS H den Zusammenstoß seines Schiffes mit MS M verschuldet.
2. Nach dem Vorbringen der Parteien und des Streithelfers hat MS H das MS W unmittelbar vor der Kollision des letztgenannten Schiffes mit dem entgegenkommenden MS M überholt. Infolge dieses Überholmanövers mußte das zu Tal kommende MS M entsprechend der erteilten Kursweisung zwischen diesen Bergfahrern bei der durchzuführenden Begegnung durchfahren. Für eine solche gleichzeitige Begegnung und Überholung stand aber nach der Überzeugung der Berufungskammer unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs kein hinreichender Raum für die Vorbeifahrt zur Verfügung.....
3. Im Zeitpunkt der Kollision war das Überholmanöver noch nicht vollständig abgeschlossen, wie die Beweisaufnahme im Verklarungsverfahren ergeben hat. Zu dieser Zeit war MS H mit seinem Achterschiff erst etwa 15 bis 20 m seitlich vor MS W. Schiffsführer R von MS H hat im Verklarungsverfahren selbst ausgesagt, als der Talfahrer über Funk erklärt habe, „daß das so nicht klarginge", habe er den Vorhang seines Steuerhauses zurückgezogen und MS W optisch mit einem solchen Abstand von seinem Achterschiff entfernt gesehen. Dann sei „es ganz schnell zwischen M und W Kopf auf Kopf gegangen". Hieraus folgt, daß sich MS H noch nicht vollständig vor MS W gesetzt und einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem Überholten gewonnen hatte.
4. In dieser Situation hat der Beklagte zu 2 als Schiffsführer von MS W gegen seine nautischen Pflichten schuldhaft verstoßen und hierdurch den Unfall verursacht, indem er entgegen § 6.09 Nr. 2 RheinSchPV das Überholmanöver des MS H nicht durch eine Fahrtverminderung unterstützt hat, damit dieses Überholmanöver gefahrlos und so schnell ausgeführt werden konnte, daß der übrige Verkehr nicht behindert wurde.
Bei Beachtung nautischer Sorgfalt hätte der Beklagte zu 2 die Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere für Entgegenkommer, angesichts der örtlichen Verhältnisse, der Brückendurchfahrt, den oberhalb vorspringenden Germersheimer Grund und die in diesem Bereich auftretenden Fehlechos auf dem Radarschirm in Rechnung stellen und durch Herabsetzung der Geschwindigkeit seines Schiffes das von ihm erkannte Überholmanöver des MS „Heimatland" unterstützen müssen, um so Gefahren für Entgegenkommer auszuschließen. Durch die unterbliebene Unterstützung des Überholmanövers des MS H wurde dieses Schiff daran gehindert, vor dem Talfahrer das Überholmanöver zu beenden. Der Beklagte zu 2 hat deshalb den Zusammenstoß seines Schiffes mit dem zu Tal kommenden MS M verschuldet.
5. Nach der Lage der Sache kann dem Beklagten zu 2 nicht vorgeworfen werden, ein Schallsignal nach § 6.10 Nr. 5 RheinSchPV unterlassen zu haben, um MS H an der Einleitung und Durchführung eines gefährlichen Überholmanövers im Bereich der Germersheimer Brücke zu hindern.
Ein Schuldvorwurf in dieser Richtung könnte nur dann erhoben werden, wenn festzustellen wäre, wie die Lage der Schiffe im Strom gewesen ist, als er wahrnahm, daß MS H überholen wollte.
Hierzu lassen sich aber keine genaueren Feststellungen treffen. Die Parteien haben insoweit nichts näher vorgetragen. Auch dem Verklarungsverfahren lassen sich hierzu keine Anhaltspunkte entnehmen.
