Decision Database

27 U 55/99 - Oberlandesgericht (Binnenschifffahrtsobergericht)
Decision Date: 19.08.1999
File Reference: 27 U 55/99
Decision Type: Urteil
Language: German
Court: Oberlandesgericht Hamm
Department: Binnenschifffahrtsobergericht

Urteil des Oberlandesgerichts - Binnenschiffahrtsobergericht Hamm

vom 19.08.1999

Tatbestand:

Die Klägerin hat zuletzt nur noch die Beklagte zu 1) (künftig: nur noch Beklagte) auf Ersatz des Schadens in Anspruch genommen, der ihr am 03. April 1996 gegen 12.00 Uhr in Kassel an der Stadtschleuse der Fulda mit einer Kammerlänge von 85 m bei 81,3 km durch Anfahrung des oberen Schleusentores durch das Motorfahrgastschiff E entstand, deren Mieterin und Verwenderin die Beklagte als Inhaberin der Rehbein-Linie-Kassel-Personenschiffahrt war und noch ist. Auf der Fahrt zu Berg lief der Schiffsführer S mit der E in die Schleuse ein. Beim Aufstoppen mit Maschinenkraft trat ein technischer Defekt in einer Antriebseinheit ein. Obwohl der DX-Umsteuerhebel für beide Maschinen (Back- und Steuerbord) jeweils auf „zurück" gelegt wurde, nahm die Geschwindigkeit der E bei Erhöhung der Motordrehzahl bei zweimaligen Stoppversuchen zu. Als Grund dafür wurde später der Verlust eines Sicherungssplintes am Hebelmechanismus des Bowdenzuges zur Backbordmaschine festgestellt. Noch bevor die E anderweit per Hand aufgestoppt werden konnte, geriet sie mit dem Bug steuerbordseitig gegen das Obertor der Schleuse, das dadurch beschädigt wurde.

Die Klägerin hat die Beklagte für den Schaden verantwortlich gemacht und ihr ein Verstoß gegen § 6.28 Nr. 8 Abs. 1 und 3 BinnSchStrO vorgeworfen mit der Begründung, der Schiffsführer habe auch bei einem Umsteuerversagen der Backbordmaschine ein rechtzeitiges schadloses Aufstoppen sicherstellen müssen. Auf höhere Gewalt könne er sich deshalb und auch aus dem Grunde nicht berufen, weil er für den ordnungsgemäßen technischen Zustand der E verantwortlich gewesen sei und eine ordnungsgemäße Funktion der Umsteueranlage habe besorgen müssen. Sie hat einen Reparaturkostenaufwand von 129.291,46 DM behauptet.

Demgegenüber hat sich die Beklagte so verteidigt: Die Klage sei bereits deshalb unzulässig, weil sie, die Beklagte, allenfalls beschränkt mit Schiff und Fracht, nicht aber unbeschränkt persönlich hafte, was die Klage unterstelle. In der Sache selbst scheide ihre Haftung aus, weil ein Schuldvorwurf gegen ihre Seite nicht zu begründen sei; der Unfall beruhe nämlich auf einem unvorhersehbaren technischen Defekt. Die E sei mit äußerst geringer Geschwindigkeit in die Schleuse eingefahren, so daß sie ohne weiteres durch Haltetaue habe aufgestoppt werden können. Das sei kurz vor Erreichen des Pollers nur deshalb gescheitert, weil die Unterstützung des Aufstoppens mit Maschinenkraft unerwartet zu einem weiteren Vorschub geführt habe.

Das Amtsgericht Minden - Schiffahrtsgericht - hat die Beklagte verurteilt, mit der E dinglich und nach § 114 BinnSchG auch persönlich haftend an die Klägerin hauptsächlich 129.291,46 DM zu zahlen aus im wesentlichen diesen Gründen:

