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Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 27. November 1973
(Auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Kehl vom 29.11.1972 - 2 C 261/69 RSchG -)
Zum Tatbestand:
Die Klägerin ist der Versicherer des MS "SM". Das Schiff ist 60,60 m lang, 8,18 m breit und hat eine Tragfähigkeit von 730,401 to, Am 5.7.1968 erreichte es auf der Bergfahrt von Rotterdam nach Basel die Höhe von Kehl und machte am deutschen Ufer zur Übernachtung fest. Zu diesem Zwecke wurden ein 26 mm starker Vorausdraht 30 bis 35 m lang ausgebracht und ein Anker gesetzt. "SM" war mit 697 to Weizen auf 2,50 m Tiefe abgeladen. Etwa eine Stunde später traf das der Schweizerischen Reederei AG gehörende MS "A" ein und legte sich zur Übernachtung neben "SM". Dieses Schiff ist 57,6 m lang, 5,08 m breit und hat eine Tragfähigkeit von 446,644 to. Es war mit 367 to Eisen. auf 2,30 m Tiefgang abgeladen. Das Schiff wurde wie folgt befestigt. Es wurde ein Buganker gesetzt und ein Draht über die rechte und linke Polierbank von "SM" zum Land hin ausgebracht. Weiter wurden ein Perlontau vorn ein 20 mm Draht mittschiffs und einen 18 mm Draht nach hinten an "SM" befestigt. Gegen 0,45 Uhr wurde festgestellt, dass die Vorausdrähte zum Ufer hingerissen waren und beide Schiffe schnell stromabwärts trieben, Ein bergwärts fahrendes Motorschiff war oberhalb des Liegeplatzes erkennbar. "SM" trieb gegen das deutsche Ufer, fuhr sich dort fest und wurde beschädigt. Die Klägerin hat den entstandenen Schaden ersetzt. Sie verlangt aus dadurch auf sie übergegangenem Recht Ersatz von den Beklagten. Bei ihnen handelt es sich um den Eigner, den Schiffsführer und den Lotsen des MS "WP", das unstreitig in der Unfallnacht den Liegeplatz zu Berg fahrend passiert hat. Das Schiff ist 79,97 m lang, 8,20 m breit, hat eine Tragfähigkeit von 1192,436 to und eine 830 PS starke Maschine. Es war mit 800 to Zellulose beladen und hatte einen Tiefgang von ca. 2 m. Die Klägerin hat behauptet, es sei zu schnell an den Stilliegern vorbeigefahren und habe deshalb auf sie einen zu starken Sog ausgeübt. Unter dessen Einfluss seien die Stilliegenden Schiffe zunächst ein Stück vorausgelaufen und dann nach Beendigung des Sogs hart zurückgefallen. Die damit verbundene plötzliche und ruckartige Belastung der Vorausdrähte zum Lande hin habe dazu geführt, dass diese gerissen seien. Die Klägerin hat weiter behauptet, "SM" habe einen Schaden in Höhe von 27.409,07 DM + 9.26l, 89 sfr erlitten.
Sie hat beantragt,
die Beklagten gesamtschuldnerisch haftend zu verurteilen, an sie 27.409,07 DM + 9.261,89 sfr nebst 4 % Zinsen seit dem 25.20.1969 zu zahlen, eventuell denjenigen Betrag in DM, der dem genannten sfr-Betrage am Zahlungstage, zum amtlichen Kurse umgerechnet, entspreche und auszusprechen, dass der Beklagte zu 1) sowohl dinglich mit dem MS "WP" als auch persönlich im Rahmen des Binnenschifffahrtsgesetz hafte. Demgegenüber haben die Beklagten den Antrag gestellt, die Klage abzuweisen. Sie haben behauptet, ihr Schiff sei an den Stilliegern in seitlichem Abstande von mindestens 40 - 60 m und mit einer Geschwindigkeit von höchstens 5 km/h vorbeigefahren. Dabei sei nichts passiert. Weiter haben die Beklagten darauf hingewiesen, dass die stilliegenden Schiffe mit je einem Vorausdraht ungenügend an Land befestigt gewesen seien. Es habe vor allem je ein nach rückwärts angebrachter Laufdraht gefehlt, der das Vorauslaufen und das anschließende plötzliche Zurückfallen der Schiffe unter dem Einfluss einer Sogwirkung verhindert hätte. In den fehlenden Laufdrähten sehen die Beklagten die eigentliche Unfallursache. Im Übrigen sind sie der Ansicht, dass nicht der Beklagte zu 2), sondern der Beklagte zu 3) zur Unfallzeit der Schiffsführer gewesen sei. Der Beklagte zu 2) habe sich nicht im