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Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 29. Mai 1989
(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort vom 16. August 1988 - 5 C 8/88 BSch -)
Tatbestand:
Die Klägerin ist Versicherer des Schubbootes "K" (172 ts, 2649 KW). Sie nimmt die Beklagten auf Schadenersatz aus einem Schiffsunfall in Anspruch, der sich am 2.10.1986 gegen 7 Uhr auf dem Rhein im Raum Wesel ereignet hat. Ihre Aktivlegitimation ist unbestritten. Die Beklagte zu 1) ist Eigentümerin, zumindest Ausrüsterin des MS "L" (1116 ts, 500 PS, 80 X 8,20 m). Der Beklagte zu 2) war zur Zeit des Unfalls verantwortlicher Rudergänger auf dem Motorschiff. Zur Unfallzeit befand sich das Schubboot "K" mit vier vorgespannten Leichtern, die jeweils mit 1580 ts Erz beladen waren auf der Bergfahrt. Zu Tal kam das MS "L". Dieses hatte am 1.10.1986 im Rheinseitenkanal 582 ts Kies geladen und war seitdem ununterbrochen auf der Reise, wobei sein Schiffsführer H. und der Beklagte zu 2) sich in der Ruderführung ablösten. Es herrschte dichter Nebel mit unterschiedlichen Sichtweiten bis zu ca. 300 Metern. Es wurde daher nach Radar gefahren. Sowohl der Bergfahrer als auch das MS "L" hielten zunächst ihren Steuerbordwall an, der Schubverband fuhr also linksrheinisch, das Motorschiff rechtsrheinisch. Während der Begegnung kam es bei Rheinstromkilometer 812,9 zu einem Zusammenstoss zwischen MS "L" und dem Schubverband, bei dem beiderseits erheblicher Sachschaden entstand. Die Beklagte zu 1) hat das MS "L" in Kenntnis des Unfalls zu neuen Reisen ausgesandt.
Die Klägerin hat behauptet:
Oberhalb der Brücke von Wesel habe Kapitän S. vom Schubboot "K" auf dem Radarschirm in einer Entfernung von ca. 1400 m das Echo des zu Tal fahrenden MS "L" erkannt. Der Schubverband habe sich etwa 100 m aus dem linken Ufer gehalten und von der Talfahrt über Kanal 10 eine Begegnung Backbord an Backbord verlangt, während MS "L" etwa 1/3 der Strombreite vom rechten Ufer entfernt gefahren sei und damit zunächst eine problemlose Begegnung Backbord an Backbord ermöglicht habe.
Die Durchsage über Kanal 10 habe der Talfahrer nicht erwidert. Als das MS "L" dann auf eine Entfernung von etwa 300 m herangekommen sei, habe es aus seiner Richtung nach Backbord gehalten. Kapitän S. habe sich erneut über Kanal 10 gemeldet und nach Steuerbord gehalten, um dem Talfahrer auszuweichen. Im letzten Augenblick habe dann auch MS "L" nach Steuerbord abgedreht, sei aber gleichwohl mit seiner Backbordseite in Höhe von Raum 2 gegen den vorderen Backbordleichter des Schubverbandes gestoßen. Die Anfahrung habe sich ca. 70 m aus dem linken Ufer zugetragen. Offenbar sei der Beklagte zu 2) mit dem Radargerät nicht vertraut und ungeeignet gewesen, den Schiffsführer zu vertreten, der sich in den entscheidenden Augenblicken nicht im Steuerhaus befunden habe.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 64.461.-DM nebst 5% Zinsen seit dem 26.10.1987 zu zahlen, und zwar die Beklagte zu 1) außer dinglich haftend mit dem MS "L" im Rahmen des § 114 des Binnenschifffahrtsgesetzes auch persönlich haftend.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie haben vorgetragen:
Der Schubverband habe weder die blaue Flagge noch ein Funkellicht gezeigt und sei im geographisch linken Teil des Fahrwassers gefahren, so dass die bevorstehende Backbord an Backbord - Begegnung mit MS "L" ohne weiteres möglich gewesen wäre. Vor der Begegnung sei der Schubverband jedoch nach Backbord, also zum rechten Ufer hin ausgebrochen. Auf MS "L" sei das Ruder noch hart nach Steuerbord gelegt worden, doch sei es für ein Ausweichen oder ein Maschinenmanöver bereits zu spät gewesen. Der Unfall im rechten Teil des Fahrwassers in einer Entfernung von etwa 20 m von den roten Tonnen bei Stromkilometer 813 ereignet.