Die Beklagte hafte als Mieterin und Verwenderin der E wie ein Ausrüster Dritten gegenüber ebenso wie der Schiffseigner und habe daher für den Schaden, den die Besatzung schuldhaft einem anderen zufüge, einzustehen. Der Beweis des ersten Anscheins streite bereits für ein Verschulden des Schiffsführers, weil die Anfahrung eines Schleusentores die Vermutung eines nautischen Versagens begründe. § 6.28 BinnSchStrO stelle besonders hohe Anforderungen an die Schiffsführung bei Einfahrt in eine Schleuse. Nach Nr. 8 Abs. 1 sei die Geschwindigkeit des Schiffes soweit zu mindern, daß ein Anprall an die Schleusentore oder an die Schutzvorrichtungen vermieden werde. Nr. 8 Abs. 3 verpflichte den Schutzführer bei der Einfahrt in eine Schleuse dafür zu sorgen, daß das Fahrzeug durch Belegen der Poller oder Haltekreuze der Schleusen mit Tauen oder Trossen ohne Maschienenkraft angehalten werden könne. Daß der Schiffsführer S diesen Anforderungen nicht genügt habe, folge schon aus der eigenen Unfalldarstellung der Beklagten. Danach habe dieser den Maschinenstopp durchgeführt, um dem Matrosen das Festmachen der E mittels Leine am mittleren Poller zu ermöglichen. Das spreche dafür, daß die E nicht so langsam gewesen sei, daß sie ohne Maschinenkraft habe ständig gemacht werden können. Die Beklagte sei aber auch dann nicht entlastet, wenn die Maschinenkraft nur unterstützend eingesetzt worden sei. Bereits bei Einfahrt in die Schleuse habe der Schiffsführer in Betracht zu ziehen gehabt, daß es zu einem Maschinenversagen habe kommen können und sich auf eine ausbleibende Verzögerung einstellen müssen wie auf einen unerwarteten Schub voraus. Demgegenüber habe die Schiffsführung keine manuellen Aufstoppmaßnahmen mehr durchzuführen vermocht und das Schiff durch wiederholten Maschinenstoppversuch noch weiter beschleunigt. Danach könne von höherer Gewalt keine Rede sein, vielmehr sei ein Verschulden auf seiten der Beklagten festzustellen. Für den der Höhe nach belegten Schaden der Klägerin hafte die Beklagte nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 BinnSchG dinglich und nach § 114 Abs. 1 BinnSchG auch persönlich im Umfang der dinglichen Haftung, weil sie die Europa in Kenntnis der Schadensersatzforderung zu weiteren Fahrten ausgesandt habe. Die fehlende Beschränkung auf dingliche Haftung im Klageantrag sei unschädlich, weil diese gegenüber der geltend gemachten Haftung nur ein Minus bedeute, dem mit Teilabweisung der Klage genüge getan sei. Eine Kostenbeteiligung der Klägerin leite sich daraus nicht ab, weil der abgewiesene Teil des Anspruches wirtschaftlich geringfügig sei.

Die Beklagte nimmt dieses Urteil, auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, nicht hin. Sie wehrt sich gegen die Schuldfeststellung zu ihren Lasten und hält den Anscheinsbeweis durch einen feststehenden atypischen Verlauf, nämlich den unstreitigen technischen Defekt, für entkräftet. Infolge dessen trage die Klägerin die volle Beweislast für ein nautisches Versagen auf ihrer Seite.

Die Klägerin habe aber nicht bewiesen, daß die E zu schnell in die Schleuse geführt worden sei. Aus den unzulässig verwerteten polizeilichen Ermittlungsakten könne dergleichen nicht hergeleitet werden. Unter Berufung auf den Matrosen Lutze und den Schiffsführer S stellt sie unter Beweis, daß die E langsame Fahrt gemacht und von Hand hätte aufgestoppt werden können. Daß der Schiffsführer den unbeabsichtigten Schub voraus nicht rechtzeitig erkannt habe, könne man nicht sagen. Es sei zulässig, das Aufstoppen mit Maschinenkraft zu unterstützen, mit einem Maschinenversagen habe er nicht zu rechnen brauchen. Anderes komme nur dann in Betracht, wenn die E von vornherein zu schnell in die Schleuse gefahren wäre, was allerdings nicht zutreffe. Der wiederholte Aufstoppversuch mit Maschinenkraft sei nicht vorwerfbar, weil die Unfallursache schon durch die Beschleunigung beim ersten Versagen der Maschine gesetzt worden sei. Schließlich rügt die Beklagte, der Klägerin sei mit der dinglichen Haftung mehr zuerkannt, als diese ihrerseits beantragt habe.

Die Beklagte beantragt, abändernd die Klage gegen die Beklagte abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen des Vorbringens der Parteien im einzelnen wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Die Akten A 5-311.3/24 (96) des Hessischen Wasserschutzpolizeiamtes - Wasserschutzpolizeiposten Kassel - waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg.

Das Amtsgericht - Schiffahrtsgericht - hat die Beklagte zu Recht verurteilt, der Klägerin den der Höhe nach nicht mehr fraglichen Schaden von 129.291,46 DM zu ersetzen. Die Angriffe der Berufung können dagegen nichts ausrichten.

Die Rüge des Verstoßes gegen § 308 ZPO ist ungeachtet der Frage ihrer sachlichen Begründetheit gegenstandslos, weil ein etwaiges Erkenntnis über den Antrag der Klägerin hinaus nunmehr vom Antrag auf Zurückweisung der Berufung gedeckt ist, so daß ein Prozeßverstoß als geheilt anzusehen wäre (vgl. BGH NJW 1975, 389; NJW 1979, 2250).