Ruderhaus, sondern auf dem Vorschiff aufgehalten. Das Rheinschifffahrtsgericht Kehl hat Zeugen vernommen und die Unfallstelle besichtigt. Bei dieser Gelegenheit ist der Unfallverlauf rekonstruiert worden, wobei das MS "V" und das MS "A" als Stillieger verwendet wurden, während das MS "D" mit offensichtlich hoher Tourenzahl verhältnismäßig nahe bergwärts vorbeifuhr." (So das gerichtliche Protokoll.) An dieser Unfallrekonstruktion hat der Sachverständige G. teilgenommen, der anschließend ein schriftliches Gutachten darüber erstattet hat, ob die Befestigung der stillliegenden Schiffe am Ufer ausreichend war, oder ob sie durch zwei Laufdrähte nach rückwärts hätte ergänzt werden müssen. Zu der gleichen Frage hat der Sachverständige Oberbaurat Dr. F. von der Bundesanstalt für Wasserbau in Karlsruhe ein weiteres Gutachten erstattet, das auf Modellversuchen in der Bundesanstalt beruht. Nach der Durchführung der Beweisaufnahme hat das Rheinschifffahrtsgericht die Klage dem Grunde nach zur Hälfte für gerechtfertigt erklärt.
Das Urteil beruht auf den folgenden Erwägungen:
Die Aussagen der Zeugen Polizeiobermeister Sch. und Schiffsführer L. vom TMS "VI" rechtfertigten die Feststellung, dass das MS "WP" im kritischen Zeitpunkt an den Stilliegern vorbeigefahren sei. Außer ihm sei in der fraglichen Nacht nur noch das MS "E" passiert; es sei leer gewesen, während das MS "WP" zu 2/3 abgeladen gewesen sei. Nach der Aussage des Schiffsführers L., dessen TMS "VI" in der Nähe der Unfallsteile gelegen habe, sei an diesem ein halb abgeladenes Schiff "wie eine Wildsau" mit einer Geschwindigkeit von 6-8 km/h und einem Seitenabstande von 50 - 70 m vorbeigefahren und habe dabei durch seinen Sog 20 - 30 cm Wasser weggezogen, sodass TMS "VI" vorübergehend schräg gelegen habe. Der Zeuge habe zwar dieses Schiff nicht identifizieren können. Es könne aber nur das MS "WP" gewesen sein, da es in der Nacht als einziges beladenes Schiff an den Stilliegern vorbeigefahren sei. Dabei habe es einen zu geringen Seitenabstand eingehalten und sei mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren. Diesen Eindruck habe das Rheinschifffahrtsgericht bei der Rekonstruktion des Unfallgeschehens gewonnen» Er sei durch das Gutachten Dr. F. bestätigt worden. Das Gutachten zeige aber auch, dass die stilliegenden Schiffe nicht ordnungsgemäß an Land befestigt gewesen seien, denn es hätten die nach rück¬wärts führenden Laufdrähte gefehlt, die den Schiffsstapel gegen das Vorauslaufen unter Sogeinfluss und seine Folgen geschützt hätten. Die im Gutachten des Sachverständigen G. geäußerte Ansicht, die Befestigung sei ordnungsgemäß und Laufdrähte seien überflüssig gewesen, könne nicht überzeugen, da sie nicht auf wissenschaftlicher Untersuchung beruhe. Beide festgestellten Fehler seien von gleicher Schwere. Für den auf MS "WP" begangenen habe auch dessen Schiffsführer einzustehen, obwohl er sich nicht im Ruderhaus aufgehalten habe, sondern auf dem Vorschiff tätig gewesen sei. Auch von dort aus habe er eingreifen müssen, als er bemerkt habe, mit welcher Geschwindigkeit und mit welchem Abstande zum Ufer sein Schiff gefahren sei.
Gegen das Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt, wobei die Klägerin die Entscheidung der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt verlangt hat. Ihre Berufung ist am 5.5.1973 beim Rheinschifffahrtsgericht Kehl eingegangen. Die Berufungsbegründung ging bei dem gleichen Gericht am 1.6.1973 ein. Die beim Rheinschifffahrtsobergericht Karlsruhe eingelegte Berufung der Beklagten ist dort am 11.5.1973 eingegangen. Die Begründungsschrift traf beim Rheinschifffahrtsgericht Kehl am 15.6.1973 und 12.6.1973 beim Oberlandesgericht Karlsruhe ein. Dieses Gericht hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 28.6.1973 an das Rheinschifffahrtsgericht Kehl abgegeben.