Der Beklagte habe sich seit 5 Jahren mit und ohne Radar als Steuermann bewährt.
Wegen des Unfalls, der Gegenstand dieses Rechtsstreits ist, hat ein Parallelprozess vor dem Rheinschifffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort: (5 C 73/87 BSch) stattgefunden, in dem die Eignerin des MS "L" die Eigentümerin des Schubbootes "K" und dessen Kapitän S. wegen desselben Unfalls auf Schadenersatz in Anspruch genommen hat.
In diesem - Parallelprozess sind der Beklagte zu 2) des vorliegenden Rechtsstreits und Schiffsführer H. von MS "L" als Zeugen vernommen worden. Im vorliegenden Verfahren hat das Rheinschifffahrtsgericht Kapitän S. und Schiffsführer David vom Schubboot "K" als Zeugen vernommen.
Nach durchgeführter Beweisaufnahme hat das Rheinschifffahrtsgericht die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, weil es die Sachdarstellung der Klägerin ungeachtet der gegenteiligen Bekundungen der Besatzung des MS "L" aufgrund der Aussage des Kapitäns S. vom Schubboot "K" als erwiesen angesehen hat. Die Beklagten haben Berufung eingelegt.
Sie wiederholen und ergänzen ihr erstinstanzliches Vorbringen und rügen die Beweiswürdigung des Rheinschifffahrtsgerichts.
Sie sind der Auffassung, dass aufgrund der Tatsache, dass die Schiffe jeweils an der Backbordseite beschädigt worden sind, feststehe, dass der Schubverband seinen Kurs verlassen habe und zum rechten Ufer hin abgegangen sei. Andernfalls hätte MS "L" - wie die Beklagten unter Hinweis auf von ihnen überreichte Skizzen behaupten - auf einer Strecke von 300 - 400 m eine objektiv unmögliche Slalomfahrt unternehmen müssen.
Dass der Unfall sich rechtsrheinisch zugetragen habe, ergebe sich auch aus der Aussage des Matrosen M. vom Schubboot "K" vor der Wasserschutzpolizei, der. unmittelbar nach der Kollision am rechten Ufer den Kilometerstein 813 gesehen habe, was bei den herrschenden Sichtverhält¬nissen nicht möglich gewesen wäre, wenn der Schubverband sich im Zeitpunkt der Anfahrung linksrheinisch befunden hätte (Beweis: Vernehmung des Zeugen M. vor der Berufungskammer). Zudem verlaufe der übliche Kurs eines zu Berg fahrenden Schubverbandes unterhalb des Wesel-Datteln-Kanals auf der linksrheinischen Seite und wechsele auf der Höhe der Kanalausfahrt auf die rechtsrheinische Fahrwasserhälfte hinüber.
Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts dahin abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie schließt sich der Beweiswürdigung des Rheinschifffahrtsgerichts an und hält das Schadensbild mit der Unfalldarstellung des Kapitäns S. vom Schubboot "K" für durchaus vereinbar. In diesem Zusammenhang verweist die Klägerin auf ein von ihr überreichtes Privatgutachten des Experten K. vom 14.11.1987, wonach eine so starke seitliche Versetzung des Schubverbandes, die zu einer Kollision am rechten Ufer des Stromes hätte führen können, auf der relativ kurzen zur Verfügung stehenden Strecke nicht möglich gewesen sei. Zudem wäre das MS "L" dann durch den Schubverband auf das rechte Ufer gedrückt worden.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten hat auch in der Sache Erfolg. Die Klägerin hat den ihr obliegenden Beweis für ein unfallsachliches Verschulden der Führung von MS "L" nicht mit einer für die Verurteilung der Beklagten ausreichenden Sicherheit zu erbringen vermocht.