6. Dem Beklagten zu 2 können auch keine weiteren Vorwürfe deshalb gemacht werden, weil er nach eigenen Angaben im Verklarungsverfahren bei der Annäherung an die Germersheimer Eisenbahnbrücke den Steuerbordpfeiler der Brücke nicht im Radarbild hatte und bei der Durchfahrt durch die Brückenöffnung ein Schiff auf dem Radarschirm gesehen hatte, das er weder als Talfahrer noch als Bergfahrer identifizieren konnte, weil aus seiner Sicht nicht festzustellen war, ob sich das Echo bewegte. Alles das kann, muß aber nicht für eine fehlerhafte und wenig sachkundige Auswertung des Radarbildes sprechen; denn der Streubereich des Echos einer Rheinbrücke kann je nach der Lage eines Schiffes im Strom eine sichere Auswertung des Radarbildes behindern oder im Brückenbereich vollständig ausschließen. Diese Schwierigkeiten der Radarortung und die Behinderung eines Überblicks über den Verkehr oberhalb oder unterhalb einer Brükke muß ein Schiffsführer kennen. Kraft seiner Streckenkenntnis und durch Fragen über Kanal 10 muß ein erfahrener Schiffsführer diese Mängel der Radarortung ausgleichen, um sein Schiff gefahrlos durch die Brükkenöffnung zu steuern. Zwar hat der Beklagte zu 2 sich riecht über Kanal 10 über den Verkehr oberhalb der Eisenbrücke orientiert, und MS W ist auch, wie das Rheinschiffahrtsgericht der Beweisaufnahme im Verklarungsverfahren mit Recht entnommen hat und worauf zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, von linksrheinisch kommend bis etwa zur Fahrwassermitte geraten, diese Fahrweise hätte sich aber nicht unfallursächlich ausgewirkt, wenn MS H sich nicht rechtsrheinisch befunden hätte, und MS M seinen Kurs dort hätte nehmen können.
7. Schließlich kann dem Beklagten zu 2 auch nicht vorgeworfen werden, durch eine plötzliche Kursänderung dem Talfahrer den Weg verlegt und ihm so keinen geeigneten Weg freigelassen zu haben. Allerdings wollen die Zeugen L und G von MS M auf dem Radarbild gesehen haben, daß MS W in einem Abstand von 40-50 m vor dem Vorschiff des MS M ausgeschert und in den Kurs dieses Schiffs gefahren sei. Auch Schiffsführer R hat bei seiner Vernehmung von einem harten Ausscheren des MS W gesprochen. Diese Zeugen stehen nach Auffassung der Berufungskammer als Schiffsführer bzw. Lotsen unfallbeteiligter Schiffe erfahrungsgemäß den Geschehnissen nicht vorbehaltslos gegenüber, so daß ihren Angaben mit Zurückhaltung zu begegnen ist. Zudem haben die Schiffsführer der dem MS M zu Tal folgenden Schiffe, die unbeteiligten Zeugen B und V, nach ihren Angaben im Verklarungsverfahren auf dem Radarschirm ihrer Schiffe nicht bemerkt, daß MS W seinen Kurs stark geändert hätte. Letztlich kann jedoch offen bleiben, wie weit und in welcher Form MS W seinen Kurs zur Fahrwassermitte hin verlegt hat. Hätte sich nämlich MS H nicht rechtsrheinisch unmittelbar mit einem Abstand von 15-20 m seitlich vor MS W befunden, hätte MS M ausreichend Raum gehabt, gefahrlos zu begegnen.
8. Demgegenüber können der Schiffsführung des MS M keine Vorwürfe gemacht werden. Bei einer Begegnung, auch wenn diese in der Form einer Zwischendurchfahrt erfolgen soll, müssen die Bergfahrer dem Talfahrer unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse einen geeigneten Weg freilassen (§ 6.04 Nr. 1 RheinSchPV). Der Talfahrer darf darauf vertrauen, daß der ihm gewiesene Weg geeignet ist. Er hat deshalb auch die Kursweisung der Bergfahrt strikt zu befolgen.
Wenn hier der Zeuge L als Schiffsführer des MS M versucht hat, zwischen H und W zu passieren, ist das nicht zu beanstanden. Daß er nicht den ihm gewiesenen Weg genommen hätte, wie die Beklagten meinen, kann weder dem Akteninhalt noch dem Ergebnis des Verklarungsverfahrens entnommen werden.
9. In welchem Umfang zu dem Unfall ein Verschulden des MS H beigetragen hat, bedurfte im Rahmen dieses Rechtsstreits keiner Abwägung, da die Interessenten dieses Schiffes vorliegend nicht verklagt sind. Da im übrigen die Besatzung des MS M kein Verschulden triff, ist nicht § 92 c BinnSchG, sondern ausschließlich § 92 b BinnSchG anwendbar. Ob neben den aus den obengenannten Vorschriften haftenden Beklagten auch andere Personen als Gesamtschuldner haften, bedurfte daher im Rahmen dieses Rechtsstreits keiner weiteren Nachprüfung......"
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1994 - Nr.15/16 (Sammlung Seite 1488 ff.); ZfB 1994, 1488 ff.