Die Parteien wiederholen ihren Vortrag aus dem ersten Rechtszuge. Sie nehmen weiter zu der Würdigung der Beweisaufnahme durch das Rhein-Schifffahrtsgericht Stellung.
Es beantragen:
Die Klägerin,
das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Kehl vom 29.11.1972 abzuändern und die Klage in vollem Umfange dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagten,
unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Kehl vom 29.11.72 dahin abzuändern, dass die Klage in vollem Umfange abgewiesen werde.
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Die Zuständigkeit der Berufungskammer der Zentralkommission zur Entscheidung über die eingelegten Berufungen ist gegeben. Haben in einem Rechtsstreit beide Parteien fristgerecht Berufung eingelegt und zwar, wie im vorliegenden Falle die eine bei der Zentralkommission, die andere bei der innerstaatlichen Berufungsinstanz, so entscheidet nach Art. 37 bis Abs. 1 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte in der Fassung vom 20.11.1963, das zuerst angerufene Gericht über beide Berufungen. Nach dem Abs. 2 des genannten Artikels gilt die Berufung bei der Zentralkommission als eingelegt, sobald sie nach der Maßgabe des Art. 37 Abs. 2 bei dem Gericht eingegangen ist, das in erster Instanz entschieden hat. Die Berufung der Klägerin ist mit dem Zusatz, dass die Entscheidung der Zentralkommission beantragt werden, am 8.5.1973 beim Rheinschifffahrtsgericht Kehl eingegangen. Diejenige der Beklagten traf am 11.5.1973 beim Rheinschifffahrtsobergericht in Karlsruhe, der zuständigen deutschen Berufungsinstanz ein. Die Zentralkommission wurde also zuerst angerufen. Beide Berufungen sind formell nicht zu beanstanden. Als sie bei Gericht eingingen, war das angefochtene Urteil noch nicht zugestellt. Der Lauf der Berufungsfrist von 30 Tagen des Art. 37 Abs. 2 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte, der mit der "Insinuation", d.h. der Zustellung des Urteils erster Instanz beginnt, hatte also noch nicht eingesetzt, die Berufung der Klägerin ist also rechtzeitig eingelegt. Sie ist auch innerhalb der durch Art. 37 Abs. 3 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte in der Fassung vom 20.11.1963 bestimmten Frist von 4 Wochen nach Anmeldung begründet worden, denn die Begründung ist am 1.6.1973 beim Rheinschifffahrtsgericht Kehl eingegangen. Bei der Berufung der Beklagten gelten nach Art. 37 bis Abs. 4 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte in der Fassung vom 20.11.1963 alle für das zuständige Berufungsgericht - hier die Zentralkommission -geltenden Fristen als gewahrt, wenn die Berufung bei dem unzuständigen Gericht fristgerecht eingelegt worden ist. Nacht § 516 der deutschen Zivilprozessordnung beträgt die Berufungsfrist einen Monat. Sie beginnt mit der Zustellung des Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von 5 Monaten nach der Verkündung. Da das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Kehl nicht zugestellt worden ist, kommt es auf die letztere Frist von 5+1 Monat an. Sie ist gewahrt, denn das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Kehl ist am 29.11.1972 verkündet worden, während die Berufung der Beklagten am 11.5.1973 beim Rheinschifffahrtsobergericht Karlsruhe eingegangen ist. Nach § 519 der deutschen Zivilprozessordnung muss der Berufungskläger die Berufung begründen, und zwar innerhalb einer Frist von 1 Monat seit der Einlegung der Berufung. Die Berufungsbegründung der Beklagten ist am 12.6.1973 beim Rheinschifffahrtsobergericht Karlsruhe eingegangen. Das war noch innerhalb der genannten Frist von 1 Monat, denn deren letzter Tag, der 11.6.1973, war ein Feiertag (Pfingstmontag). Nach deutschem Recht laufen an Feiertagen keine Prozessfristen ab.