Im Einzelnen hat die Berufungskammer erwogen:
1. Gemäß § 6.03 Nr. 3 der Rheinschifffahrtspolizeiverordnung dürfen Fahrzeuge, deren Kurse - wie das vorliegend zunächst unstreitig der Fall gewesen ist - beim Begegnen jede Gefahr eines Zusammenstosses ausschließen, ihren Kurs nicht in einer Weise ändern, die die Gefahr eines Zusammenstosses herbeiführen könnte.
Der Unfall ist demnach - wovon beide Parteien zutreffend ausgehen - von dem Schiff schuldhaft verursacht worden, das in kurzer Entfernung vor dem entgegenkommenden Fahrzeug seinen zunächst problemlosen Kurs nach Backbord verlagert hat und dadurch in den Kurs des Gegenfahrers geraten ist.
2. Die Darstellung der Klägerin, nach der das MS "L", nachdem es auf eine Entfernung von 300 m an den Schubverband herangekommen war, nach Backbord gehalten habe, wird von dem als Zeugen vernommenen Kapitän S. vom Schubboot "K" in vollem Umfang bestätigt. So hat dieser Zeuge, der seit dem Jahre 1971 das Radarpatent besitzt, bekundet, dass die kollidierten Schiffe einander in einem seitlichen Abstand von 60 - 70 m passiert hätten, wenn beide Fahrzeuge ihren ursprünglichen Kurs beibehalten hätten, der Talfahrer - MS "L" - aber in einer Entfernung von etwa 300 m plötzlich Kurs nach Backbord, also in den Kurs des linksrheinisch fahrenden Schubverbandes hinein gekommen habe, ohne auf seine wiederholten Durchsagen und die Warnung, der Talfahrer werde, wenn er so weiter fahre, vor den Kopf des Schubverbandes geraten, zu reagieren. Obwohl der Schubverband seinen Kopf noch zum linksrheinischen Ufer herumbekommen habe und es auch dem Talfahrer fast gelungen sei, sich zum rechten Ufer hin aufzustrecken, seien das MS "L" und der vordere Backbordleichter des Schubverbandes in einer Entfernung von 70 bis 80 m linksrheinischen Ufer mit ihren Backbordseiten kollidiert. Nach dem Unfall habe er, der Zeuge S., aus einem Ferngespräch des Schiffsführers von MS "L" entnommen, dass nicht er selbst, sondern der Matrose gefahren sei, weil er habe austreten müssen. Schiffsführer David vom Schubboot "K" ist seinen Bekundungen zufolge um 6.00 Uhr vom Kapitän S. am Ruder abgelöst worden und hat den Unfallhergang nicht beobachten können. Erst nach dem Unfall ist der Zeuge geweckt worden und hat dann vom Schubboot aus das MS "L" vor dem Kopf des Schubverbandes gesehen, der bereits linksrheinisch festgelegen habe. Der Schiffsführer von MS "L" habe auf die Frage des Kapitäns S., wie es denn zur Kollision habe kommen können, geantwortet, dass der Matrose (Der Beklagte zu 2) das Ruder geführt habe, weil er selbst habe austreten müssen. Als er dann hochgekommen sei, sei alles zu spät gewesen. Dasselbe habe Schiffsführer H. dann fernmündlich auch seiner Reederei mitgeteilt.