Die Haftung der Beklagten für den der Klägerin durch die Anfahrung der E entstandenen Schleusenschaden folgt aus §§ 823 Abs. 1, 249 BGB, §§ 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Nr. 3, 114 BinnenSchG, § 6.28 Nr. 8 Abs. 1 und 3 BinnSchStrO. Die entscheidende, durch die Berufung zur Überprüfung gestellte Frage des Verschuldens auf Seiten der Beklagten hat das Amtsgericht zutreffend entschieden. Es ist anerkannten Rechts, daß der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden der Schiffsführung streitet, wenn ein Schiff bei der Einfahrt in eine Schleuse ein Untertor anfährt (OLG Karlsruhe NZV 1998, 411 (die Revision dagegen hat der Bundesgerichtshof nicht angenommen); ZfB 1995, 107). Dem liegt zugrunde, daß die Schiffsführung gemäß § 6.28 Nr. 8 Abs. 1 und 3 BinnenSchStrO bei der Einfahrt in eine Schleuse größtmögliche Sorgfalt hat walten zu lassen. Dazu gehört, dafür zu sorgen, daß das Fahrzeug durch Belegen der Poller oder Haltekreuze der Kammer mit Tauen oder Trossen auch ohne Maschinenkraft rechtzeitig anhalten kann. Denn nur dann trägt die Schiffsführung dem Umstand hinreichend Rechnung, daß technische Versager beim Umsteuern einer Schiffsmaschine nicht vollständig auszuschließen sind und es deshalb nicht immer ungefährlich ist, wenn das Aufstoppen eines Fahrzeugs in einer Schleusenkammer den Einsatz der Maschine erfordert (BGH VersR 1973, 541; OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamburg, VersR 1986, 232). Kommt es gleichwohl zu einer Anfahrung, dann spricht der erste Anschein dafür, daß die Schiffsführung den hohen Sorgfaltsanforderungen nicht gerecht geworden ist. Dieser Anschein ist nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten nicht ausgeräumt; im Gegenteil, die Verschuldensvermutung wird dadurch erhärtet. Dabei kommt es nicht auf die Entscheidung der grundsätzlichen Frage an, ob bei Einfahrt in eine Schleuse Maschinenkraft zum Ständigmachen erst eingesetzt werden darf, wenn das Aufstoppen durch bereits stattgefundenes Belegen der Poller durch Taue oder Stoppdraht gewährleistet ist, wie aus der schiffahrtspolizeilichen Anordnung der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Stuttgart vom 05.03.1964 für die Schiffahrt auf dem Neckar herzuleiten wäre (vgl. dazu BGH VersR 1973, 541). Danach hat nämlich bei Fahrzeugen mit einer Mindestbemannung von mehr als einer Person der Schiffsführer dafür zu sorgen, daß jemand sofort nach dem Passieren des Obertores mit einem Haltetau oder einer Trosse an Land geht und die Poller so belegt, daß das Schiff ohne Maschinenkraft rechtzeitig angehalten werden kann.

Hier hat die Beklagte durchgängig vorgetragen, die Europa sei so langsam in die Schleuse eingefahren, daß das Besatzungsmitglied L auch ohne Maschinenunterstützung den angesteuerten Poller problemlos hätte fangen und durch schiffseitige Belegung das Schiff hätte aufstoppen können. In diesem Fall besteht das nautische Versagen der Schiffsführung darin, daß L den angesteuerten und auch problemlos erreichbaren Poller nicht belegt hat, bevor die Maschinen auf „rückwärts" umgesteuert wurden, bzw., daß der Schiffsführers Seitz die Maschinen auf „rückwärts" gestartet hat, bevor der Poller mit einem Tau oder Stoppdraht belegt war. Angesichts eines nicht auszuschließenden und - wie die ähnlich gelagerten zahlreichen Fälle in der Rechtsprechung belegen - auch nicht völlig ungewöhnlichen Maschinenversagers, den die Schiffsführung zu gewärtigen hatte, war die Umsteuerung mit beachtlichem Risiko verbunden, zumal ein Versager wie der überraschende Vorschub voraus während der kurzen Zeit der Einfahrt in eine Schleusenkammer auf nur kurze Strecke oft nicht rechtzeitig zu beherrschen ist. Die Maschinen hätten wegen des so umschriebenen Gefahrenmomentes erst und nur dann zur Unterstützung eingesetzt werden dürfen, wenn durch Belegen der Poller ein Ständigmachen ohne Maschinenkraft gewährleistet gewesen wäre. Demgegenüber erweist sich der Unfallverlauf als typische Verwirklichung des Risikos, das durch die nach § 6.28 Nr. 8 Abs. 3 BinnSchStrO der Schiffsführung auferlegte besondere Sorgfalt ausgeschlossen werden soll. Die Beklagte kann danach nicht entlasten, daß der Maschinenschaden womöglich unverschuldet aufgetreten ist und die E erst nach dem Umsteuerversuch zu schnell geworden ist, um ein Anhalten mit Tauen noch durchführen zu können.

Die dingliche Haftung der Beklagten mit dem Fahrgastschiff E folgt aus §§ 3, 4 BinnSchG, ihre persönliche Haftung aus § 114 BinnenSchG, weil das Schiff nach dem Unfall in Kenntnis der Forderung der Klägerin als Schiffsgläubigerin auf neue Reise ausgesandt worden ist. Zwar sieht § 4 BinnenSchG n.F. eine persönliche, jedoch summenmäßig beschränkte Haftung vor, dieses Gesetz ist aber erst nach diesem Unfall in Kraft getreten und findet mangels entsprechender Übergangsregelung auf diesen Fall keine Anwendung (vgl. OLG Karlsruhe VersR 1998, 1534).

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2000 - Nr. 1 (Sammlung Seite 1767 f.); ZfB 2000, 1767 f.