2. Die Berufungskammer stellt fest, dass die Führung der beiden stilliegenden Schiffe durch die Art ihrer Befestigung an Land gegen § 69 RSchPVO verstoßen hat. Nach dieser Bestimmung müssen stilliegende Schiffe so gesichert werden, dass sie Wasserstands-Schwankungen zu folgen vermögen und durch Wellenschlag und Sogwirkung anderer Fahrzeuge, die mit einer nach § 54 RSchPVO verminderten Geschwindigkeit vorbeifahren, nicht gefährdet werden. Das Gutachten Dr. F. zeigt, dass die hier geforderte Sicherung es notwendig machte, von den Stilliegern mindestens je einen nach rückwärtsführenden Laufdraht zum Ufer hin zu legen. Solche Drahtseile hätten es verhindert, dass die Stillieger durch die vom Bergfahrer ausgegangenen hydraulischen Einwirkungen (Schwall und Sog) zunächst bergwärts versetzt und nach Beendigung des Soges heftig mit der Strömung zurückgefallen wären. Die zum Ufer hin führenden Vorausdrähte wären somit keiner so großen und so ruckartig auftretenden Belastung ausgesetzt worden, die im vorliegenden Fall den Seilbruch bewirkt hatte. Solche Laufdrähte fehlten, wie unstreitig ist. Diese Schlussfolgerungen Dr. F.s wurden erfolglos angegriffen. Im Einzelnen ist zu diesen Angriffen folgendes zu sagen:
Es wird behauptet, dass es am Oberrhein nicht üblich sei, solche Laufdrahte auszulegen, da die Strömung hier so intensiv sei, dass sie ein gefährliches Vorauslaufen von mit Bug zu Berg stilliegenden Schiffen unter dem Einfluss einer Sogwirkung verhindere. Dass dem generell nicht so sein kann, zeigt der vorliegende Unfall, der ja gerade das Ergebnis derartiger hydraulischer Einwirkungen auf ungenügend befestigte stilliegende Schiffe ist. Im übrigen spricht gegen die Richtigkeit des vorgebrachten Argumentes die Erwägung, dass, falls eine intensive Strömung die Schwall- und Sogwirkung vermindert, sie auf der andern Seite die Heftigkeit des Zurückfallens der betroffenen Schiffe in die Ruhelage steigert, so dass die Belastung der Vorausdrähte beim Zurückfallen der Schiffe ebenfalls die effektive Bruchlast übersteigen kann. Es ist unter: diesen Umständen nicht zu erkennen, dass mit Rücksicht auf die Strömungsverhältnisse am Oberrhein Laufdrähte zur Sicherung stilliegender Schiffe überflüssig seien. Sind sie aber notwendig, so ist jede Übung, die auf sie verzichtet, gefährlich und deshalb nicht anzuerkennen. Wer sich ihr anschließt, ist durch sie nicht gerechtfertigt oder entschuldigt und deshalb auch nicht der Verantwortung für die Folgen seines Verhaltens enthoben. Seine Verantwortlichkeit gemäß § 69 RSchPVO bleibt unberührt. Die Berufungskammer konnte aus den dargelegten Gründen darauf verzichten, festzustellen, ob die behauptete Übung besteht.
Das Gutachten Dr. F. wird weiter mit dem Hinweis auf die unstreitige Tatsache angegriffen, dass die Vorausdrähte der beiden stilliegenden Schiffe auf so genannte doppelte Bucht standen. Diese Befestigungsart ist dadurch gekennzeichnet, dass der Draht vom Schiffspoller zum Landpolier, um diesen in einem Halbkreis herum und anschließend wieder zum Schiffspolier geführt, sowie dort befestigt wird. Sie ist bei den Schiffern deshalb besonders beliebt, weil man sich beim Ablegen des Schiffes zur Lösung des Drahtes nicht an Land begeben muss, sondern ihn vom Schiff aus einziehen kann« Das würde nicht gelingen, wenn er mehrmals um den Landpoller gelegt worden wäre. Bei jeder Schiffsbefestigung an einem Landpolier treten im Drahtseil im Bereiche des Pollers außer den normalen Zugspannungen noch zusätzliche Querspannungen auf, die lokale Quetschungen bewirken können. Dadurch wird an dieser Stelle die zulässige Belastbarkeit des Drahtes früher erreicht als an einem andern Punkt eines auf doppelte Bucht stehenden Drahtes. Durch etwaige Reibung auf dem Landpoller können sich hier die Seilspannungen nochmals erhöhen. Ein etwaiger Seilbruch tritt aber stets an der schwächsten Stelle der gesamten Verbindung ein. Der auf doppelte Bucht stehende Draht hatte nicht schlechthin eine Verdoppelung seiner Belastbarkeit zur Folge.