3. Der im wesentlichen die Sachdarstellung der Klägerin bestätigenden Aussage des Kapitäns des Schubverbandes stehen jedoch die Bekundungen der Besatzungsangehörigen des beklagten Motorschiffes unvereinbar gegenüber. So hat Schiffsführer H. von MS "L" bekundet, dass das Motorschiff rechtsrheinisch in einem Abstand von etwa 20 m zu den Tonnen zu Tal gefahren sei. Er selbst habe am Radargerät gesessen, während der Beklagte zu 2), der ebenfalls Sicht auf den Radarschirm gehabt habe, das Ruder bedient habe. Als der Schubverband im Bild erschienen sei, habe alles ganz normal ausgesehen. Nachdem er jedoch auf eine Entfernung von 200 oder 300 m herangekommen sei, sei der Schubverband plötzlich nach Backbord hinübergekommen. Ungeachtet eines Steuerbordausweichmanövers von MS "L" habe der Schubverband das Motorschiff mit der Backbordspitze seines vorderen Backbordleichters hinter Raum 1 erwischt. Im Augenblick der Kollision habe MS "L" zum rechten Ufer einen Abstand von 30 bis 50 m gehabt. Dabei hätten sich MS "L" in einer leichten Steuerbordschräglage und der Schubverband in einer leichten Backbordschräglage befunden. Im Zeitpunkt der Anfahrung habe er, der Zeuge, sich im Steuerhaus befunden. Nach dem Unfall habe die Sicht sich gebessert, und er habe sehen können, dass der Schubverband, an dem MS "L" noch festgehangen habe, das Motorschiff zum linken Ufer hinübergenommen habe.
Auch der Beklagte zu 2), der, im Parallelprozess als Zeuge vernommen, angegeben hat, seit 16 Jahren in der Schifffahrt tätig und schon etwa 10 Jahre als Steuermann auf dem Rhein beschäftigt gewesen zu sein, hat die Darstellung des Unfallhergangs durch seinen Schiffsführer bestätigt. Seine Aussage unterscheidet sich von derjenigen des Schiffsführers H. lediglich insoweit, als der Beklagte zu 2) ausgesagt hat, dass sein Schiffsführer, als die gefährliche Situation sich anbahnte, nicht im Steuerhaus gewesen ist, weil er austreten musste, und vom Beklagten zu 2) zurückgerufen wurde, als der Schubverband sich dem MS "L" bereits auf eine Entfernung von 400 m genähert hatte, während Schiffs¬ührer H. angegeben hat, auch zu dieser Zeit im Steuerhaus gewesen und durch das Fluchen des Beklagten zu 2) auf die kritische Lage aufmerksam geworden zu sein. In diesem Augenblick sei der Schubverband bereits auf 200 bis 300 m an das MS "L" herangekommen. Ein weiterer Widerspruch findet sich in den Aussagen des Beklagten zu 2) und seines Schiffsführers insoweit, als Schiffsführer H. nach den Angaben des Beklagten zu 2) seit Beginn der Reise nicht geschlagen habe, während Schiffsführer H. selbst ausgesagt hat, im Wechsel mit dem Beklagten zu 2) auf der Bank im Steuerhaus geschlafen und seinen Rudergänger angewiesen zu haben, ihn zu wecken, sobald Nebel aufkommen sollte.
4. Stehen sich demnach - soweit der Ablauf des Unfallgeschehens und insbesondere die von der Bergfahrt und dem Talfahrer eingehaltenen Kurse in Frage stehen - die Bekundungen des Kapitäns S. und die Aussagen der Besatzung des MS "L" unvereinbar gegenüber und sind unbeteiligte Zeugen nicht vorhanden, so fehlt es auch an hinreichend sicheren objektiven Anhaltspunkten für die Richtigkeit der einen oder der anderen Sachdarstellung.
a) Die Auffassung der Berufung, das Schadensbild widerlege die Bekundungen des Kapitäns S. und spreche eindeutig für die Richtigkeit der Unfalldarstellung durch den Beklagten zu 2), was sich insbesondere aus der Tatsache ergebe, dass die Fahrzeuge jeweils an der Backbordseite beschädigt worden seien, vermag die Berufungskammer nicht zu teilen. Zuverlässige Schlüsse über die von den kollidierten Fahrzeugen vor der Anfahrung eingehaltenen Kurse Hessen sich aus dem Schadensbild allenfalls ziehen, wenn feststünde, an welcher Stelle im Verhältnis zu den Ufer des Stromes der Schubverband und MS "L" zusammengestoßen sind. Insoweit stehen sich jedoch die Angaben der beteiligten Schiffsführer unvereinbar gegenüber. Im übrigen hat der erste Richter zu Recht ausgeführt, dass die Beschädigungen des Motorschiffes an seiner Backbordseite sich durchaus damit erklären lassen, dass das mit Backbordkurs fahrende MS "L" bei dem in der letzten Unfallphase versuchten Ausweichmanöver in eine Steuerbordschräglage geraten ist und die Angaben des Kapitäns des Schubverbandes über den seitlichen Abstand der kollidierten Fahrzeuge und ihre Entfernung zueinander bei Beginn der kritischen Phase notwendigerweise nicht den Anspruch auf mathematische Genauigkeit erheben können.
