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101 P - 8/79 - Berufungskammer der Zentralkommission (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Decision Date: 24.01.1979
File Reference: 101 P - 8/79
Decision Type: Urteil
Language: German
Court: Berufungskammer der Zentralkommission Straßburg
Department: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Zu den Voraussetzungen einer ordnungsmäßigen Zustellung und Vorladung eines Beschuldigten im Sinne des Art. 40 Abs. 3 der Mannheimer Akte.

2) Das Recht eines Beschuldigten, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache und in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden, gehört zu den unmittelbar anzuwendenden Verfahrensregeln vor den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten der europäischen Menschenrechtskonvention (hier Art. 6.3).

Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt

vom 24. Januar 1979

101 P - 8/79

(Rheinschiffahrtsgericht Straßburg)

Zum Sachverhalt:

Das Rheinschiffahrtsgericht hatte durch Urteil vom 12. 7. 1978 die Einrede des Beschuldigten zurückgewiesen, daß seine Vorladung zur Gerichtverhandlung am 18. 1. 1978 im Widerspruch zu Art. 40 der Mannheimer Akte stehe, wonach Vorladungen und Zustellungen am Wohnsitz des Beschuldigten erfolgen müssen, und außerdem die Bestimmung des Art. 6.3 der europäischen Menschenrechtskonvention verletzt sei, wonach jeder Angeklagte das Recht hat, „in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden". Die Berufungskammer hat die Berufung nach eingehender Würdigung der Einreden des Beschuldigten - im wesentlichen wegen der Vertretung durch einen Rechtsanwalt - für unbegründet erklärt und die Sache zur weiteren Verhandlung an das Rheinschiffahrtsgericht zurückverwiesen.

Aus den Gründen:

„...
Art. 40 Absatz 3 der Mannheimer Akte fordert, daß Zustellungen und Vorladungen an Parteien mit bekanntem Wohnsitz in einem der Rheinuferstaaten in diesem bewirkt werden müssen.

Die Berufungskammer vertritt die Auffassung, daß die Übermittlung einer Vorladung an die Person des Beschuldigten oder an seinen Wohnsitz, mit der er über die der Beschuldigung zugrundeliegenden Tatsachen informiert wird und die ihm ermöglicht, seine Verteidigung vorzubereiten, das eigentliche Ziel dieser wichtigen Formalität ist, auf deren Erfüllung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geachtet werden sollte. Um gerade diese Rechte zu garantieren, hat die Revidierte Rheinschiffahrtsakte, deren Bestimmungen aufgrund von Art. 55 der französischen Verfassung Vorrang vor dem französischen Recht haben, in ihrem Art. 40 ausdrücklich gefordert, daß Vorladungen und Zustellungen in Rheinschiffahrtssachen im bekannten Wohnsitz in den Rheinuferstaaten bewirkt werden. Die Zustellung direkt im Wohnsitz des Beschuldigten ist bei der Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit der bewirkten Vorladung allein als ausschlaggebend anzusehen. Ein Antrag auf Übersendung einer Kopie der Vorladung an den Beschuldigten, die der von den diplomatischen Konventionen bezeichneten Behörde übermittelt wird, kann ohne den Beweis, daß die Zustellung auch wirklich im Wohnsitz erfolgt ist, nicht als im Wohnsitz bewirkte Zustellung betrachtet werden. Doch im Verlaufe der öffentlichen Verhandlung, die am 18. 1. 1978 infolge der umstrittenen Vorladung stattgefunden hat, hat Rechtsanwalt G. erklärt, den Beschuldigten zu vertreten, sich außerdem zur Vorlage einer Vollmacht verpflichtet und die Vertagung der Verhandlung, die in seiner Anwesenheit auf den 15. 3. 1978 festgesetzt worden ist, beantragt. Der Beschuldigte hat dadurch, daß er sich am 18. 1. 1978 vor dem Rheinschiffahrtsgericht Straßburg vertreten ließ und von der in Art. 411 Abs. 1 der Strafprozeßordnung vorgesehenen Möglichkeit, d. h. kontradiktorisch in Abwesenheit abgeurteilt zu werden, Gebrauch gemacht hat, seine erneute, überflüssig gewordene Vorladung durch den Staatsanwalt vor das Gericht verhindert.

...
Für den Beschuldigten besteht somit keine Veranlassung zu der Behauptung, nicht ordnungsgemäß zum 15. 3. und 21. 6. 1978 vorgeladen worden zu sein.
...
Zu Unrecht behauptet der erstinstanzliche Richter, daß die europäische Menschenrechtskonvention allein zum Ziel habe, einen Rahmen allgemeiner Grundsätze festzusetzen, in dem sich die Gesetzgebungen der Vertragsstaaten bewegten, nicht aber Verfahrensregeln zu erlassen, die vor den nationalen Gerichten anzuwenden sind. Wenn die Menschenrechtskonvention eine Reihe allgemeiner Grundsätze nennt, wie das Recht auf Freiheit und auf Sicherheit und in Bezug auf den besagten Artikel 6, das Recht auf einen gerechten Prozeß, so erwähnt sie übrigens beispielsweise auch die sich daraus ableitenden Rechte und genauere und konkretere Regeln, deren Verletzung die grundlegenden Garantien, die man schützen wollte, direkt oder indirekt beeinträchtigen oder aushöhlen kann. Zu diesen in Artikel 6.3 der genannten Konvention aufgeführten Rechten gehört das Recht des Beschuldigten, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache und in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Doch, wie die Berufungskammer erklärt hat, hat Rechtsanwalt G. aus Straßburg den Beschuldigten in der Verhandlung vertreten, die am 15. 3. 1978 auf die umstrittene Vorladung hin stattgefunden hat, nachdem er den Gerichtsakten eine Vollmacht beigefügt hat, wonach der Beschuldigte sich einverstanden erklärt hat, kontradiktorisch abgeurteilt zu werden. Der Beschuldigte hat somit unausgesprochen in der Person seines ordnungsgemäß beauftragten Vertreters selbst anerkannt, daß er hinreichend über die Art und gesetzliche Grundlage der Beschuldigung informiert war. Es kann jedenfalls nicht gesagt werden, daß der Beschuldigte, der einen Rechtsanwalt beauftragt hat, ihn zu vertreten, um seine Verteidigung vor dem angerufenen Gericht sicherzustellen, was für den Verteidiger notgedrungen die Pflicht beinhaltet, die von ihm vertretene Partei zu informieren, die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung nicht verstanden oder nicht gekannt hat. Die Berufungskammer stellt somit fest, daß die Rechte des Beschuldigten, die gemäß Art. 6.3 der europäischen Menschenrechtskonvention eingehalten werden müssen, um einen durch Art. 6.1 der genannten Konvention geschützten gerechten Prozeß zu gewährleisten, nicht verletzt worden sind.

...“