Man argumentiert bei der Kritik des Gutachtens Dr. F. noch mit dem Ergebnis der Rekonstruktion des Unfallgeschehens durch das Rheinschifffahrtsgericht. Dabei sind die Vorausdrähte von zwei Stillliegern, die wie "SM" und "A" befestigt waren, unter dem Einfluss "eines mit offensichtlich hoher Tourenzahl verhältnismäßig nahe" vorbeifahrenden Schiffes nicht gerissen. Bei dieser Argumentation wird einmal übersehen, dass die Geschwindigkeit des vorbeifahrenden Schiffes nicht genau erkannt worden ist. Sie kann also durchaus in denjenigen Grenzen gelegen haben, innerhalb deren auch bei den Versuchen von Dr. F. die Vorausdrähte nicht gerissen sind. Zum anderen ist bei der Vorbeifahrt die Maschine eines Stilliegers in Tätigkeit gewesen und dessen Schraube hat gedreht. Hierdurch kann die Sicherheit der Stillieger in nicht näher prüfbarer Weise erhöht worden sein. Zudem handelte es sich bei dem erwähnten Bergfahrer um das MS "D", dessen Tragfähigkeit rund 690 t geringer, dessen Länge rund 27 m und dessen Breite rund 1,6 m kleiner sind als die entsprechenden Daten des MS "WP" der Beklagten. Auch verfügt das MS "D" über eine bloß rund 500 PS starke Antriebsmaschine, während das MS "WP" bekanntlich 830 PS installiert hat. Ferner ist die tatsächliche Geschwindigkeit des MS "D" bei der Unfallrekonstruktion zur Zeit der Vorbeifahrt nicht genau erkannt worden. Es muss als sicher gelten, dass die hydraulischen Einwirkungen des MS "D" auf die Stilliegern mit jenen, die sich aus den Modellversuchen Dr. F.s ergeben, nicht identisch sein können, da der Gutachter für seine Untersuchungen ein Modellschiff verwendete, dessen Naturlänge 80 m beträgt und diesbezüglich also dem MS "WP", nicht aber dem MS "D" entspricht. Die Unfallrekonstruktion weicht in diesem entscheidenden Punkte auch vom tatsächlichen Unfallgeschehen ab und kann darum für dieses nicht schlüssig sein. Aus den gleichen Gründen zeigt die Rekonstruktion ebenfalls nicht, dass auch ohne Laufdraht stilliegende Schiffe genügend befestigt sind. Die bisherigen Ausführungen ergeben auch, dass die Ansicht des Sachverständigen G., Laufdrähte seien überflüssig gewesen, nicht richtig sein kann. Der Sachverständige hat sie auch nicht begründen können.
Es ist unstreitig, dass das MS "WP" in der Unfallnacht an den Stilliegern vorbei zu Berg gefahren ist. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass im Anschluss an diese Vorbeifahrt die Vorausdrähte der stilliegenden Schiffe zum Land hin gerissen sind. Nicht fest steht aber, dass die Vorbeifahrt unter Umständen erfolgt ist, die einen Verstoß gegen § 54 Abs. 1 Ziffer 3 RSchPVO bedeuten. Nach dieser Bestimmung müssen Fahrzeuge in der Nähe von anderen, die am Ufer festgemacht sind, ihre Geschwindigkeit rechtzeitig soweit vermindert, wie es erforderlich ist, um schädlichen Wellenschlag oder schädliche Sogwirkung zu vermeiden, jedoch nicht unter dem Maß, das zu ihrer sicheren Steuerung notwendig ist» Bei der Anwendung dieser Regel auf den vorliegenden Fall ist folgendes zu beachten. Die Vorbeifahrt erfolgte in der Dunkelheit. Vom vorbeifahrenden Schiff aus war die Befestigung der Stillieger an Land nicht zu erkennen. Dort wusste man also nicht, dass keine Laufdrahte ausgelegt worden waren. Die Führung des Vorbeifahrenden Schiffes durfte deshalb davon ausgehen, dass die Befestigung der Stillieger an Land ordnungsgemäß war, das heißt, dass zu ihr auch Laufdrähte gehörten. Im Vertrauen hierauf hatte sie zu prüfen, wie hoch die Geschwindigkeit bei der Vorbeifahrt zu bemessen und in welchem seitlichen Abstande von den stilliegenden Schiffen sie durchzuführen war. Einen Verstoß gegen § 54 RSchPVO stellte die Vorbeifahrt nur dann dar, wenn sie auch ordnungsmäßig befestigte Schiffe in die Gefahr brachte, Schaden zu nehmen. Eine solche Vorbeifahrt hält die Berufungskammer nicht für bewiesen. Zwar hat der Zeuge L., der Schiffsführer des TMS "VI", das in der Unfallnacht am deutschen Rheinufer unterhalb des Kd-Steigers stillag, erklärt, an seinem Schiff sei ein anderes "wie eine Wildsau" vorbeigefahrene Seine Geschwindigkeit habe bei mehr als 6 km/h gelegen. Der Seitenabstand zu seinem Schiff habe etwa 70 m betragen. Der Sog des schnell fahrenden Schiffes sei so stark gewesen, dass er seinem Fahrzeug etwa 20 - 30 cm. Wasser weggezogen und es zur Schräglage gebracht habe. Der Zeuge hat weiter erklärt, dass das vorbeifahrende Schiff, dessen Namen er nicht erkannt hat, beladen, aber nicht tief abgeladen gewesen sei. Geht man von der Richtigkeit dieser Aussage aus, so kann das erwähnte Schiff nur "WP" gewesen sein, denn es war, woran niemand zweifelt, dass einzige beladene Schiff, das in der Unfallnacht die Unfallstelle passiert hat. Das TMS "VI" des Zeugen L. lag aber nicht in unmittelbarer Nähe von "SM" und "A". Man kann deshalb nicht ohne weiteres davon ausgehen, "WP" sei an diesen genau so vorbeigefahren wie an jenem. Selbst wenn man dies aber annehmen würde, wäre daraus nicht zu schließen, die Vorbeifahrt habe zum Bruch der Vorausdrähte beider Schiffe auch dann führen müssen, wenn diese ordnungsgemäß, also auch durch Laufdrähte, befestigt gewesen wären, denn beim ebenso befestigten TMS "VI" ist kein Draht gebrochen. Vor allem spricht aber das Gutachten Dr. F. für die Führung von MS "WP". Aus ihm geht hervor, dass ordnungsgemäß befestigte Stillieger selbst bei einem seitlichen Abstand von bloß 20 m, wesentlich höhere Geschwindigkeiten der Bergfahrt von 80 m langen Motorschiffen schadlos ertragen können, als dies beim Unfallgeschehen der Fall war. Aus dem Gutachten Dr. F. könnte allenfalls geschlossen werden, MS "WP" müsse schneller als 8 km/h gefahren sein. Dies steht aber weder fest, noch wird es von der Klägerin behauptet. Die Interessenten der stilliegenden Schiffe greifen das Gutachten mit den Argumenten an, es enthalte "graue Theorie" und beruhe nicht nautischer Erfahrung. Dabei wird übersehen, dass bei der Vorbeifahrt von Schiffen an anderen, welche stilliegen, physikalische Gesetze wirksam werden, die bestimmbar sind. Die Grundlage dieser Bestimmung sind sog. Modellversuche, deren Wesen in der soweit wie möglich maßstabgerechten Übertragung natürlicher Verhältnisse auf die Versuchsbauten und den Versuchsverlauf beruht. Wenn auch diese Übertragung nicht in vollem Umfange möglich ist, so kann sie doch bei genügender Sorgfalt, von der bei Dr. F. auszugehen ist, in einem solchen Umfange erreicht werden, dass der Ablauf der Versuche hinreichende Hinweise auf nautischen, Fehler gibt, welche die wirklichen Ereignisse bestimmt haben müssen. Angebliche nau¬tische Erfahrung ist nicht geeignet, solche Erkenntnisse zu widerlegen. Aus den dargelegten Gründen vermag die Berufungskammer einen Verstoß der Führung von "WP" gegen § 54 RSchPVO nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen. Es erscheint zwar nicht ausgeschlossen, ist aber nicht bewiesen. Der Unfall der still' liegende Schiffen beruht - soweit feststellbar - allein auf ihrer ungenügenden Befestigung an Land, die einen Verstoß gegen § 69 RSchPVO darstellt. Die Berufung der Klägerin ist mithin erfolglos, während diejenige der Beklagten Erfolg hat.
Es wird deshalb für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 29.11.1972 verkündete Urteil des Rheinschifffahrtsgerichtes Kehl wird als unbegründet abgewiesen.
Auf die Berufung des Beklagten hin wird das genannte Urteil dahin abgeändert, dass die Klägerin mit ihrer Klage in vollem Umfange abgewiesen wird.
Die Kosten des Rechtsstreites trägt die Klägerin.
Die Festsetzung der Kosten unter Berücksichtigung von Artikel 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte erfolgt durch das Rheinschifffahrtsgericht Kehl.