b) Die Behauptung der Berufung, eine Kursveränderung des Schubverbandes nach Backbord liege nahe, weil es der Übung der Bergfahrt entspreche, in Höhe der Ausfahrt des Wesel-Datteln-Kanals von der linken zur rechten Rheinseite hinüberzuwechseln, kann - von in den Hafen einfahrenden Schiffen abgesehen - nicht zutreffen, da in diesem Strombereich die geregelte Begegnung vorgeschrieben ist, die Schifffahrt daher beim Begegnen ihren Kurs so weit nach Steuerbord richten muss, dass die Vorbeifahrt ohne Gefahr Backbord stattfinden kann (§ 9.02 Nr. 1 b, Nr. 2 RhSchPVO).
c) Die von den Beklagten zitierte Aussage des Matrosen Uwe M. vom Schubboot "K" kann als richtig unterstellt werden. Sie belegt jedoch nicht, dass die Kollision sich rechtsrheinisch ereignet haben muss, denn es entspricht einer allgemeinen Erfahrung, dass auch bei dichtem Nebel die Sichtmöglichkeit entscheidend von dem eigenen Standort abhängig ist und ständig wechseln kann.
5. Fehlt es - wie ausgeführt - an objektiven Anhaltspunkten, die geeignet wären, die Darstellung des Unfallgeschehens durch die Besatzung des MS "L" zu erhärten, so gilt das Gleiche auch für die Bekundungen des Kapitäns S. vom Schubverband "K". Die in dem von der Klägerin überreichten Privatgutachten des Experten K. enthaltenen Berechnungen und aus der angenommenen Geschwindigkeit der kollidierten Fahrzeuge, ihrem seitlichen Abstand, der Entfernung zum Ufer und zueinander bei Beginn der kritischen Phase gezogenen Schlüsse beruhen auf Annahmen, die in dieser mathematischen Exaktheit keineswegs feststehen. Insbesondere wird diesen Berechnungen und Schlussfolgerungen die Grundlage entzogen, wenn sich der Kollisionsort - was angesichts der widersprechenden Bekundungen der am Unfall beteiligten Besatzungsmitglieder der kollidierten Schiffe nicht ausgeschlossen werden kann - nicht in Ufernähe, sondern weiter zur Strommitte hin befindet.
6. Werden demnach die Bekundungen keines der am Unfall beteiligten Besatzungsangehörigen durch objektiv feststellbare Umstände erhärtet, so kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits darauf an, ob ein Verstoß der Führung des MS "L" gegen die Vorschrift des § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO allein aufgrund der Aussage des an der Kollision unmittelbar beteiligten Kapitäns S. vom Schubverband "K" zweifelsfrei festgestellt werden kann. Insoweit ist der erste Richter zutreffend davon ausgegangen, dass sowohl der Zeuge H. als auch der Beklagte zu 2) eine übereinstimmende Darstellung des eigentlichen Unfallhergangs gegeben haben, die mit der Aussage des Kapitäns S. nicht zu vereinbaren ist. Gleichwohl ist das Rheinschifffahrtsgericht der Aussage des Kapitäns des Schubverbands gefolgt, weil es die Glaubwürdigkeit der Besatzungsangehörigen des MS "L" dadurch in Frage gestellt sieht, dass sie widersprüchliche Angaben über die Ruderführung und den Reiseverlauf gemacht hätten. Die unterschiedliche Darstellung des Reiseverlaufs wäre aber - so meint der erste Richter - "bei der Frage nach einer möglichen Ursache für einen Fahrfehler des MS "L" eine plausible Erklärung, nämlich Übermündung". Zudem habe der Beklagte zu 2) anscheinend nicht über die erforderliche Fähigkeit verfügt, um ein Schiff im Nebel zu führen, während Schiffsführer H. in der entscheidenden Phase nicht in der Lage gewesen sei, in das fehlerhafte nautische Manöver seines Rudergängers einzugreifen.
Was zunächst die Übermüdung anlangt, kann es allein darauf ankommen, ob der Beklagte zu 2) übermüdet gewesen ist, weil Schiffsführer H., der sich gemäß § 4.06 Nr. 1 d) RhSchPVO auch durch einen Rudergänger vertreten lassen durfte, der - wie der Beklagte zu 2) - nicht im Besitz eines Radarschifferzeugnisses war - wie seiner eigenen Aussage entnommen werden kann - aus welchen Gründen auch immer in das Geschehen erst eingreifen konnte, als es zur Abwendung der Kollision bereits zu spät war.
Ob aber der Beklagte zu 2) tatsächlich übermüdet gewesen ist, erscheint nicht mit Sicherheit feststellbar, nachdem er im Parallelprozess als Zeuge vernommen angegeben hat, nach zeitweiligen Ruhepausen vor dem Unfall erst 3 Stunden am Ruder gestanden zu haben. Zutreffend ist allerdings, dass der Beklagte zu 2), ungeachtet seiner Fahrpraxis als Steuermann, seinen eigenen Bekundungen zufolge noch nicht in eigener Verantwortung im Nebel gefahren war.
Hierin kann eine mögliche Ursache der Kollision liegen. Indessen kommt diesem Umstand keine Bedeutung zu, wenn die Darstellung des Unfallhergangs durch die Besatzung des MS "L" zutrifft, nach der der Schubverband auf eine kurze Entfernung vor dem entgegenkommenden Talfahrer seinen Kurs verändert und auf das Motorschiff zugekommen ist, weil der Unfall dann aller Voraussicht nach auch von einem Schiffsführer mit reicher Erfahrung bei Nebelfahrten nicht hätte abgewendet werden können. Dass aber ein gravierender nautischer Fehler nicht nur einem unerfahrenen Rudergänger, sondern auch einem versierten Schubzugkapitän unterlaufen kann, entspricht einer in Schifffahrtsprozessen nicht selten zu machenden Erfahrung.
Schließlich ist nicht zu übersehen, dass Schiffsführer H. seine Aussage über den Reiseverlauf auf Vorhalt hat berichtigen müssen. Indessen betrifft das nicht den Ablauf des im Kern von den Besatzungs¬angehörigen des MS "L" übereinstimmend geschilderten Unfallgeschehens in seiner kritischen Phase, sondern lediglich diesem Zeitpunkt vorausgehende Ereignisse, deren unterschiedliche Darstellung auf Gedächtnislücken beruhen kann, zumal zwischen der hier streitigen Kollision und der Vernehmung der Besatzung des MS "L" ein Zeitraum von mehr als anderthalb Jahren liegt (2.10.1987/7.6.1988).
7. Bei dieser Sachlage hatte die Berufungskammer Bedenken, einen Verstoß der Führung des MS "L" gegen die Vorschrift des § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO allein aufgrund der Aussage des am Unfall unmittelbar beteiligten und im Parallelprozess auf Schadensersatz in Anspruch genommenen Kapitäns des Schubverbands "K" mit einer für die Verurteilung der Beklagten ausreichenden Sicherheit als erwiesen anzusehen.
Ist aber eine der Darstellung der Besatzung des MS "L" entsprechende Darstellung des Unfallablaufs nicht zweifelsfrei auszuschließen, so kann der Führung des Motorschiffes auch nicht zur Last gelegt werden, es versäumt zu haben, den Unfall durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch Abgabe akustischer Signale (§ 6.32 Nr. 4 RhSchPVO) abzuwenden, da hierdurch die Kollision nicht mehr hätte vermieden werden können.
Aus den dargelegten Gründen wird für Recht erkannt:
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 16. August 1988 verkündete Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort wie folgt abgeändert; Die Klägerin wird mit der Klage abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt die Klägerin.
2. Die Festsetzung der Kosten erfolgt entsprechend Artikel 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte durch das Rheinschifffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort.